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Zwei Szenarien

„Allein gelassen, reiten sich alle Erfolgsprinzipien zu Tode; Mäßigung finden sie nur in der Begegnung mit etwas anderem. Das ist ein ehernes Gesetz des Universums.

Der Planet Erde im Sonnen-System der Milchstraße zeigt das sehr anschaulich: Dort hat die Spezies der Menschen – wohl mit leiser Ironie nannte sie sich „Homo sapiens“, ja sogar „Homo sapiens sapiens“ – zunächst sehr unterschiedliche Formen des Zusammenlebens entwickelt und dabei ein weitgehend stabiles Gleichgewicht eingehalten. Das begann sich zu ändern, als man noch einige Jahrhunderte vor Beginn ihrer Zeitrechnung auf den eigenartigen Gedanken kam, dass Geist und Materie nichts miteinander zu tun hätten. Rund 2000 Jahre später wurde dieser Gedanke auf die Spitze getrieben, als die Bewohner eines kleinen, Europa genannten Erdteils begannen, ihre intellektuellen Fähigkeiten dem Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Umwelt zu entziehen und statt dessen eine Reihe von abstrakten Erfolgsprinzipien zu entwickeln. Sie nannten diese Epoche „Aufklärung“ und die neue Praxis „Ideen“ oder „Abstraktionen“. Tatsächlich gelang es den Europäern und dann auch ihren Ablegern in Nord-Amerika und anderen Weltgegenden, mit dieser Art des Vernunft-Denkens viel zu bewegen. Wissenschaft und Technik blühten auf, individuelle Menschenrechte und Demokratie wurden entwickelt. Wohl am deutlichsten war der Erfolg am enormen Bevölkerungs-Wachstum ablesbar. So stand innerhalb von drei Jahrhunderten der gesamte Erdball unter den bestimmenden Einfluss dieser „Aufklärung“. Aber: mangels Begegnung mit ähnlich starken Prinzipien maßlos geworden, führte dieses Erfolgsprinzip zur Vernach-lässigung der Umwelt und seit der Wende zum dritten Jahrtausend zu immer größeren Umweltkatastrophen.

Gleichzeitig kam eine größere Katastrophe aus dem Bereich, in dem die Abstraktionen am weitesten getrieben wurden, nämlich aus dem Finanzwesen. Dieses hatte in der menschlichen Gesellschaft zwar schon immer eine große Rolle eingenommen, war aber nun derart komplex geworden und von den Bedürfnissen der Menschen entrückt, dass schon ein vergleichsweise nichtiger Anlass zu seinem Zusammenbruch geführt hat. Durch die zentrale Rolle der Finanz wurden umgehend auch alle anderen Tätigkeitsbereiche getroffen, darunter vor allem die über Groß-Organisationen abgewickelte Versorgung dicht besiedelter Regionen mit Nahrung, Energie und Information. Ihr Zu-sammenbruch hatte Hunger, Chaos und Gewalt zur Folge, dann auch Flüchtlingsströme, Seuchen und noch mehr Gewalt.

Um das Elend voll zu machen, traten dann auch die Anhänger eines anderen, ins Unmaß getriebenen Erfolgsprinzips auf: Religiöse Fundamentalisten jubelten über diese Endzeit-Stimmung, verübten immer schrecklichere Terrorakte, schafften sich Zugriff auf Nuklearwaffen und setzten sie schließlich auch ein. Ein großer Teil der Welt-Bevölkerung ging dabei zugrunde, und auch die wenigen Überlebenden konnten keine Erholung erreichen. Wegen der verseuchten Umwelt samt Klima-Erwärmung waren andere Spezies Gewinner dieser Mega-Katastrophe, nämlich zuerst die Ratten und dann die Termiten.“

So ungefähr könnte ein Bericht außerirdischer Wesen über das Schicksal von Erde und Mensch aussehen. Aber zunächst zwei Vorfragen, bevor diese Thematik näher beleuchtet wird: Glauben Sie auch, lieber Leser, dass der konkrete Mensch im Zentrum der Politik stehen soll? Und soll man sich dann nicht auch dem demokratischen Ideal verpflichten und jede Fremdbestimmung mit all ihren offenen oder verdeckten Formen ablehnen – sei es nun mächtige Ausnahme-Persönlichkeiten, Experten oder Eliten, die sich immer feudalistischer geben und zu Oligarchien mausern? Wenn Sie die beiden Fragen nicht mit einem klaren Ja beantworten können, werden Sie mit „Menschliches Maß“ wenig anfangen können – sparen Sie sich daher die weitere Lektüre dieses Buches und machen Sie sich einen schönen Tag – es könnte ja Ihr letzter sein!

Nach dieser Verabschiedung von Demokratie-Gegnern kehren wir naive Idealisten zurück zum Katastrophen-Szenario: es mag unserem Bauchgefühl widersprechen, sein Eintritt ist aber nach den Regeln der Vernunft höchst wahrscheinlich; ist es doch die logische Fortschreibung der bisher klar zutage getretenen politischen Trends – und es entspricht ja auch ganz den Erfahrungen der biologischen Evolution mit ihrem Auf und Ab der Spezies.

Der Vernunft zum Trotz muss es aber doch nicht ganz so schlimm kommen. Mit „G.G.“ – das je nach Weltanschauung für gigantisches Glück oder göttliche Gnade stehen mag – könnte ein zukünftiger, aber durchaus irdischer Bericht über die Folgen der Finanzkrise etwa so ausschauen:

“Die 2008 offen zutage getretene Finanzkrise wurde zu einer schweren Dauerkrise, der sich keine Weltgegend entziehen konnte. Zwar wurde ein Total-Absturz des Finanz-Systems verhindert, es gelang aber nicht, Gesellschaft und Wirtschaft wieder auf gesunde Beine zu stellen. Grund dafür war vor allem die Schwäche demokratisch gewählter Regierungen: Sie wussten zwar, dass einschneidende Reformen notwendig waren, die hauptsächlich zu Lasten der Finanzwirtschaft gehen mussten; sie fürchteten aber, den Konflikt mit ihren übermächtig gewordenen Vertretern nicht gewinnen zu können – jedenfalls nicht innerhalb einer Legislaturperiode. Vor allem um ihre Wiederwahl besorgt, verweigerten sie diese Reformen und verausgabten sich weiter mit Symptom-Kuren. Immerhin blieb dabei die öffentliche Sicherheit trotz zahlreicher Ausschreitungen verarmter und arbeitsloser Massen weitgehend aufrecht, was auch die notdürftigste Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung, Energie und Information ermöglichte.

