Noch nicht im Mainstream angekommen
Christian Herzig im Interview
An der Universität Kassel beschäftigt sich Prof. Christian Herzig mit Fragen der internationalen Lebensmittelherstellung. Der promovierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler leitet das Fachgebiet „Management in der internationalen Ernährungswirtschaft“ am Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften. Für das CSR MAGAZIN sprach Achim Halfmann mit dem Wissenschaftler.
Was müsste geschehen, um eine ökologische Landwirtschaft stärker in den Mainstream zu bringen?
Prof. Dr. Christian Herzig: Die ökologische Landwirtschaft wächst stetig seit vielen Jahren. Sie ist aber tatsächlich noch nicht im Mainstream angekommen, wenngleich die gegenwärtige Corona-Pandemie Konsumenten vermehrt zu Produkten aus ökologischer Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung greifen lässt. Der Absatz an Bioprodukten wächst dadurch im zweistelligen Prozentbereich. COVID 19 wird als ein globales Risiko wahrgenommen – Bio-Lebensmittel aus der Region setzen dem etwas Positives entgegen und vermitteln den Menschen ein besseres Gefühl.
Eine weitere Voraussetzung für das Wachstum der Branche ist, dass Bioprodukte zugänglicher geworden sind. Hier sind die Kooperationen von Bioverbänden mit Discountern und Vollsortimentern wesentlich.
Aber auch die aktuell eingeschränkte Mobilität bietet einen Erklärungsansatz: Menschen sind vermehrt Zuhause und kochen wieder mehr selbst. Das trägt zu einem bewussteren Konsum und Wertschätzung für Lebensmittel bei – im Vergleich zu unterwegs schnell und nebenbei aufgenommenen Mahlzeiten.
Ich denke, die Wachstumseffekte bei Biolebensmitteln werden auch nach Corona zu beobachten sein. Ich sehe zum Beispiel ein riesiges Potential in der Außer-Haus-Verpflegung, das bisher noch zu wenig ausgeschöpft wurde. Entrepreneure bringen hier innovative Ideen ein. Öffentliche Vorgaben bzw. Quoten würden weiteren Schwung bringen.
Studien belegen zudem ein kontinuierliches Wachstum auf der Angebotsseite. Die ökologische Landwirtschaft in Deutschland verzeichnet einen Flächenzuwachs, Biomilch-Betriebe erzielen höhere Gewinnspannen und die Mengen verantwortungsvoll produzierter Eier steigen.
Einen wichtigen Beitrag zu dieser Entwicklung leisten Förderprogramme wie das Bundesprogramm Ökologischer Landbau und andere Formen nachhaltiger Landwirtschaft des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung. Etwa 30 Millionen Euro stehen hierdurch in Deutschland jährlich für zum Beispiel Betriebsumstellungen, Beratungen und Unterrichtseinheiten für Bildungsträger zur Verfügung. So ist in 20 Jahren ein insgesamt beachtlicher Strauß an unterschiedlichen Maßnahmen entstanden.
Brauchen wir eine Regionalisierung der Lebensmittelversorgung? Oder wie gestalten wir Lieferketten nachhaltig und krisenfest?
Ich selbst beschäftige mich als Betriebswirtschaftler mit Wertschöpfungsketten und deren Strukturen. Regionalisierung und Saisonalität haben einen hohen Stellenwert für mich: sie bedeuten frische Lebensmittel, die weniger Verpackungsmüll und geringere Umweltschäden durch kurze Transporte verursachen. Zugleich ist klar: Wir werden ohne globale Lieferströme nicht auskommen. Manche Produkte sind klimatisch in Mitteleuropa nicht verfügbar.
In globalen Lieferketten können wir durchgängiger und systematischer Verantwortung übernehmen – am besten in direkten Kooperationen und Partnerschaften mit Kleinbauern. Da gibt es gute Ansätze mittelständischer Bio-Pioniere, die seit Jahren entsprechend handeln. Unterstützung für Kleinbauern, langfristige Verträge, Preisgarantien und Kreditvergaben sind hier wichtige Instrumente.
