Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten
Matthias Schmidt
Die Integration Geflüchteter in Unternehmen ist eine komplexe Aufgabe, die das Zusammenspiel verschiedener Akteurinnen und Akteure auf unterschiedlichen Ebenen innerhalb und außerhalb der Organisation erfordert. Der folgende Text bietet eine organisationstheoretische Einordnung der damit einhergehenden Prozesse und Fragestellungen.
Für diese Integration müssen sowohl die jeweils betroffenen Individuen als auch die betrachteten Unternehmen befähigt werden. Aber auch die Institutionen, die die Rahmenbedingungen für die Organisationen und die Individuen konstituieren, können nicht losgelöst betrachtet werden und müssen ihrerseits für diese gesamtheitlichen Integrationsaufgaben befähigt werden. So verstanden sind die Integrationsbemühungen von Unternehmen ein wesentlicher Aspekt ihrer Organisationsentwicklung und auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung.
Was bedeutet Befähigung?
Die Befähigung, die zur Bildung und Verwirklichung von Fähigkeiten eines Menschen führt, entsteht aus dem Zusammenwirken dessen, was dieser Mensch zu leisten vermag, und der kontextuellen Umstände, in denen er sich befindet. Anders formuliert: Ein Mitglied einer Organisation kann durch das Zusammenspiel seiner eigenen Kompetenzen mit den formellen und informellen organisationalen Rahmenbedingungen, die es vorfindet, dazu befähigt werden, seine Fähigkeiten in der Organisation zu verwirklichen.
Idealerweise geschieht diese Befähigung in einer konstruktiven Weise, die dem Erreichen der Ziele und Zwecke der Organisation dient, wodurch sich die Organisation, aber auch der in diesen Prozess involvierte Mensch weiterentwickelt. Damit ändert sich die angenommene Ausgangssituation dieses Befähigungsprozesses. Das weiterentwickelte individuelle Vermögen des Organisationsmitglieds trifft auf Umstände, die sich aufgrund des Prozesses ebenfalls verändert haben. Der Prozess startet erneut und die Befähigung verstetigt sich. In der Pluralität einer Organisation mit mehreren Mitgliedern, die über unterschiedliche individuelle Vermögen verfügen und auf unterschiedlichste Weise zusammenwirken, potenziert sich dieser Prozess hin zu einem dynamischen und vielfach reflexiven Geschehen (vgl. Bührmann/Schmidt 2014: 39, 44 sowie Schmidt 2018: 91f).
Integration als interne und externe Organisationsentwicklung
Mit dem Prozess der Befähigung kann ein Verfahren der internen Organisationsentwicklung beschrieben werden, das allerdings nur dann in eine gewünschte und für die Organisation zielorientierte Richtung läuft, wenn entsprechende konstruktive Umstände hergestellt werden. In negativer Hinsicht können destruktive Dynamiken entstehen, etwa dann, wenn ungünstige Umstände verfestigt sind und als organisationale Hemmnisse auf die verfügbaren Vermögen oder Unvermögen von einzelnen Menschen stoßen (vgl. Schmidt 2018: 15). So oder so, das Verfahren richtet sich aus der bisherigen Perspektive auf die interne Organisationsentwicklung.
Es kann sich aber ebenso auf die externe Organisationsentwicklung richten. Denn analog zu den bisherigen Überlegungen kann man das Verfahren für eine individuelle Organisation beschreiben, die selbst über ein spezifisches Vermögen verfügt, das im Zusammenspiel mit gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen (allgemeinen Umstände) die Organisation auf besondere Weise zur Verwirklichung ihrer Fähigkeiten in ihren externen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen befähigt. An dieser Stelle zeigt sich die besondere Rolle einer Organisation im Kontext dieses Befähigungsansatzes. Denn einerseits stellt die Organisation für ihre Mitglieder die Rahmenbedingungen, die sie zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten braucht. Andererseits ist sie selbst auf günstige Rahmenbedingungen angewiesen, die ihr von externer Seite bereitgestellt werden, um selbst befähigt zu werden, also um ihre organisationalen Fähigkeiten entfalten zu können. Nicht zuletzt wirkt dieser Prozess auch auf die rahmengebenden Institutionen und ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten zurück, wodurch die Unternehmen gesellschaftspolitische Impulse geben können.