In dem Maße, wie die Unfähigkeit der Politik zur Entschärfung der Krise immer deutlicher wurde und die allgemeine Stimmung in stille Verzweiflung abrutschte (obwohl sich manchmal einzelne Schwalben statistischen Wachstums zeigten, blieben sie nicht lange genug, um einen Wirtschafts-Sommer verkünden zu können), suchten vor allem Arbeitslose und Globalisierungsverlierer Abhilfe au-ßerhalb etablierter Politik – und wurden bei sich selbst fündig. Sie übernahmen viele Ideen und Methoden der Zivilgesellschaft, wie sie sich mit dem Siegeszug des Internets entwickelt hatte; konkret gingen sie zu Kooperationsmodellen über, bei denen das Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung offen blieb. So gründeten sie die verschiedensten Tauschkreise und darauf aufbauend bald auch Alternativ-Währungen in der Form zinsfrei zirkulierender Gutscheine. Zunächst konnte mit diesen primitiv anmutenden Methoden nur ein Überleben auf sehr bescheidenem Niveau erreicht werden. Nach einiger Zeit änderte sich das jedoch überraschend schnell zum Besseren als Folge zweier Entwicklungen:

Zum einen zog man aus dem distanzierten, aber leidlich funktionierenden Nebeneinander von Finanz- und offener Tauschwirtschaft die richtigen Schlüsse: Jedes der beiden Systeme hatte seine besonderen Stärken und Schwächen. So entwickelte sich allmählich ein konstruktives Spannungsverhältnis. Weil dies den menschlichen Bedürfnissen offenbar bestens entsprach, entdeckte man bald auch den Reiz, in gleicher Weise mit anderen übersteigerten Erfolgs-Prinzipien umzugehen: Man setzte auch sie in ein Spannungsverhältnis mit anderen Prinzipien, die auf den ersten Blick konträr zu sein schienen: Markt-Versorgung mit kooperativer Eigen-Versorgung, kapitalintensive Hoch-Technologie mit arbeitsintensiver „mittlerer“ Technologie, global mit lokal, Wachstum mit Fließgleichgewicht, Toleranz mit Identität, repräsentative mit direkter Demokratie – aber auch Demokratie mit Hierarchie. Dabei steckte in fast allen dieser Spannungsverhältnisse der Gegensatz zwischen linearer Effizienz und ganzheitlicher Robustheit (Resilienz).

Kurz, die praktischen Vorteile des Menschlichen Maßes wurden mehr und mehr überschaubar und erleichterten damit die politischen Entscheidungen. Zum anderen entdeckte man die schon vergessen geglaubte Ur-Freude an Selbst-Geschaffenem und an der Unabhängigkeit von undurchschaubaren Strukturen. Ein Geist der Verbundenheit machte sich unter den Anhängern dieser Einstellung breit, der bald auch nach außen ausstrahlte: Wo diese Freude auftauchte und die allgemeine Düsternis der Dauerkrise so deutlich durchbrach, regte sie immer mehr Menschen zur Nachahmung an – jeder wollte nun mehr singen und lachen, mit seinen Nachbarn im großen Palaver lang und theatralisch debattieren, Kinder um sich haben, gut gärtnern, kochen und essen sowie besseren Sex haben – und mit dem Menschlichen Maß war das alles durchaus möglich geworden!“

Ich bin überzeugt, die Bedrohung der Menschheit liegt heute in der Maßlosigkeit dessen, was sie als ihre Erfolgsprinzipien ansieht; und wirklich menschenwürdig kann ein Überleben nur sein, wenn wir den überall wehenden Geist der Verbundenheit wiederfinden und stärken; er ist es ja, der Qualität über Quantität stellt und Kooperation über Wettbewerb; und der damit den Weg zu gelungenem Leben weist. Damit sich dieser Geist entfalten kann, braucht er jedoch äußere Strukturen, die im Rahmen des Menschlichen Maßes liegen. Daher muss es zuerst darum gehen, eine praktikable Methode zu entwickeln, die solche Strukturen fördert. Das gelingt am besten, wo wir uns ein überschaubares Umfeld schaffen. Es ist aber auch dort möglich, wo wir darüber hinaus gehen müssen und uns nun an abstrakten Erfolgsprinzipien orientieren, solange wir diese Prinzipien in einem lebendigen Spannungsverhältnis halten; wo wir also Erfolgsprinzipien mit ihren gegensätzlichen, sich aber ergänzenden Prinzipien konfrontieren und dann auf konkrete Situationen beziehen.

Wie rasch dieser Weg sich auch durchsetzen kann, ist freilich eine andere Frage. Horror-Szenarien werden die Menschen wohl kaum dazu veranlassen können. Auch auf die Politik – also auf „von oben“ verordnete Maßnahmen – wird man kaum warten wollen. Wie gesagt, vor die Wahl gestellt zwischen etwas Neuem, dessen positive Wirkung erst nach den nächsten Wahlen allgemein sichtbar wird, und eingefahrenen Praktiken des puren Machterhalts, wer-den sich Politiker regelmäßig für Letzteres entscheiden. Die Umkehr muss daher „von unten“ kommen, anfangs ganz an der Politik vorbei und klein, dabei ganz auf sich selbst gestellt, soll es das Erleben von schöpferischer Freude sein, das den Durchbruch schafft: Aus den ersten Erfolgserlebnissen der Arbeitslosen, „dem System“ ein Schnippchen geschlagen zu haben, soll sich die Aussicht auf ein „gutes Leben“ entwickeln – denn genau das ist ja durchaus in Reichweite wirklich selbstbewusster Menschen. Ist dieser Wagen einmal gut in Fahrt, kann man sicher sein: die Politiker werden sich sogleich aufs Trittbrett schwingen und gerne die notwendigen legistischen Maßnahmen ergreifen.

Nun kann ich auch zum Zweck dieses Buches kommen: Wie gesagt, wird bis zum allgemeinen Wirksamwerden des „Menschlichen Maßes“ wohl „einige Zeit“ vergehen müssen. Dass dieser Zeitraum möglichst kurz bleibt und auch für den Fall des Zusammenbruchs aller gängigen Finanzsysteme ein Sicherheitsnetz da ist – dafür soll hier ein Beitrag geleistet werden. Ich bin auch überzeugt, dass dies schneller geht, und das Vertrauen in den Geist der Verbundenheit rascher hergestellt sein wird, als es sich die meisten „Realisten“ unserer Zeit vorstellen können.

