Mitarbeitermangel und Diversität

Fatima Meyer-Hetling und Andrea Kuckert-Wöstheinrich im Interview

Geflüchteten Menschen eine berufliche Perspektive zu bieten: Dieses Ziel setzte sich die St. Augustinus Gruppe, ein an 85 Standorten vertretener Anbieter von medizinischen und sozialen Dienstleistungen, als sie vor vier Jahren ein Integrationsprojekt startete. Worum es genau geht, erklären Fatima Meyer-Hetling, Mentorin für Geflüchtete, und die promovierte Ethnologin Andrea Kuckert-Wöstheinrich aus der Unternehmensentwicklung im Interview.

Wie und wann entstand die Idee, geflüchteten Menschen eine berufliche Perspektive zu bieten?

Dr. Andrea Kuckert-Wöstheinrich: Als es 2015 in Deutschland zu der Situation kam, dass sehr viele Geflüchtete zu uns ins Land kamen, wussten wir, dass wir nun unbedingt aktiv werden müssen. Überlegungen, Menschen mit Migrationshintergrund eine berufliche Perspektive zu bieten, gab es aber schon lange zuvor. Zum einen, um dem Fachkräftemangel in der Pflegebranche entgegenzuwirken, zum anderen, um das Thema Diversity – also die kulturelle Vielfalt – adäquat im Unternehmen voranzutreiben.

Wie haben Sie diese Ziele konkret umgesetzt?

Kuckert-Wöstheinrich: Wir haben Geflüchteten die Chance geboten eine berufsqualifizierende Maßnahme zum Alltagsbegleiter für Menschen mit Demenz zu absolvieren. Ein erfolgreiches Projekt, das über drei Jahre lief und das wir nun abgeschlossen haben. Geflüchtete konnten dadurch an die Arbeitswelt herangeführt werden, Wissen über das deutsche Gesundheitssystem, über Grundlagen der Pflege, Hygiene und Gerontopsychiatrie erlernen und im besten Fall eine Ausbildung anschließen.

Frau Meyer-Hetling, Sie sind seit 2016 als Mentorin für Geflüchtete in der St. Augustinus Gruppe tätig. Diese Stelle wurde damals neu geschaffen. Warum war das so wichtig?

Fatima Meyer-Hetling: Die Herausforderungen, vor die Geflüchtete vor ihrem Eintritt ins Berufsleben gestellt werden, sind groß. Da ist es unabdingbar, dass ihnen jemand, der tief in diesem Themengebiet steckt, zur Seite steht – sei es bei Behördengängen, beim Einholen von Genehmigungen oder beim Ausfüllen von Formularen.

Wie entsteht der Kontakt zu geflüchteten Menschen, für die eine berufliche Qualifizierung im Gesundheitswesen in Frage kommt?

Meyer-Hetling: Ganz wichtig hier ist ein breites Netzwerk. Wir verfügen über viele Kontakte zum Beispiel zu Integrationslotsen, zu Einrichtungen für Geflüchtete, Sprachschulen und Jugendämtern. Über dieses große Netz entstehen letztendlich die Verbindungen zu den Geflüchteten.

Kuckert-Wöstheinrich: Wir sind sehr stolz, dass wir unsere Kurse mit jeweils zwölf bis 15 Teilnehmern immer voll bekommen haben. Auch unser Ergebnis kann sich sehen lassen: Insgesamt 61 von 69 Geschulten haben ein Zertifikat von uns bekommen.

Sprachliche und kulturelle Kompetenzen werden zwei Voraussetzungen für die berufliche Integration im Gesundheitswesen darstellen. Was leisten Sie an dieser Stelle, was leisten andere?