Akzente für Werteverschiebung setzen
Mit Blick auf die Integration von Geflüchteten lässt sich schließen, dass die integrierende Organisation intern über die Befähigung ihrer Mitglieder – zu denen auch die aufgenommenen Geflüchteten zählen – sowohl sich selbst als auch ihre Angehörigen verändert und (im positiven Falle) weiterentwickelt. Zugleich verändert und entwickelt sich die Organisation selbst in einem externen Umfeld, an dessen Veränderung sie ebenfalls mitwirkt. Im weitesten Sinne könnte man sagen, dass sich über die Integration von Geflüchteten und die dazu notwendigen Prozesse der Befähigung das gesamte Gefüge verändert (vgl. Charim 2018) und dass es folglich durch die tätige Verantwortungsübernahme von integrierenden Organisationen sogar zu einer gesellschaftlichen Werteverschiebung (vgl. Bührmann/Schmidt 2014: 42, 44) in der Wahrnehmung der Flüchtlingssituation kommen kann. Denn neben den tatsächlich umgesetzten Maßnahmen in der Organisation nehmen Unternehmen an gesellschaftlichen Debatten teil oder beeinflussen diese zumindest durch ihre Aktivitäten. Insofern also viele Unternehmen sich aktiv für die Integration von Geflüchteten engagieren und mithin inkrementell verändern, transportieren sie Werthaltungen, die im Diskurs aufgegriffen werden und entsprechende Akzente setzen können.
Hürden auf mehreren Ebenen
Die Bemühungen zur Befähigung auf unterschiedlichen Ebenen können konkret an unterschiedlichen Schnittstellen ansetzen, an denen sich typische Hürden für die Integration zeigen (vgl. ausführlich dazu Gibson-Kunze 2020: 172ff.). So gibt es beispielsweise institutionelle Hürden, denen sich Unternehmen, aber auch Geflüchteten selbst, durch komplizierte Zuständigkeiten zwischen Bund, Länder und Kommunen gegenübersehen. Diese Hürden zeigen sich beispielsweise bei Integrationskursen oder bei Anstellungsproblemen aufgrund einer unklaren rechtlichen Anerkennung der Geflüchteten. Eine höhere Verbindlichkeit und Klarheit in den Zuständigkeiten auf institutioneller Seite würde günstige Umstände schaffen, die die Unternehmen zu einer besseren Integration von Geflüchteten durch eine Anstellung befähigen würde. Es würde auch positive Effekte auf das Unsicherheitsbefinden (vgl. Kiziak 2019: 8) der angestellten Geflüchteten haben, die unter den vom Unternehmen bereitgestellten Rahmenbedingungen ihre Arbeits- und Integrationsbemühungen anstellen. Denn auch auf organisationaler Seite können Hürden entstehen, die etwa durch die Betriebsgröße bedingt sind. So zeigt die Studie über „Arbeit und Ausbildung als Integrationsfelder für Geflüchtete“ (vgl. ebd.), dass beispielsweise die Betriebsgröße die Rahmenbedingungen von Unternehmen beeinflussen, die sie Geflüchteten bieten können. Insofern ist eine Passung der individuellen Fähigkeiten mit den Rahmenbedingungen der jeweiligen Unternehmen von Bedeutung und ggf. sind besondere Unterstützungsstrukturen von institutioneller Seite nötig, um einerseits als Organisation selbst zur Integration befähigt zu sein und andererseits die angestellten Geflüchteten zu befähigen.
Integration im Rahmen der Kernverantwortung?
Die Verantwortung von Organisationen geht, wie beispielsweise die Konzeptionen von CSR und Nachhaltigkeit exemplarisch zeigen, über ihr eigentliches Geschäft und den primären Zweck, zu dem sie einmal gegründet wurden, hinaus und bezieht sich auch auf weitere gesellschaftliche und ökologische Belange. Dabei stellt sich auch die unternehmensethische Frage nach der Reichweite und den Grenzen unternehmerischer bzw. organisationaler Verantwortung; also danach, in welchen Bereichen und wofür die Organisation verantwortlich ist und wofür nicht (vgl. Schmidt 2016). Zur Klärung dieser Frage bietet sich das Modell der Kernverantwortung von Organisationen an (ebd., S. 35ff). Es setzt bei der Leistungserstellung (Kerngeschäft) einer Organisation an und berücksichtigt bei der Bestimmung der Verantwortung die Wirkung (Kernimpact) ihrer gesamten Aktivitäten auf das gesellschaftliche Umfeld. Zudem berücksichtigt es auch die organisationsindividuellen Werte (Kernwerte), an denen sich die Mitglieder der Organisation orientieren sollen.