 

Auf der Suche nach dem richtigen Feindbild

Zunächst eine persönliche Bemerkung: Von meinem schönen Diplomaten-Beruf habe ich einige Erfahrungen mitgenommen, die sich auch „im normalen Leben“ bewähren. Neben Aufrichtigkeit und Höflichkeit ist das vor allem: ganzheitlich denken, immer im Gespräch bleiben, und deswegen allen Gesprächspartnern – und vor allem sich selbst – einen Notausgang offen lassen.
Das mag alles vernünftig und pragmatisch sein und einer friedlichen Konfliktlösung dienen, aber ich gebe gerne zu, dass sie damit auch oft den Eindruck erwecken, dass hinter dem ständigen „einerseits – andererseits“, Vernunft-Appellen und diplomatischer Höflichkeit oft wenig Substanz zu sehen ist. Allerdings gibt es auch für Diplomaten Momente, wo sie den Anschein polemischer Vereinfachung erwecken müssen, um aus verfahrenen Situationen ausbrechen zu können.

Dank maßlos überzogener Ideen steht heute die ganze Menschheit in einer solchen Situation. Eine totale Katastrophe ist keineswegs unwahrscheinlich, wie ich mit dem eben geschilderten Szenario gezeigt habe; und auch die Voraussetzungen für die optimistischere Variante scheinen heute nicht und nicht wirksam werden zu wollen. Kurz, außer nach unten geht offenbar nichts weiter.

Wir – das heißt hier der an einem menschenwürdigen Überleben interessierte Teil unserer Spezies – brauchen daher eine Art Motto oder Metapher, mit der wir in polemischer Vereinfachung einerseits so viel Emotionen wecken, dass die resignierend schweigenden Mehrheiten aufgerüttelt werden; und ist einmal genug Veränderungswille gegeben, darf diese polemische Vereinfachung andererseits nicht einem vernünftigen Diskurs im Wege stehen. Denn die Erfahrung zeigt ja, dass die gewünschte Emotionalisierung heute mit Feindbildern besser gelingt als mit Idealen; aber auch wie schwer es ist, die Emotionen nach erfolgter „Zündung“ wieder einzufangen.

 

Die maßlos überzogenen Ideen

Das Feindbild muss also klug gewählt sein. So muss man wissen: Wo liegen jeweils die tieferen Gründe für die zunehmende Frustration über das “Versagen” von zentralen Ideen und Werten, die bisher höchst erfolgreich waren, sei es nun Demokratie, Toleranz, Säkularismus, Nationalstaat – ja auch Buch-Geld, Wirtschafts-wachstum und Effizienz? Da diese „typisch westlichen“ Ideen und Werte erst mit der Aufklärung „groß“ geworden sind, müssen offenbar grundlegende Dinge dieser Denkungsart in Schieflage geraten sein. Der Hang zur Maßlosigkeit wurde ja schon diskutiert, aber es muss wohl auch darüber hinaus eine treibende Kraft geben, die es zu benennen gilt: Was könnte das sein?

Dazu die Vorfrage: Wo genau liegen die konkreten Exzesse? Sozusagen der Erstgeborene auf der Kehrseite der Aufklärung ist die extreme Wissenschafts-Gläubigkeit; also das, was die Philosophie den Szientismus nennt. Es ist die materialistische Überzeugung, dass sich mit naturwissenschaftlichen Methoden alle sinnvollen Fragen beantworten lassen; Geist wirft mehr Fragen als Antworten auf, ist von der Materie getrennt und darf in einem „vernünftigen Dis-kurs“ keine Rolle spielen. Daher fordern seine Anhänger auch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden in nahezu allen gesellschaftlichen Teilbereichen, nicht zuletzt auch in der Politik. Ignoriert wird, dass die zahlreichen Kritiker des Szientismus – von Hegel über Friedrich v. Hayek und Ludwig Wittgenstein zu Karl Popper u.a.– stets auf die Unterschiede zwischen dem der wissenschaftlichen Prüfung Zugänglichen und dem Unzugänglichen hinweisen; vereinfacht ausge-drückt, also zwischen linearem Wissen und ganzheitlichem Verstehen.

Als Zweitgeborener der Aufklärung ist der Glaube an steten Fortschritt und unendliches Wachstum zu nennen: Weil wir durch den Vernunft-Gebrauch immer klüger werden und die Natur immer besser zu verstehen glauben, sollte es uns auch gelingen, natürliche Ressourcen immer besser zu nutzen und dabei gesellschaftliche Fehler zu vermeiden. Und so kann man im Bewusstsein des ständigen, nur von kurzen und lehrreichen Rückschlägen unterbrochenen Fortschritts auch an ein unendliches Wachstum von Konsum und Wohlstand glauben. Dieser Glaube dient dann der Politik als Allheilmittel für fast alle Probleme; suggeriert er doch selbst den ärmsten Bevölkerungsschichten, dass sich früher oder später auch bei ihnen der Wohlstand einstellen wird. Ignoriert wird aber, das der Lauf der Geschichte offen ist, und der Mythos vom ewigen Wachstum zu schwersten Umweltsünden geführt hat; ist er doch mit den begrenzten Ressourcen der Erde und den Gesetzen der Thermodynamik unvereinbar – es sind ja schon heute die im Laufe eines ganzen Jahres nachwachsenden natürlichen Ressourcen bereits nach acht Monaten verbraucht.

Beide Arten von Gläubigkeit haben ihrerseits eher inzestöse Kinder gezeugt: Sei es der Monetarismus, für den der einzige Wert auf der Welt der Geldeswert ist. Sei es der extreme Individualismus; er ist zwar in seinem Ur-Verständnis unser wertvollstes Erbe der griechischen Antike und war in dieser Form auch eine zentrale Säule der Auf-klärung; er hat aber schon im 19. Jahrhundert den Begriff des Privateigentums radikal erweitert, indem er die Rechte des Grundbesitzers, des Arbeitgebers und des Kapitalisten jeder sozialen Verantwortung enthoben und damit verabsolutiert hat – was dann zu Landflucht und wachsendem Industrie-Proletariat geführt hat, mit all ihren bis heute ungelösten sozialen Problemen. Oder sei es das Wettbewerbs-Prinzip, das uns von der biologischen Evolution bis zur Demokratie viel erklären kann, das aber nicht zuletzt im Sozial-Darwinismus krass ins Unmaß geraten ist. Und Wettbewerb ist schließlich auch das zentrale Thema des marktwirtschaftlichen Prinzips, in dem sich auch die ande-ren hier aufgezählten Ideen der Aufklärung wiederfinden – im Maßvoll-Guten wie auch im Exzessiv-Bösen.

