Bildung für verantwortungsvolle Globalisierung
Tong-Jin Smith
Die aktuelle Pandemie lässt uns nicht nur über weltweite Infektionsherde und Lieferketten nachdenken, sondern – nach Home Schooling – auch über die Auswirkungen der Globalisierung auf die Bildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen, die in einer vernetzten Welt aufwachsen. Was muss sich jetzt für die kommenden Generationen ändern?
Wenn man Globalisierung nicht nur rein wirtschaftlich betrachtet, stellt man fest, dass es sich bei diesem gefühlten oder realen Zusammenrücken verschiedener Länder, Gesellschaften und Kulturen um zwei gleichzeitig stattfindene Phänomene handelt. Zum einen kann man, wie Shalmali Guttal, Leiterin des Think-Tanks Focus on the Global South, von einem Abbau nationaler und geopolitischer Hürden sprechen, der von immer größeren transnationalen Bewegungen von Gütern, Dienstleistungen und Kapitel geprägt ist. Zum anderen von “der zunehmenden Homogenisierung von Verbrauchergeschmäckern, der Konsolidierung und Ausweitung von Unternehmensmacht, den scharfen Anstiegen von Reichtum und Armut, der ‚McDonaldisierung‘ von Lebensmitteln und Kulturen, sowie der wachsenden Allgegenwart liberaldemokratischer Ideen.“
Angetrieben werden diese Homogenisierung und Konsolidierung vor allem von der sich ständig wandelnden Informationstechnologie und dem Siegeszug des Internets. So steht es außer Frage, dass sich auf diesem Weg eine globale Jugendkultur entwickelt, die sich rasant über soziale Netzwerke wie Instagram, YouTube und TikTok ausbreitet und dabei globale Bewegungen wie #metoo und #ChallengeAccepted, Fridays for Future (FFF) oder Black Lives Matter (BLM) auch in die entlegendsten Winkel der Erde trägt. Auch wenn diese Bewegungen im globalen Norden geboren werden, entfalten sie ihre Wirkung überall. Bestes Beispiel ist FFF. Ihre internationale Galionsfigur ist zwar mit Greta Thunberg eine junge Schwedin, aber national und regional wird FFF von lokalen Aktivistinnen und Aktivisten der Generation Z geführt, wie Hilda Flavia Nakabuye aus Uganda, Marinel Sumook Ubaldo aus den Philippinen oder Angela Valenzuela aus Chile, die mit ihren 26 Jahren schon zu den Millenials zählt.
Vernetzte Millenials und GenZs
Und so kann man sehen, dass Globalisierung ihre Effekte in allen Gesellschafts- und Lebensbereichen entfaltet – ob nun positiv oder negativ. Denn mit ihrer weltweiten Arbeitsteilung und den entsprechenden Kapitalflüssen trägt sie seit rund 50 Jahren einerseits zur Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen sowie der Verletzung von Menschen- und Umweltrechten bei, gleichzeitig macht sie all das aber auch durch das nahezu grenzenlose Internet für alle sichtbar und bietet die Plattform, um sich dagegen zu vernetzen.
Dass es ausgerechnet Millenials und GenZs sind, die von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen und über alle Grenzen hinweg miteinander ins Gespräch kommen, mag etwas mit dem zu tun haben, was sie in der Schule lernen – oder eben gerade nicht. „Ja, Umweltschutz und Klimawandel sind Themen, die wir in der Schule immer wieder behandeln, aber wir brauchen insgesamt einen stärkeren Fokus auf Themen und Fächer, die sich mit der Gesellschaft beschäftigen“, sagt Anouk Kuckertz. Die 16-Jährige diskutiert im Freundeskreis viel und häufig über feministische, ökologische und andere politische Fragen. Sei es, ob Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich legal sein sollten oder was Rassismus ist und ob es in Deutschland überhaupt ein Bewußtsein für rassistische Äußerungen gibt.