Kuckert-Wöstheinrich: Sprachkurse sind für Geflüchtete, die im Berufsleben Fuß fassen wollen, essenziell und werden unter anderem vom Bundesamt für Migration finanziert. Bei unserem Projekt war das Niveau B1 Voraussetzung, um überhaupt starten zu können. Kulturelles Wissen zu vermitteln ist ausdrücklich nicht Gegenstand unserer Qualifizierungsmaßnahme. Wichtig ist hier vielmehr eine ganz offene Kommunikation. Unsere Kollegen in den Einrichtungen mussten lernen, auch Geflüchteten Fragen zu stellen und, wenn nötig, Grenzen aufzuzeigen – wie bei jedem anderen Berufseinsteiger auch. Das trauten sich die ein oder anderen nicht, da Geflüchtete oft traumatische Erlebnisse hatten.

Meyer-Hetling: Dabei ist es ganz wichtig, Geflüchtete nicht in Watte zu packen. Nur so lernen sie, selbstständig zu sein. Unsere Aufgabe ist es, sie zu fördern, damit sie später auch ohne Hilfe gut im Alltag zurechtkommen.

Kuckert-Wöstheinrich: Genau deshalb haben wir im Vorfeld unserer Maßnahme alle Mitarbeitenden schulen lassen – damit sie möglichst wertfrei und wertschätzend in die Zusammenarbeit mit Geflüchteten gehen konnten. Später haben wir diese Schulungen ausgeweitet, sodass die Berufseinsteiger auch daran teilhaben konnten. Diese Entscheidung erwies sich als goldrichtig, da Geflüchtete und Mitarbeitende gleich zu Beginn viel voneinander lernten.

Welche Voraussetzungen – personell, kulturell und mit Blick auf die Ressourcen – müssen in einem Unternehmen geschaffen werden, um geflüchtete Menschen beruflich erfolgreich integrieren zu können?

Kuckert-Wöstheinrich: Ganz wichtig ist es, jeden Einzelnen als Menschen wahrzunehmen. Weg von den Labels und den Kategorien. Es ist notwendig, sich auf jede Person neu einzulassen, ohne Vorurteile durch Erfahrungen, die man mit anderen Menschen mit Migrationshintergrund gemacht hat. Diese Einstellung kann sich in einem Unternehmen aber nur durchsetzen, wenn sie gelebt wird.

Meyer-Hetling: Je mehr positive Beispiele von Geflüchteten im Berufsalltag wir im Unternehmen erlebt haben, desto höher ist dann auch die Akzeptanz. Jeder Bewerber bekommt eine Chance – das war nicht immer so.

Kuckert-Wöstheinrich: Eine weitere Voraussetzung ist auch eine offene Fehlerkultur. Wir haben immer wieder unsere Maßnahme kritisch evaluiert. Nur so war es möglich, sich stetig zu verbessern.

Gibt es im Bereich Gesundheit/Pflege besondere Herausforderungen und Chancen für die Integration Geflüchteter?

Meyer-Hetling: Hier ist der Anerkennungsprozess vermutlich die größte Hürde. Im Rahmen unserer Maßnahme hatten wir beispielsweise einmal eine besonders starke Gruppe. Da waren einige Studierte dabei, sogar ärztliches Personal. Doch die Abschlüsse sind hierzulande kaum etwas wert. Speziell im Bereich Gesundheit und Pflege gibt es starke Reglementierungen, in meinen Augen zum Teil zu starke. Das ist für die Betroffenen nicht leicht und hebt ihre erbrachten Leistungen auf ein minderwertiges Niveau. Wir müssen einen Weg finden, wie wir die vorhandenen Talente bestmöglich einsetzen können, denn am Ende profitieren alle davon.

Worin liegen aus der Perspektive eines geflüchteten Menschen die Herausforderungen, eine solche berufliche Qualifizierung zu starten und erfolgreich abzuschließen? Was sind Hürden? Was unterstützt?

Meyer-Hetling: Die größte Hürde ist eindeutig die Bürokratie. Das ist der einzige Punkt, auf den wir so gut wie keinen Einfluss haben und der uns wirklich Mühe bereitet. Teilweise ist es sehr schwierig, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen oder Zeugnisse anerkennen zu lassen. Manchmal wirken die Entscheidungen willkürlich, und die Kommunen arbeiten ganz unterschiedlich.