Ich kann nicht oft genug wiederholen: Selbstverständlich war die Aufklärung gut und für das Überleben einer wachsenden Weltbevölkerung absolut notwendig; sie ist aber unvollständig geblieben, weil sie sich bis heute nicht mit der Frage des richtigen Maßes ihrer Erkenntnisse befasst hat. Schon der große Philosoph Leopold Kohr (1909 -1994) – von dem leider immer noch nicht viel mehr bekannt ist als das fälschlich ihm zugeschriebene, tatsächlich jedoch von seinem Freund E.F. Schumacher stammende „small is beautiful“ – meinte daher, dass das Paracelsus-Wort „Jede Arznei ist Gift – entscheidend ist nur die Dosis“ auch für alle „großen Ideen“ und Ideologien Gültigkeit habe. Wissenschaft, Wachstum und Fortschritt, Individualität, Privateigentum, Wettbewerb wie auch Geld und Markt bleiben daher durchaus wichtige und für unser Zusammenleben unverzichtbare Ideen und Werte, sie sind aber ins Unmaß geraten. Konkret bilden sie heute in ihrer Übersteigerung die Grundlage, die einem natürlichen Urinstinkt so viel Antrieb und vorgebliche Rechtfertigung gegeben hat, dass er in abstoßendes Unmaß gesteigert wurde: nämlich das zur Gier mutierte Erwerbsstreben, seinerzeit wohl aus dem urbiologischen Fress-Trieb entstanden.

 

Der Mammon…

So kursiert das böse Schlagwort von der Gier schon seit der Finanzkrise von 2008. Sie soll schuld sein an sinnlosem Horten von Geld und Geldeswert, allseits galoppierender Korruption, am Boden-Verlust der Börsen-Zocker und vielem anderen mehr. Für ein Feindbild ist die Gier jedoch nicht geeignet – auch sie ist, wie gesagt, „nur“ ein ins Unmaß gekippter Ur-Instinkt, also eine im Prinzip durchaus nützliche Eigenschaft des Menschen. Immerhin weist aber die Gier den Weg zu einem brauchbaren Feindbild, und so sei hier sein Name genannt: Es ist der Mammon.

Im Mammon sehe ich eine Politik maßloser Übertreibung, genauer gesagt die Bündelung und weitere Steigerung von Exzessen guter Ideen im Zeichen der Gier. Der Mammon ist laut Wikipedia “ein unredlich erworbener Gewinn oder unmoralisch eingesetzter Reichtum, wenn er etwa zur lebensbestimmenden Maxime wird.” In Volksglaube und Literatur wurde er “als personifizierter Reichtum zu einem Dämon, der den Menschen zu Geiz und Habgier verführt.” Und so kennt man ihn als die goldglänzende Figur, die in Hugo von Hofmannsthals “Jedermann” alljährlich auf dem Salzburger Domplatz aus der Geldtruhe springt, sich rühmt, den Jedermann „wie einen Hampelmann“ tanzen zu lassen, ihn aber in der Todesstunde allein lässt. Schon in der Bibel ist er zum Begriff geworden: „Niemand kann zwei Herren dienen… Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“

Ganz einfach: Mammon ist der Un-Geist, der der Gier freie Bahn bereitet und die dazu notwendigen Strukturen und Verhaltensmuster fördert. Egal, ob man Mammon als einen aus der Welt des Geistes kommenden, parasitären Un-Geist sieht; oder ob man zu seiner Erklärung naturgesetzliche Phänomene der Selbstorganisation (Autopoiesis) heranzieht, man tut gut daran, Mammon als eine sich organisch verhaltende, also voll lebendige Idee zu verstehen. Sowohl ihre Rechtfertigung als auch ihre zunehmende Dynamik ruht, wie gesagt, auf Exzessen großer Ideen der Aufklärung – mögen sie nun aus dem Bewusstsein verdrängt worden sein oder nicht.

 

…und seine Diener

Die Figur des Mammon ist stark in ihrer dämonischen Aussage, aber gleichzeitig so abstrakt, dass sich kein Mensch direkt angesprochen fühlen muss und sich auch keine klassischen Verschwörungstheorien daran festmachen lassen. Was es aber gibt, ist eine kleine Gesellschaftsschicht – man kann sie auch einen neuen Stand oder Kaste nennen – die man als besonders effiziente Diener Mammons sehen sollte; auch sie betreiben allem Anschein nach keine umfassenden Verschwörungen, verhalten sich aber – wiederum den Grundsätzen der Selbstorganisation folgend – erstaunlich einheitlich und „situationselastisch“. Gemeint ist hier die Fehlentwicklung in der Führung vieler großer Organisationen durch ihre leitenden Angestellten. Als Manager sollten diese „servant leaders“ zwar nur Treuhänder sein, agieren aber zuvorderst als Nutznießer in eigener Sache – ein Phänomen, das von Manfred Höfle für den Bereich der Unternehmensführung beschrieben wurde, der diesen Menschentyp „Manageristen“ nennt. Ihr Kennzeichen ist die Pervertierung von Führungs-Funktionen durch Maximierung ihrer persönlichen Vorteile – Stichwort: exzessive Bonus-Zahlungen – bei gleichzeitiger Minimierung, ja gänzlichem Ausschluss ihrer Verantwortung, ganz zu schweigen von ihrer persönlichen Haftung. Höfle spricht hier von einer „Selbstprivilegierung“.

Manageristen haben mit ihren Netzwerken im Finanzwesen, in Teilen der Industrie und des Dienstleistungssektors Märkte manipuliert und insbesondere Publikumsgesellschaften vereinnahmt. Über die Kapitalmärkte gelang diesen corporations die völlige Anonymisierung von Eigentum, womit der Anteilsschein – etwa an einer AG – zum Spekulationspapier gewandelt und das Verständnis vom Eigentum mit seinen sozialen Bindungen entwertet wurde – Loyalität wurde da zum Fremdwort. Fonds, insbesondere die Hedge- und Private Equity-Varianten, wurden dadurch zu anonymen, aber höchst einflussreichen Kapital-Sammelstellen, einzig am shareholder value ausgerichtete corporate governors. Überhaupt haben Manageristen großen Anteil an der Umkehrung der Verhältnisse in der Marktwirtschaft: Kam früher der wertschaffenden Realwirtschaft die Führungsrolle zu, so liegt diese nun ganz offenkundig bei der Finanzwirtschaft.