Wichtig ist, dass sich europäische Unternehmen nicht als anonyme, sondern als partnerschaftliche Wirtschaftakteure verstehen. Ein bekanntes Beispiel sind Fair Trade-Programme, die mit langfristigen Verträgen und festen Prämien arbeiten, lokal Gemeinwesen und Bildung fördern und ihre Partner in schwierigen Situationen nicht fallen lassen. Ein wichtiger Schritt ist es auch, wenn institutionelle Formen der Verantwortungsübernahme entstehen, wie etwa im Kakaosektor in Ghana – mit horizontalen Governance-Strukturen und einer Stärkung des öffentlichen Sektors im Hinblick auf die Regulierung der Arbeitsbedingungen.
Solche CSR-Ansätze sichern nicht nur unsere Lebensmittelversorgung, sondern sie stärken zugleich die Ernährungssouveränität in den Erzeugerländern. Wegbrechende Absatzmärkte haben sonst für die Menschen vor Ort verheerende Auswirkungen: Soziale Sicherungssysteme, wie wir sie kennen, fehlen zumeist.
Sowohl für regionale als auch globale Produktionsnetzwerke gilt: Bildungsprozesse und ein gesellschaftlicher Diskurs, die die Wertschätzung von Lebensmitteln fördern, sind ungemein wichtig. Das gilt für allgemeinbildende und berufsbildende Schulen, und geht aber auch weit darüber hinaus. Es ist gut zu sehen, dass auch zahlreiche Unternehmen Verantwortung für eine bessere Ernährungsbildung übernehmen.
Brauchen landwirtschaftliche Lieferketten mehr Transparenz?
Verantwortung braucht Transparenz. Es muss erkennbar sein, welche Umwelt- und Sozialwirkungen auf welchen Produktionsstufen entstehen. Diese Transparenz wird erschwert, wenn Lebensmittelangebote und – nachfragen auf anonymen Spotmärkten aufeinandertreffen. Anonymität schwächt die Verantwortungsübernahme. Und Transparenz ist eine Voraussetzung für die nachhaltige Steuerung globaler wie regionaler Lieferketten.
Natürlich sind der Transparenz andererseits auch Grenzen gesetzt – sie lässt sich global nur eingeschränkt verwirklichen.
Wie betroffen sind die landwirtschaftlichen Produktionsstandorte in Afrika und Asien derzeit durch COVID 19? Und was bedeutet das für die Verantwortung derjenigen, die aus Europa sourcen?
Es ist noch nicht abzusehen, wie sich landwirtschaftliche Produktionsstandorte weltweit nach COVID 19 entwickeln werden und was das für uns in Mitteleuropa bedeutet. Es gab und gibt Turbulenzen: Manche Märkte wurden geschlossen und manche Lieferungen wurden ausgesetzt, um protektionistisch zunächst den eigenen Markt bedienen zu können. Hinzu kommt: Wenn Gesundheitssysteme aufgrund der Pandemie zusammenbrechen, trifft das besonders die am wenigsten geschützten und abgesicherten Menschen wie Kleinbäuerinnen und -bauern. Ihnen bereiten geschlossene Märkte, eine wegbrechende Nachfrage und fehlende Mobilität große Sorgen. Manche Hilfsorganisationen befürchten in einigen Ländern eine große Hungersnot. Das Wohlergehen dieser Menschen, die nicht nur von der wirtschaftlichen Situation, sondern auch von den überforderten Gesundheitssystemen stark betroffen sind, muss uns, die aus diesen Regionen Lebensmittel beziehen dürfen, ein großes Anliegen sein. Zugleich hebt dies noch einmal hervor, wie wichtig es im Kontext des globalen Handelns ist, den Aufbau von Ernährungssouveränität zu unterstützen.
Vielen Dank für das Gespräch!