Ohne eine soziale Integration wird auch eine berufliche Integration schwerfallen. Haben Sie auf Erstgenanntes einen Einfluss?

Meyer-Hetling: Ja, denn jeder Geflüchtete bekommt bei uns einen Paten zur Seite, der nicht nur für berufliche Fragen Ansprechpartner ist. Auch Einkäufe oder Kinobesuche werden gemeinsam gemacht. Das gibt den Menschen mit Migrationshintergrund die Möglichkeit nicht nur beruflich, sondern auch sozial in der Gesellschaft anzukommen.

Können Sie Beispiele nennen, bei denen die Integration – beruflich wie sozial – erfolgreich funktioniert hat?

Meyer-Hetling: Da gibt es wirklich viele schöne Beispiele. Besonders eindrücklich ist aber die Geschichte einer Mutter aus Nigeria, die hart für ihr Glück gekämpft hat. Die Frau ist Anfang 30, hat zwei kleine Kinder im Alter von zwei und fünf Jahren und so ziemlich jede Hürde in den Weg gelegt bekommen, die es nur geben kann. Weil sie nur einen Duldungs-Status hatte, musste sie sich die deutsche Sprache auf eigene Faust über YouTube-Videos beibringen. Nachdem sie an unserer Maßnahme teilgenommen und erfolgreich ihr Zertifikat abgeschlossen hatte, wollte sie dann eigentlich nach Dortmund ziehen, weil ihr Mann dort einen Job gefunden hatte. Doch durch die Wohnsitzauflage war das nicht möglich und sie musste kurzfristig eine andere Lösung finden.

Wie ging es dann für sie weiter?

Meyer-Hetling: Sie ist dann auf eigene Faust persönlich in mehrere unserer Senioreneinrichtungen gegangen, um sich für eine Ausbildungsstelle zu bewerben. Auch die notwendige Arbeitserlaubnis und die Anerkennung ihrer Schulzeugnisse hat sie sich erkämpft, weil sie hartnäckig dran blieb. Und dann hat sie sich auch noch einen Schulplatz in Köln gesichert. Nun ist sie schon seit einem Jahr in der Ausbildung als Altenpflegerin und ihre Noten liegen im guten Zweier-Bereich. Ihr Mann arbeitet als Reinigungskraft bei uns im Johanna Etienne Krankenhaus. Das ist eine Geschichte, die mich sehr stolz macht, weil diese Frau ihr Schicksal selbst in die Hand nahm und sich nicht hat unterkriegen lassen.

Welche „Lessons Learned“ aus Ihren Projekten können Sie anderen Unternehmen mitgeben?

Kuckert-Wöstheinrich: Wenn wir von unseren Teammitgliedern erwarten, dass sie mit Diversity umgehen sollen, dann müssen wir das leben und zeigen, dass es funktioniert. Nur so können letztendlich Barrieren abgebaut werden. Wir sind hier auf einem guten Weg, aber ein Punkt fällt mir doch kritisch auf: Je höher es in der Hierarchie geht, desto weniger Menschen mit Migrationshintergrund gibt es dort. Sie besetzen selten Führungspositionen. Dieses Bild zieht sich übrigens durch die meisten deutschen Unternehmen. Daran sollte dringend etwas geändert werden.

Wie geht es bei Ihnen in der St. Augustinus Gruppe weiter – jetzt, nachdem Ihr Projekt abgeschlossen ist?

Kuckert-Wöstheinrich: Eine letzte Gruppe in Krefeld durchläuft noch unsere berufsqualifizierende Maßnahme. Ansonsten freuen wir uns, dass sich derzeit 34 Geflüchtete in einer Ausbildung bei uns befinden, und wir sind natürlich offen für jede weitere Bewerbung und bleiben kontinuierlich am Ball, Diversity zu leben.

Vielen Dank!

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