Die gesellschaftliche Herausforderung der Flüchtlingssituation und die daraus resultierende Notwendigkeit der Integration Geflüchteter setzt insofern (indirekt) am Kerngeschäft einer jeden Organisation an, als für die Durchführung des Kerngeschäfts in der Regel Personal benötigt wird und Geflüchtete den Pool gegenwärtiger oder später benötigter Arbeitskräfte vergrößern. Zwar kann man daraus keine unmittelbare ethische Pflicht einer Organisation dafür ableiten, den Geflüchteten eine Ausbildung oder eine Arbeit anzubieten. Doch man kann festhalten, dass Organisationen aufgrund ihrer Möglichkeit, Ausbildung und Arbeit bereitzustellen, in besonderem Maße einen Beitrag zur Integration Geflüchteter leisten und so unternehmensethische Verantwortung übernehmen können. Dabei können eine ökonomische und eine normative Logik unterschieden werden. Aus betriebswirtschaftlichem Kalkül etwa, könnten Unternehmen beispielsweise Geflüchtete deshalb anstellen und integrieren wollen, weil sie ihren Bedarf an Mitarbeitenden sichern wollen. Vor dem Hintergrund des akuten Fachkräftemangels kann darin eine kluge ökonomische Logik liegen, die zudem noch als Element der hauseigenen CSR kommuniziert werden könnte. Einer normativen Logik indes würde ein Unternehmen folgen, wenn es aus einem ethisch-moralisch Anliegen handeln würde, etwa weil es sich emotional dazu verpflichtet fühlt oder weil es einer vernünftigen menschenrechtlichen Einsicht entspringt, zur Verbesserung der Situation beizutragen.
Es ist anzunehmen, dass in der unternehmerischen Praxis die ökonomische und die normative Logik des Engagements zur Integration Geflüchteter über Ausbildung und Arbeit nicht trennscharf voneinander zu sehen sind, sondern eher miteinander verzahnt sein dürften. In einer solchen Verzahnung bekommt die Integration Geflüchteter für die Organisation einen normativ-strategischen Charakter, mit dem zugleich einerseits ein betriebliches und andererseits ein gesellschaftliches Problem gelöst werden. In welchem Maße das Pendel bei genauerer Betrachtung in die eine oder andere Richtung ausschlägt, wird sich zudem von Fall zu Fall und auch von Situation zu Situation unterscheiden. Außerdem hängt die ethische Aufladung der Maßnahmen neben den betrieblichen Möglichkeiten nicht zuletzt auch von den Werten ab, an denen sich die betrachtete Organisation orientiert und die in den umgesetzten Maßnahmen tätig zum Ausdruck gebracht werden. Gleichwohl zeigt die Notwendigkeit zur reflexiven Befähigung auf mehreren Ebenen, dass die Verantwortung für eine gelingende Integration von Geflüchteten in Arbeit und Ausbildung nicht alleine bei Unternehmen liegen kann, sondern in einem wechselseitigen konstruktiven und befähigenden Miteinander der Akteurinnen und Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen wahrgenommen werden muss.
Autor
Prof. Dr. Matthias Schmidt
lehrt Unternehmensführung/Unternehmensethik an der Beuth Hochschule für Technik Berlin. In Forschung, Lehre und Beratung befasst er sich mit den Fragen einer gesellschaftsbezogenen und verantwortungsvollen Unternehmensführung und -entwicklung. Web.: http://prof.beuth-hochschule.de/schmidt ; http://www.iwu-berlin.de
Literatur
Bührmann, Andrea D./ Schmidt, Matthias (2014): Entwicklung eines reflexiven Befähigungsansatzes für mehr Gerechtigkeit in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften. Was macht ein gutes Leben aus? Der Capability Approach im Fortschrittsforum. Berlin, S. 37–46.
Charim, Isolde (2018): Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Wien: Paul Zolnay Verlag.
Gibson-Kunze, Martin/ Happ, Dorit/ Kühnel, Wolfgang/ Schmidt, Matthias (2020): Arbeit und Ausbildung als Integrationsfelder für Geflüchtete. Baden-Baden: Nomos Verlag.
Kiziak, Tanja/ Sixtus, Frederick/ Klingholz, Reiner (2019): Von individuellen und institutionellen Hürden. Der lange Weg zur Arbeitsmarktintegration Geflüchteter. Berlin: Verlag Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Schmidt, Matthias (2016): Reichweite und Grenzen unternehmerischer Verantwortung. Perspektiven für eine werteorientierte Organisationsentwicklung und Führung. Wiesbaden: Springer Gabler.
Schmidt, Matthias (2018): Die Verantwortung von Hochschulen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Herausforderungen. In: Ders. (Hrsg.): Befähigen. Gestalten. Verantworten. Die Verantwortung von Hochschulen in der Flüchtlingssituation. Augsburg, München: Rainer Hampp Verlag. S. 3-22.
Zur Vertiefung: Gibson-Kunze, Martin/ Happ, Dorit/ Kühnel, Wolfgang/ Schmidt, Matthias (2020): Arbeit und Ausbildung als Integrationsfelder für Geflüchtete. Baden-Baden: Nomos Verlag. (erscheint ca. Dez. 2020)