So wie bei weitem nicht alle Wirtschafts-Manager Manageristen sind, so finden sich Manageristen auch in anderen Bereichen, insbesondere der Politik; dort sind sie vor allem in Interessenvertretungen tätig, also in Partei-Organisationen, Kammern, Gewerkschaften und ähnlichen Verbänden. Zwar scheint da die Gier mehr auf Macht als auf Geld zu zielen, doch wird auch hier Mammon geopfert – ganz abgesehen davon, dass die vordergründig angestrebte politische Macht oft nur die Vorstufe für spätere, höchst lukrative Positionen in der Wirtschaft ist. Denn was sonst steckt dahinter, wenn politische Manageristen ihre Netzwerke nur für einen kleinen Teil der ihnen anvertrauten Wähler-Interessen einsetzen? Sie betreiben da mit ihren Parteien typische Klientel-Politik; und haben sich damit – eine Verhöhnung der Demokratie – von Wähler-Mehrheiten weitgehend unabhängig gemacht: sind doch in jahrelanger Arbeit die staatlichen Institutionen auf Dauer mit ihren Gefolgsleuten besetzt worden. So können auch typische Arbeitnehmer-Parteien und Organisationen von mammonistischen Manageristen geführt werden: Solange sie für ihr kleines Königreich Vorteile herausschinden kön-nen, fühlen sie sich weder für die Eindämmung neoliberaler Exzesse zuständig noch für das Wohl der gesamten Gesellschaft mitverantwortlich. Wo sie nun konkret sitzen, ist von Land zu Land verschieden, lässt sich aber ganz gut ausmachen, wenn man sich Parteispenden und ihre jeweiligen Gegenleistungen genauer anschaut. Und so halten sich auch politische Manageristen an die Maximierung persönlicher Vorteile und die Minimierung persönlicher Haftungen.

Wohl mehr als nur Handlanger der Manageristen sind schließlich auch die großen Internet-Konzerne, angeführt von der „Informations-Krake“ Google. Wenn sie vordergründig auf der Suche nach Werbe-Adressaten private E-Mails und Social-Network-Einträge durchkämmen, tatsächlich jedoch Geheimdiensten zuarbeiten und den „gläsernen Menschen“ schaffen, dann stärken sie damit auch die Position der Mammonisten in Politik und Wirtschaft.

Natürlich ziehen Manageristen auch weitere Mitläufer an, die gerne an ihrem Kuchen parasitär mitnaschen. Neben Lobbyisten und Beratern, bei denen man die notwendige „Expertise“ für fragwürdige Entscheidungen bestellen kann, sind da vor allem große Teile der klassischen Medien zu nennen, also die großen Zeitungen sowie die öffentlichen Radio- und TV-Anstalten. Sie finanzieren sich ja auch weitestgehend durch Werbung für „mammonistische“ Unternehmen; und wo Schaltstellen in ihrem Bereich politisch zu besetzen sind, werden sich Mammons Netzwerke durchsetzen. Konkret erkennt man diese Medien, wenn man der Frage nachgeht, wie ernsthaft sie die Suche nach Alternativen zu einer „Mammon-Politik“ betreiben. Blättert man etwa in den großen Wirtschaftszeitungen, so dominiert dort die Berichterstattung über Großunternehmen – obwohl Beschäftigung und Wertschöpfung bei ihnen insgesamt deutlich geringer ist als in den Klein- und Mittelunterneh-men (KMU). Ähnlich die Behandlung alternativer Wirtschaftsformen, über die man – wenn überhaupt – nur im Unterton des Exotisch-Irrelevanten oder „Spinnerten“ berichtet, ohne Rücksicht auf die aus diesem Bereich kommende Dynamik.

Die Manageristen könnten dem Mammon nicht so erfolgreich zuarbeiten, hätten sie nicht die Möglichkeit, ihren Egoismus hinter einer dichten Nebelwand zu verbergen. Es ist das die Komplexität der Fragen, die heute in Wirtschaft und Politik zu entscheiden sind: Denn schon mathematisch ist klar, dass die Komplexität dieser Dinge viel rascher zunimmt als die auf dem Spiel stehenden Geldsummen. Mit anderen Worten: je mehr Geld involviert ist, desto unübersichtlicher wird die Situation, und desto schwieriger wird es für die Öffentlichkeit, die Unmoral egoistischer Praktiken aufzudecken. Egal, ob diese Komplexität vorsätzlich aufgebauscht oder die natürliche Folge „normaler“ Entwicklungen ist, sie ist eine der Hauptursachen für die vielen Maßlosigkeiten und Fehlentscheidungen unserer Zeit – ein Phänomen, das in diesem Buch noch genauer besprochen werden soll.

Mit der Komplexität eng verbunden ist eine weitere Waffe der „Mammonisten“, und zwar die emotionale Verunsicherung ihrer Kritiker durch Panik-Mache. Nicht nur, dass sie keine Alternative zu ihren Problemlösungen kennen wollen, behaupten sie auch gerne, dass bei Ablehnung ihrer Vorschläge das große Chaos ausbrechen werde. Sich diesem gezielt eingesetzten Druck entziehen zu wollen, ist dann auch „teuflisch schwer“.

Aber wie gesagt, ist nicht jede Komplexität vermeidbar, und deshalb sollte man weder die Manageristen und ihre Mitläufer noch ihre Tätigkeitsbereiche in Bausch und Bogen verurteilen. So wie heute jede Gesellschaft nicht auf die Finanzwirtschaft und effiziente Führungsstäbe verzichten kann, so sind ja nicht wenige Manageristen „nebenbei“ auch höchst uneigennützig tätig: Den meisten dämmert ja auch durchaus die soziale Unverträglichkeit ihres Egoismus, nur fehlt ihnen entweder der Mut zum Ausstieg, oder sie finden – wie die meisten Mitläufer – eben wegen der Komplexität der Dinge keine Alternative. Diese Relativierung ist sicher notwendig, und gerade deshalb spielt das Feindbild des Mammon eine wichtige Rolle: Es sollte die Diskussion der dahinter stehenden Missstände erleichtern, gleichzeitig aber Pauschalurteile über konkrete Menschen vermeiden. Daher: Hier der teuflische Un-Geist – dort die Menschen, die ihm mehr oder weniger stark auf den Leim gegangen sind. Hoffentlich bedenken diese Menschen zu-mindest eines: Mammon ist dort am stärksten, wo man nicht an seine Existenz glaubt – denn wie in Hofmannsthals Jedermann zappeln sie dann schon als seine Hampelmänner.