In der Schule fehlt ihr der Diskurs. „Wir haben zwar zum Teil gute Diskussionen, aber sie sind nicht Teil des eigentlichen Lernstoffs. Klassenarbeiten schreiben wir dann über Dinge, wo man sich ständig fragt, wie sie uns auf ein Leben nach der Schule vorbereiten sollen.“ Statt Fächer wünscht sie sich, interdisziplinäre Projekte und Fragestellungen. Und statt so viele Naturwissenschaften wünscht sie sich Soziologie, Psychologie und Philosophie. „Es ist ok, dass wir verschiedene naturwissenschaftliche Disziplinen kennenlernen, aber nicht jeder will und muss dann so tief gehen – oder wann haben Sie zuletzt wissen müssen, welche Unterschiede es im Aufbau pflanzlicher und menschlicher Zellen gibt?“
“Kompetenzen lassen kalt“
Insbesondere prangert die junge Berliner an, dass Schule keine demokratischen Werte vermittelt. „Wenn wir davon ausgehen, dass das Ziel der Schule ist, uns mit dem Wissen und den Kompetenzen zu versorgen, die wir brauchen, um als mündige Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie zu leben, dann müssen wir doch wissen, wie Demokratie und Gerechtigkeit funktionieren, damit wir sie verteidigen können – auch global.“ Dazu zähle das Debattieren und das Aushalten verschiedener Meinungen und Wertvorstellungen, sowie die Kompromissbildung. „Ohne diese Fähigkeiten werden wir die Welt nicht zu einem besseren Ort machen können“, sagt Anouk Kuckertz. So sei es doch einerseits schon lange klar, dass wir nicht verschwenderisch und verantwortungslos mit globalen Ressourcen umgehen können. Andererseits sei auch nach so vielen Jahren immer noch kein politischer und gesellschaftlicher Konsens gefunden, wie man dem Klimawandel begegnen soll. „Die Schule kann dazu beitragen, indem sie Biologie mit Geografie, Ethik, Kunst und Politik verbindet. Wenn wir dann auch noch lernen, welche Rolle Sprache spielt, also welche Wörter wir für Dinge verwenden und welche Wirkung sie haben, dann wäre das doch ein Anfang, oder?“
An dieser Stelle widersprechen ihr die meisten Bildungsexperten nicht. Im Gegenteil. Globale Verantwortung beginnt eben lokal. Und Zusammenhänge werden nur sichtbar, wenn man sie nicht in Fächer teilt, sondern im Kontext zueinander sieht und vermittelt. So gehören laut Andreas Salcher, Autor des Buchs „Der talentierte Schüler und seine Feinde“, Tanzen und Träumen ebenso auf den interdisziplinären Lehrplan wie Deutsch und Physik. Ihm pflichtet Konrad Paul Liessmann in einem 2017 aufgezeichneten Interview für die dpa bei, wenn er sagt: „Die Bildung des Menschen beinhaltet Formung, Entfaltung, Orientierung, Selbstgestaltung und das Gewinnen einer auch ästhetischen Urteilskraft. Bildung lässt sich nicht reduzieren auf den Erwerb von Kompetenzen. Bildung meint immer, wie kann ein Mensch seine Haltung, seinen Charakter, seine Fähigkeiten zu einer Mündigkeit entwickeln.“ Hierfür spielten die Inhalte eine wesentliche Rolle und nicht nur die Kompetenzen. Die Inhalte seien es, die den Menschen berühren. „Kompetenzen lassen kalt“, so der österreichische Bildungsexperte und Philosoph.
Will man also verhindern, dass die Schule als Institution der staatsbürgerlichen und fachlichen Bildung zur sinnlosen Zeitverschwendung wird – insbesondere in einem Zeitalter, in dem sogar schon Kindergartenkinder in der Lage sind, sich über YouTube zu informieren – dann ist es an der Zeit, die Form der Wissensvermittlung sowie die Bildungsinhalte im Sinne einer global vernetzten Welt neu zu definieren. Denn aktuelle Studien belegen, dass YouTube von Kindern zwischen 12 und 19 Jahren vor allem als Lernmedium genutzt wird, während Instagram das bevorzugte Nachrichtenportal ist. Hier holen Jugendliche nach, was sie in der Schule nicht verstanden haben und suchen nach Themen, die nicht behandelt werden. Dass dabei Algorithmen und die Interessen der Digitalkonzerne die Inhalte bestimmen und entsprechende Wertvorstellungen vermitteln, steht auf einem anderen Blatt.
Migranten brauchen Selbstwertgefühl
Wichtig ist an dieser Stelle also, dass Bildungsverantwortliche sowohl die Effekte der Globalisierung auf die Biografien und den Lebensalltag von Schülerinnen und Schülern – mit und ohne Migrationshintergrund – in die Konzeptionalisierung von Lehrplänen und Lehrerfortbildungen einbeziehen, als auch Auswirkungen auf das Bildungssystem in Form von digitalen Tools, Apps und Inhalten, wie sie konstant von Global Playern auf den Markt gebracht werden, im Blick haben. „Ich glaube, wir sind oft viel weiter als unsere Lehrer“, sagt Anouk Kuckertz und meint damit nicht nur das Dasein als Digital Native, sondern auch in Bezug auf ihren Ausblick in die Welt. „Jugendliche sind heute über soziale Medien weltweit miteinander verbunden. Wir bekommen schnell mit, was am anderen Ende der Welt in unserer jeweiligen Blase passiert und können uns solidarisieren.“ Dieses Momentum für die Schulen zu nutzen, sei wichtig, um Bildung einen Sinn zu geben und gleichzeitig verantwortungsvolles Handeln zu fördern.
