Übergewicht und Adipositas
Definition und Diagnose
- Adipositas ist eine chronische, ätiologisch heterogene Erkrankung, die durch die Vermehrung und/oder abnorme Funktion von Fettgewebe bedingt ist und zu negativen Auswirkungen auf die Gesundheit führt.
- Ein Body Mass Index (BMI) > 30 kg/m2 ist ein Surrogatmarker für Adipositas. Wenn jedoch klinisch keine Hinweise auf eine erhöhte Körperfettmasse bestehen (erhöhte Muskelmasse, etc.), müssen anthropometrische (bspw. Bauchumfang) oder apparative Messungen (bspw. Messung der Körperzusammensetzung mit BIA oder DXA) erfolgen, um die Diagnose zu verifizieren. Bei der Beurteilung von anthropometrischen Messungen müssen geschlechts- und ethnisch bedingte Unterschiede berücksichtigt werden (Tab. 1).
- Von «klinischer Adipositas» spricht man, wenn die erhöhte Körperfettmasse zu assoziierten Organkomplikationen führt und/oder die täglichen Aktivitäten (Mobilität, soziale Aktivitäten, Selbstfürsorge, etc.) beeinträchtigt.
- Der neu eingeführte Begriff «präklinische Adipositas» beschreibt den Phänotyp einer erhöhten Fettmasse, die noch nicht mit einer Organdysfunktion einhergeht und/oder die täglichen Aktivitäten/die Mobilität beeinträchtigt.
BMI | Kategorie |
< 18.5 kg/m2 | Untergewicht |
18.5 – 24.9 kg/m2 | normal |
25.0 – 29.9 kg /m2 | Übergewicht |
> 30.0 kg/m2 | Adipositas |
Adipositasstadien | |
30.0 – 34.9 kg/m2 | Adipositas Grad I |
35.0 – 39.9 kg/m2 | Adipositas Grad II |
> 40.0 kg/m2 | Adipositas Grad III |
Bauchumfang («waist») | |
Frauen* | ≥ 88 cm |
Männer* | ≥ 102 cm |
Abklärung
- Ausführliche Anamnese einschliesslich bisheriger Diäterfahrungen und bisherigem Verlauf der Adipositas, assoziierten Risikofaktoren, somatischen und psychiatrischen Komorbiditäten, Hinweisen für Essverhaltensstörungen (Binge eating, etc.). Familienanamnese, auch zur Identifizierung weiterer von Adipositas betroffener Familienmitglieder (Kinder)
- Klinische Untersuchung einschliesslich anthropometrischer Daten, ggf. Bestimmung der Fettmasse mittels BIA, spezifische apparative und Laboruntersuchungen (Tabelle 2)
- Vertiefte Ernährungsanamnese durch Ernährungsberatung
- Abklärung bezüglich monogentischer Adipositas bei Krankheitsbeginn vor dem Primarschulalter
- Suche nach sekundären Adipositasformen (Hypercortisolismus usw. nur bei spezifischen klinischen Hinweisen)
Organsystem | Manifestationen | Mögliche spezifische Abklärung zusätzlich zu Anamnese und Status |
Lunge | Obstruktive Schlafapnoe, Adipositas-Hypoventilation, Dyspnoe | EPSS, OSAS-Screening |
Herz | Herzinsuffizienz (HFrEF, HFpEF), Ödeme, Vorhofflimmern, pulmonalarterielle Hypertonie, KHK | EKG, Echo, NT-proBNP, Belastungstest |
Kardiovaskulär | Hypertonie, Thromboserisiko, thromboembolische Komplikationen | BD-Messung mit passender Manschette |
Stoffwechsel | Diabetes, Dyslipidämie, Hyperurikämie/Gicht | HbA1c, Blutzucker, Lipidprofil, Harnsäure |
Leber | Steatotische Lebererkrankunge, Fibrose, Zirrhose | Fib-4-Index, Sonographie, Elastographie |
Niere | Mikroalbuminurie, Nierenfunktionseinschränkung | ACR, eGFR |
Urogenital | Urininkontinenz | |
Gonaden/ Reproduktion |
Anovulation, Oligo-, Amenorrhoe, PCOS Hypogonadismus und erektile Dysfunktion, In- oder Subfertilität |
LH, FSH, SHBG, Gesamt- und freies Testosteron, Estradiol |