Kurz und gut, was auch immer Mammons Natur sein mag, ich sehe in ihm den gemeinsamen Nenner für die maßlose Übertreibung guter Ideen, die sich alle auf die Aufklärung berufen. Das wirft freilich die Frage auf, ob es nicht auch gute Ideen gibt, die bisher viel zu wenig Beachtung gefunden haben; eine solche Idee soll im nächsten Kapitel diskutiert werden.

 

Der Geist der Verbundenheit
Mutation der Menschheit?

Fulgor ist das lateinische Wort für Blitz, und so erklärte der große Evolutionsforscher Konrad Lorenz mit dem Begriff der Fulguration den “blitzartigen” Fortpflanzungserfolg einer Spezies: In kleinen Mutationen verändern sich allmählich mehrere Eigenschaften einer Spezies unabhängig voneinander bis zu dem Punkt, an dem „auf einmal“ ihre Verbindung sinnvoll wird; und eine bisher nicht vorhandene Eigenschaft entstehen lässt. Die Spezies verfügt damit “blitzartig” – wenn auch nur im Zeit-Maßstab der biologischen Evolution – über einen spektakulären Vorteil gegenüber vergleichbaren Artgenossen, rückblickend wird sie damit „sprunghaft“ eine deutlich höhere Entwicklungsstufe erreicht haben.

Auch in der Menschheitsgeschichte hat es offenbar mehrere solche Fulgurationen gegeben: Der Übergang des Steinzeit- Menschen vom Jäger und Sammler zum Viehzüchter; dann zum Ackerbauer und weiter zum Industrie-Betreiber; schließlich zum Teilnehmer der Informationsgesellschaft – all diese Übergänge sind erfolgt, als der Druck aus überhöhter Bevölkerungsdichte sowie unzulänglicher Ressourcen unerträglich wurde, der „drohende Weltuntergang“ aber mehr oder weniger „plötzlich“ durch eine neue, wesentlich effizientere und umweltverträgliche Form menschlicher Zusammenarbeit abgewendet werden konnte.

Heute stehen wir in einer ähnlichen Situation: Weil wir wissen, dass unsere globalisierte Wachstumsgesellschaft bereits in neun Monaten verbraucht, was auf unserem Planeten nur im Laufe eines ganzen Jahres nachwachsen kann, ist uns zwar bewusst, dass wir wirklich ernsthaft wieder Qualität vor Quantität stellen müssen. Doch reichen die bisher gehandhabten gesellschaftlichen Mittel nicht aus, dies mit der notwendigen Konsequenz zu tun.

Tatsächlich ist ein baldiges Ende unserer ganzen Spezies in Reichweite – Geschichte ist offen, und die technischen Möglichkeiten für kollektiven Selbstmord sind vorhanden. Aber schon in den 1960er Jahren hat der französische Politologe und Germanist Pierre Bertaux eine unmitelbar bevorstehende Fulguration angekündigt, nannte sie jedoch (für Genetiker leicht missverständlich) „Mutation der Menschheit“ ; so war er überzeugt, dass die zahlreichen exponentiellen Kurven des Bevölkerungszuwachses, des Energie- und Rohstoffverbrauchs, aber auch des technischen Fortschritts auf einen Punkt zusteuern, der „so oder so“ als Wendepunkt menschlicher Entwicklungsgeschichte angesehen werden müsse. Der Schnittpunkt dieser Kurven könne bei einer Wende zum Guten nur mit einer gesellschaftlichen „Mutation“ des Menschen überschritten werden.

Es wäre also durchaus der Druck für eine menschliche Fulguration vorhanden, aber was sind denn die heute schon vorhandenen Eigenschaften unserer Spezies, die sich „unabhängig voneinander“ bis zu dem Punkt ihrer „blitzartigen“ Verbindung entwickeln sollten? Meiner Überzeugung nach sind das zunächst zwei Dinge: zum einen die von den Naturwissenschaften ausgehende Wieder-entdeckung von dem, was man wohl den „Geist der Verbundenheit“ nennen sollte; und zum anderen die Vollendung der Informationsgesellschaft mit einer völligen Neuordnung und Beschleunigung gesellschaftlicher Kommunikation. In der Folge sollte sich eine konkrete Handlungs-Praxis durchsetzen, womit die Fulguration abgeschlossen wäre. Was die Informationsgesellschaft anbelangt, so sollen einige markante Eigenschaften hier noch später diskutiert werden, darunter ihre besondere Stärkung des Lokalen. An dieser Stelle soll aber vor allem dieser „Geist der Verbundenheit“ besprochen werden, steht er doch im klaren Widerspruch zum heutigen Mainstream des politischen Diskurses.

 

Quantenphysik als Türöffner des Geistes

Wohl kaum ein Bereich der Wissenschaft hat das Verständnis der Trennung von Geist und Materie so sehr verändert wie die Quantenmechanik. Diese Trennung wurde von den alten Griechen erfunden und hat zwar die Effizienz der Alltags-Vernunft gewaltig gesteigert; der damit in die Welt gesetzte Materialismus hat aber auch – zunächst wohl unbewusst – die Bahn für grenzenlosen Egoismus freigemacht. Die Quantenmechanik wurde um 1930 von Physikern wie Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger aus schon etwas früher entwickelten physikalischen Erkenntnissen der Atom-Physik abgeleitet. Ihr Blick in die subatomare Welt hat das Verständnis von Materie völlig über den Haufen geworfen: So haben etwa die um den Atomkern kreisenden Elektronen einmal die Eigenschaft von Teilchen, dann wieder von Wellen, entziehen sich aber mal auch ganz der Beobachtung, sie sind dann also „nicht da“; und eben diese Beobachtung beeinflusst das zu beobachtende Phänomen in physikalischer Weise – wie hier überhaupt der Ausgang eines Experiments nicht eindeutig durch die Anfangswerte festgelegt werden kann, es lassen sich vielfach nur Aussagen über Wahrscheinlichkeiten machen, „alles ist Prozess“.