Martin Graber, Lehrer im Kanton St. Gallen, sieht das ähnlich. „Eine Folge der Globalisierung ist die Migration“, sagt er. Allerdings fühlten sich Kinder von Migrantinnen und Migranten oft weder in der Schweiz noch in der ehemaligen Heimat der Eltern zuhause. Das gelte auch für Deutschland und Österreich. „Jenseits von Sprachkenntnissen fehlt es ihnen oft an Selbstwertgefühl“, so der erfahrene Heilpädagoge. „Das führt zu allen möglichen Problemen, die sich letztlich negativ auf die schulische Laufbahn auswirken. Ich sehe es daher als meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jedes dieser sogenannten Problemkinder sprachlich und kulturell ‚beide Welten‘ wertschätzt, einen Abschluss macht und somit eine Perspektive hat.“ Das gehöre eben auch zu einer verantwortungsvollen Globalisierung. Denn wer am eigenen Leib spürt, was das bedeutet, könne es auch weitergeben.
Diversität, Solidarität, Kollaboration und Interkulturalität sind daher zentrale Prinzipien der United World Colleges (UWC), die der deutsche Reformpädagoge Kurt Hahn 1962 ins Leben rief. Für ihn stand damals, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg fest, dass internationale Zusammenarbeit das probate Mittel gegen Kriege und Konflikte sei. Schule solle nicht nur auf die Universität vorbereiten, sondern vor allem auf das Leben. Jugendliche aus aller Welt, die heute eine der 18 Schulen und Colleges besuchen und mit dem Internationalen Baccalaureate (IB) abschließen, werden daher zu sozialem Engagement, Toleranz und Verantwortung erzogen. Im Gegensatz zu den zahlreichen privaten Internaten, die ebenfalls Hahns Reformpädagogik folgen, ist der Besuch eines zweijährigen UWC für die Schülerinnen und Schuler zwischen 16 und 19 Jahren kostenlos. Ausgewählt werden sie von nationalen Kommittees in 159 Ländern und der Schulbesuch über Spenden finanziert.
Think global, act local
Seit 2014 gibt es auch ein UWC in Deutschland. Das Robert Bosch College (RBC) in Freiburg hat seinen Schwerpunkt im Bereich Nachhaltigkeit. Da, wo also die UN-Dekade „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ endete, nahm das RBC den Stab auf. Im Kontext der globalen Klimakrise betont Schulleiter Laurence Nodder die Rolle von Schulen als Orte der Verantwortung. „Klima und die Klimakrise können nicht effektiv in nationaler Isolation adressiert werden”, schreibt er in einem Blogbeitrag. Die Menschheit könne die Klimakrise nur überwinden, wenn sie zusammenarbeite. Gleichermaßen müssten junge Menschen die besten Bildungschancen erhalten, um das gemeinsame Überleben zu sichern. “Entsprechend haben Schulen wie das UWC Robert Bosch College eine wesentliche Rolle zu spielen. Sie bringen Schüler verschiedenster Hintergründe zusammen, die die Spannungen repräsentieren zwischen, in und über Nationen, Ethnien, Religionen hinweg sowie über all die anderen Konstrukten, die die Menschheit spalten.“
Die Klimakrise wird auch von Jakob Olrik als zentrales Thema der Globalisierung gesehen. Der Entrepreneur und Dozent an der Technischen Universität Dänemarks (DTU) animiert seine Studierenden, bei der Produktentwicklung immer ganzheitlich zu denken. „Sie müssen überlegen, welchen energetischen Fußabdruck ihr Produkt auf dem Planeten hinterlassen wird. Je kleiner, desto besser.“ Es sei heute eben nicht mehr zu verantworten, dass wir an Hochschulen und in der betrieblichen Ausbildung Fragen der Nachhaltigkeit vernachlässigen, egal in welchem Bereich. „Die Auswirkungen der Globalisierung spüren wir meist lokal. Egal, ob das der Verlust einer Industrie ist oder Veränderungen im Klima. Aber sie hängen alle zusammen. Das muss man der nächsten Generation auf jeden Fall mit auf den Weg geben.“ Und so bestätigt sich der alte Spruch der Umweltbewegung „think global, act local“, dann klappt es auch mit der verantwortungsvollen Globalisierung.
Dr. Tong-Jin Smith
ist Hochschuldozentin und freie Journalistin. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin
Tong-Jin.Smith@csr-magazin.net