Muskuloskelettal | Osteoarthritis, Immobilität, Sarkopenie, Inaktivität | |
Psyche | Depression, Essverhaltensstörungen | Psychologische Evaluation |
Tägliche Aktivitäten | Körperhygiene, Kleidung, Ausscheidung, Ernährung, Berufliche Integration |
Therapie
- Erstellung eines langfristigen, multidisziplinären und multiprofessionellen Behandlungskonzeptes (Grundversorger, Spezialisten, Ernährungsberatung, Physiotherapie, Psychologie usw.) zur Verbesserung des Lebensstils (Ernährungs- und Bewegungsverhalten, Stressreduktion, Schlafhygiene usw.). Eine intensive Lifestyletherapie im Rahmen von randomisierten klinischen Studien zeigt eine durchschnittliche Gewichtsreduktion von 4-9% nach 1 Jahr und 1-3% nach 5-10 Jahren.
- «Time-restricted-eating»: Die Einschränkung des Zeitraumes, während dessen eine Nahrungszufuhr erlaubt ist, ohne Anpassung der Ernährungsform, bringt kurzfristig eine Gewichtsabnahme von ca. 3% (bspw. 16:8 Intervallfasten: Nahrungszufuhr während 8h/d; alternierendes Fasten – 5 Tage keine Einschränkung, 2 Tage «very- low- calorie» Diät).
- Eine «very-low-calorie» Diät (< 800 kcal/d) kann kurzfristig insb. bei schwerwiegenden Komorbiditäten (entgleister Diabetes etc.) erwogen werden.
- Jede Gewichtsreduktion ist auch mit einem Verlust von Muskelmasse verloren, dem durch eine adäquate Eiweisszufuhr und körperliche Aktivität/Training entgegengewirkt werden muss.
- Vermeiden bzw. Reduktion Adipositas-fördernder Medikamente: div. Antidepressiva, Neuroleptika, Glucocorticoide usw.
- Regelmässige Kontrolle und Anpassung der Behandlungsziele.
- Adäquate und spezifische Therapie von assoziierten Komplikationen (Hypertonie, Diabetes, Dyslipidämie, OSAS, Depression, Essverhaltensstörung usw.)
- Medikamentöse Adipositastherapie bei fehlendem Ansprechen auf konservative Therapiemassnahmen:
- In der CH stehen v.a. GLP-1- (Semaglutide; Liraglutide nur für Kinder und Jugendliche) und GLP-1/GIP-Agonisten (Tirzepatide) zur Verfügung.
- Aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit dürfen die Medikamente nur gemäss den bestehenden Indikationen verschrieben werden. Die Limitatio der Spezialitätenliste muss jeweils berücksichtigt werden.
- Aktuelle Studiendaten zeigen, dass durch Semaglutide/Tirzepatide neben einer Gewichtsreduktion auch weitere Adipositas-assoziierte Komorbiditäten (OSAS, MASLD/MASH, Herzinsuffizienz, atherosklerotische kardiovaskuläre Komplikationen, CKD) verbessert werden.
- Der längste Beobachtungszeitraum in klinischen Studien mit GLP-1 und GLP/GLP-1-Analoga beträgt ca. 3 Jahre.
- Bariatrische Chirurgie bei BMI > 35 kg/m2 und erfolgloser konservativer und/oder medikamentöser Therapie, bei ungenügend kontrolliertem T2DM bei BMI > 30 kg/m2:
- Durch eine bariatrische Operation kann bei ca. 80% der behandelten Patientinnen und Patienten langfristig eine Reduktion von > 2/3 des Übergewichtes erzielt werden. Damit verbunden ist eine signifikante Reduktion von Komorbiditäten, insbes. der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität. Auch weitere Komorbiditäten werden verbessert (DM, Hypertonie, OSAS, MASH etc.). Gegenüber konservativ behandelten Patientinnen und Patienten resultiert eine Verlängerung der Lebenserwartung um 5 Jahre, bei Vorhandensein eines Typ 2 DM um 9 Jahre.