Ein ganz besonderes Phänomen der Quantenmechanik – von Albert Einstein noch als “spukhaft” bezeichnet – ist die Verschränkung. Demnach können in einem Quantensystem zwei oder mehrere Teilchen eine “nichtlokale” Verbindung eingehen, in der sich bestimmte Eigenschaften jeweils über größere Distanzen hinweg zwar in unvorhersehbarer Weise verändern, dies aber völlig aufeinander abgestimmt (korreliert) und absolut gleichzeitig; es bestehen da also zwischen den messbaren Eigenschaften der Systeme Beziehungen, die in der klassischen Physik und auch in klassischen naturphilosophischen Auffassungen nicht angenommen , ja sogar völlig ausgeschlossen wurden. Was die Distanz zwischen den verschränkten Teilchen angeht, so nahm man bisher eine Höchstgrenze von etwa 10 km an; im Rahmen des ESA-Projekts (General Study Programme) wurde allerdings gezeigt, dass diese Verschränkung unter Ausnutzung einer neuartigen Kodierung auch über eine Entfernung von 144 km nachgewiesen werden kann.

So resümiert dann auch der Physiker und Friedensforscher Hans Peter Dürr: „Im Grunde gibt es Materie gar nicht. Jedenfalls nicht im geläufigen Sinne. Es gibt nur ein Beziehungsgefüge, ständigen Wandel, Lebendigkeit. Wir tun uns schwer, uns dies vorzustellen. Primär existiert nur Zusammenhang, das Verbindende ohne materielle Grundlage. Wir könnten es auch Geist nennen – … wo sich (in der Quantenmechanik, Anm. Breisky) Teilchen wie Wellen und Wellen wie Teilchen verhalten, verweist diese Unschärfe auf den Ursprung alles Lebendigen – auf einen zugrunde liegenden universellen Code, der nichts anderes ist als Information. Diese Theorie (…) legt nicht weniger als ein neues Weltbild nahe. Sich darauf einzulassen ist gewiss nicht einfach – aber wenn wir es tun, werden wir ganz neue Möglichkeiten entdecken, mit unserem Planeten umzugehen.”
Die Schlussfolgerungen, die daraus für unser gesamtes Verständnis von Natur, Mensch und Geist zu ziehen sind, können bis heute nur ansatzweise erahnt werden, vieles dürfte auch weiterhin unverständlich bleiben. Als die wohl wesentlichste Grunderkenntnis der Quantenmechanik lässt sich immerhin feststellen: Weil Materie mehr Geist als sonst etwas ist, muss nicht nur die materialistische Reduktion von Geist als das Produkt chemophysikalischer Prozesse aufgegeben werden; auch die Vorstellung von den getrennten Welten der Materie und des Geistes ist nicht länger aufrecht zu halten – alles ist untrennbarer Teil des Ganzen, und Geist weht von den kleinsten Teilchen überall hin!

 

Kooperative Intelligenz

Freilich hilft diese Einsicht nur weiter, wenn man Geist mehr zutraut als den physikalischen Zusammenhalt von Atomen; bzw. anders gefragt: Kann man nachweisen, dass der Geist der Quantenmechanik auch in der Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen eine Rolle spielt? Erstaunlicherweise scheint auch dieser Nachweis zumindest auf mathematischer Ebene geglückt zu sein. Der Mathematiker, theoretische Biologe und Harvard-Professor Martin A. Nowak hat in seinem Buch „Kooperative Intelligenz“ gezeigt, dass Geschöpfe jeder Spezies – auch solche niedrigster biologischer Entwicklungsstufe – Kooperation betreiben, um überleben zu können. In der menschlichen Gesellschaft ist Kooperation sogar allgegenwärtig; sie beschränkt sich dabei nicht darauf, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten, vielmehr veranlasst sie selbst potenzielle Konkurrenten zu gegenseitiger Hilfe.

Nowak vertieft dabei spieltheoretische Berechnungen an Hand des klassischen Gefangenen-Dilemmas und findet dazu in empirischen Versuchen die Bestätigung. Demnach spielt der egoistische Wettbewerb als Grundlage von Charles Darwins Selektionsprinzip tatsächlich eine wichtige Rolle in der biologischen Evolution und ist auch weiterhin unverzichtbar; dies vor allem in größeren und „gut durchmischten Populationen“, in der die Individuen eher zufällig und unregelmäßig aufeinander treffen – also in einem von Anonymität geprägten Umfeld. Anders jedoch bei Populationen, die soweit strukturiert sind, dass zwischen einzelnen ihrer Individuen häufigere Kontakte stattfinden. Soferne ihre Mitglieder Verhaltensmuster wieder erkennen können, wird sich dort Kooperation bilden und neben dem Konkurrenz-Prinzip als Werkzeug der Selektion gut behaupten. Das scheint aus der traditionellen darwinistischen Sicht widersinnig zu sein, schadet doch ein Wettbewerber, der einen anderen unterstützt, seiner eigenen Wettbewerbsfähigkeit. Trotzdem findet man dieses Prinzip bei den Genen, den einzelnen Organismen, dann auch bei der Sprache oder den komplexen sozialen Verhaltensweisen; es kann somit als die konstruktive Seite der Evolution gelten, ja Kooperation ist sogar ihre „Chefarchitektin“.

Für Nowak gibt es fünf Mechanismen der Kooperation. Ihre wohl wichtigste – die „indirekte Reziprozität“ – fußt auf Reputation; während Kooperation in direkter Reziprozität auf eigenen Erfahrungen mit einem anderen beruhen – „wie du mir, so ich dir“ – berücksichtigt ihre indirekte Variante zusätzlich Informationen über die Erfahrungen anderer; ganz nach dem Satz des Lukas-Evangeliums „Gebt, so wird euch gegeben“ führt der Ruf einer Person kooperativ zu sein dazu, dass andere Personen mit ihr gerne zusammenarbeiten und auch bereit sind, ihrerseits Vorleistungen an diese Person zu erbringen. Anhand von Gerede, Klatsch und Tratsch, aber auch über Internet eingeholte Konsumenten-Rezensionen können wir die Reputation anderer einschätzen, uns von ihnen ein besseres oder schlechteres Bild machen und entscheiden, wie wir ihnen begegnen. Es ist dies die Grundlage des modernen Geschäftsverkehrs, wo hoch spezialisierte Einzelne ganz von einander abhängig sind; fördert aber auch die Bildung von Netzwerken. Der Punkt dabei ist, dass man sich schon mit kleinen Akten der Großzügigkeit eine Reputation aufbauen kann, die sehr viel mehr wert ist als das, was sie einem gekostet hat –vorausgesetzt, dass diese Reputation auch hinreichend bekannt ist. Sobald man sich dessen bewusst ist, bringt die Reputation sogar Vorwirkungen mit sich: Allein die Möglichkeit, dass uns jemand sehen und beurteilen könnte, beeinflusst unser Verhalten. So erklärt letztlich „indirekte Reziprozität“ auch die Goldene Regel, die quer durch alle Kulturen und Religionen gilt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füge auch keinem anderen zu“.