- Eine bariatrische Operation bedingt eine lebenslange Nachkontrolle und Betreuung in einem anerkannten Zentrum.
- Die Indikationsstellung, Operation und Nachbetreuung folgt den Vorgaben der SMOB.
Liraglutide (Saxenda) | Semaglutide (Wegovy) | Tirzepatide (Mounjaro) | Orlistat | |
Anwendung | Initial 0.6 mg s.c. tgl. Dosissteigerung wöchentlich auf 1.2, 1.8.,2.4, 3.0 mg s.c. tgl. | Initial 0.25 mg s.c./Woche, Dosissteigerung monatlich auf 0.5, 1.0, 1.7, 2.4 mg/Woche | Initial 2.5 mg s.c./Woche, Dosissteigerung monatlich auf 5, 10, 15 mg/Woche | 60-120 mg vor den Mahlzeiten |
Wirkungsmechanismus | GLP-1-Agonist | GLP-1-Agonist | GIP/GLP-1-Agonist | Hemmung pankreatische Lipase |
Placebo-kontrollierte Gewichtsreduktion (%) ohne DM | 6% (1 Jahr) |
12.5% (68 Wochen) |
17.8%
(72 Wochen) |
4% (1 Jahr) |
Placebo-kontrollierte Gewichtsreduktion (%) bei DM | 4% (1 Jahr) |
6.2% (68 Wochen) |
11.6% (72 Wochen) |
2.5% (1 Jahr) |
Anteil Patienten mit >5/>10% Gewichtsabnahme | 63%/33% | 86%/69% | 91%/84% | 73%/41% |
Nebenwirkungen | Obstipation, Übelkeit, Erbrechen, Cholelithiasis/-zystitis, Diarrhoe | Obstipation, Übelkeit, Erbrechen, Cholelithiasis/-zystitis, Diarrhoe | Obstipation, Übelkeit, Erbrechen | Steatorrhoe, Flatulenz, Diarrhoe |
Kontraindikationen | Schwangerschaft, Persönliche oder Familienanamnese für medulläres SD-Carcinom oder MEN 2 | Schwangerschaft, Persönliche oder Familienanamnese für medulläres SD-Carcinom oder MEN 2 | Schwangerschaft, Persönliche oder Familienanamnese für medulläres SD-Carcinom oder MEN 2 | Schwangerschaft, Malabsorption |
Swissmediczulassung | ja | ja | ja | ja |
Spezialitätenliste BAG | ja | ja | nein | ja |
Limitatio | ja | ja | n.a. | ja |
Quellen/Links
- Rubino F, Cummings DE, Eckel RH, Cohen RV, Wilding JPH, Brown WA, et al. Definition and diagnostic criteria of clinical obesity. Lancet Diabetes Endocrinol [Internet]. 2025 Jan 1 [cited 2025 Jan 18]; Available from: https://browzine.com/articles/640674462
- Blüher M. Obesity: global epidemiology and pathogenesis. Nat Rev Endocrinol. 2019 May;15(5):288–98.
- Lingvay I, Cohen RV, Roux CW le, Sumithran P. Obesity in adults. The Lancet [Internet]. 2024 Aug 1 [cited 2024 Aug 18]; Available from: https://browzine.com/articles/625764393
- Syn NL, Cummings DE, Wang LZ, Lin DJ, Zhao JJ, Loh M, et al. Association of metabolic–bariatric surgery with long-term survival in adults with and without diabetes: a one-stage meta-analysis of matched cohort and prospective controlled studies with 174 772 participants. The Lancet. 2021 May 1;397(10287):1830–41.
PD Dr. Stefan Bilz