Wie gesagt, soll die Reputation nicht nur inhaltlich gut sondern auch gut bekannt sein, um Kooperation zu fördern. Das bietet die Möglichkeit, die Bekanntheit einer Reputation über die Auswahl und Förderung gesellschaftlicher Strukturen zu verbessern – und klarerweise fördern da überschaubare Strukturen die Kooperation ganz besonders. Weil sich Überschaubarkeit durchaus steuern lässt, eröffnet diese Form des Kooperations-Prinzips auch der Politik neue Wege.

In Fortsetzung dieses Ansatzes – aber ganz gegen den Sozial-Darwinismus, der bisher hauptsächlich aus ethischen Gründen abgelehnt wurde – stellt Nowak die Wirksamkeit der indirekten Reziprozität auch auf das Verhältnis zwischen konkurrierenden Gruppen fest. Auch hier kann dieser Mechanismus die Selektion stark beeinflussen. Ihr gleichzeitiges Einwirken auf Individuen und Gruppe wäre als Auslese auf zwei Ebenen zu sehen. Und weil dieser Mechanismus sogar auf Gruppen von Gruppen einwirken kann – wo die Kooperation geradezu potenziert wird – spricht Nowak hier von einer „Multilevel-Selektion“. Kooperation auf dieser Basis funktioniert dort gut, wo viele kleine Gruppen existieren, und weniger gut, wo es nur wenige große Gruppen gibt.

Rückfälle in mehr oder weniger krassen Egoismus sind natürlich immer möglich, vielleicht auch insgesamt heilsam. Was selbst Novak erstaunt ist die aus seinen Arbeiten gewonnene Erkenntnis, dass die auf direkter oder indirek-ter Reziprozität bauenden Strategien auch andere Eigenschaften besitzen müssen, um solche Rückfälle verhindern zu können und letztlich erfolgreich zu sein. Durchaus im Einklang mit den Lehren der Weltreligionen müssen sie hoffnungsfroh sein: Neuen Kontakten soll man anfangs mit der Zuversicht begegnen, eine Basis für Kooperation schaffen zu können, wenn man selbst kooperativ ist; großzügig sein, indem man kurzsichtige Perspektiven tunlichst vermeidet; und nachsichtig sein: wenn jemand die Kooperation ausschlägt, soll man sich trotzdem wieder um eine kooperative Beziehung ernsthaft bemühen.

 

Außensteuerung oder Innensteuerung?

Natürlich wurde Kooperation und Hilfsbereitschaft immer schon geschätzt. Aber in der Folge der Trennung von Materie und Geist, in der sich das individuelle Gewinnstre-ben mehr und mehr durchgesetzt hat, wurde diese „Selbstlosigkeit“ als nette Fleißaufgabe in die Welt des Geistes abgeschoben. Dort mag sie vielleicht – wenn man so etwas wie eine transzendente Gerechtigkeit nicht von vorneherein ausschließt – Belohnung finden, in der Welt der „harten Fakten“ konnte man ihr aber keine Relevanz zugestehen. Denn wo Verbindungen materieller Art fehlen und solche geistiger Art ausgeschlossen werden, ist purer Egoismus die logische Konsequenz. Damit ist es jetzt vorbei: Die Quantenmechanik sollte uns schon von den Naturwissenschaften her zur Wiedervereinigung der materiellen mit der geistigen Welt zwingen; und wie Nowak gezeigt hat, belegen eben diese Naturwissenschaften, wie absolut sinnvoll diese Selbstlosigkeit sein kann.
Diese Einsicht sollte eine radikale Umkehr in unserem Verständnis von sozialen Steuerungs-Systemen herbeiführen. Sowohl bei der biologischen Evolution als auch im Verständnis von Marktwirtschaft und Demokratie hat man ja bisher einem System vertraut, das ich Außensteuerung nennen möchte: Fortschritt und Wohlergehen der Allgemeinheit erlaubt, ja fordert, dass purer Egoismus der Individuen sich im freien Wettbewerb so lange frei entfaltet, bis er auf äußere Widerstände stößt:

In der Biologie findet laut Darwin eine unerbittliche Selektion statt (survival of the fittest); frisch mutierte Gene pflanzen sich solange in nachfolgende Generationen fort, bis sie auf Individuen mit besseren Genen stoßen;

In der Marktwirtschaft wird das Profitstreben des einzelnen Unternehmers gepriesen; und das, was nach dem schottischen Moral-Philosophen Adam Smith die ausgleichende „unsichtbare Hand“ sein soll, die letztlich den allgemeinen Wohlstand herbeiführt, ist der bessere Preis des Konkurrenten, der den Unternehmer zu „marktkonformen“ Handeln zwingt;

In der heute dominierenden Massen-Demokratie können die Gewählten solange ihren Eigeninteressen frönen, bis ihnen bei der nächsten Wahl das Vertrauen entzogen wird.

Theoretisch gesehen folgt diese Außensteuerung dem Prinzip der Fehler-Korrektur und funktioniert zwar spät, aber letztlich doch einigermaßen zuverlässig; spät deshalb, weil die Korrektur der eigenen Position erst als Reaktion auf die Haltung der Außenwelt erfolgt. Kurz: ich drehe am Steuerrad, weil ich erst durch das Handeln der anderen merke, dass ich einen Fehler gemacht habe – und habe nun Nachteile, die ich mir durch umsichtigeres Verhalten erspart hätte.

In der Praxis von Politik und Wirtschaft erfolgt die Außensteuerung nicht nur spät, sondern sehr oft viel zu spät; wenn nämlich die anderen mein eigenes Handeln falsch interpretieren, selber falsch reagieren oder aber ihre Reaktion von mir wieder falsch interpretiert wird. Das hat im Wesentlichen zwei Ursachen:

Allgemeines Gleichgewicht durch Wettbewerbs-Denken setzt irrigerweise voraus, dass der Mensch seinem wirtschaftlichen oder politischen Eigennutz immer „vernünftig“ und daher kalkulierbar folgt; das tut der Mensch aber – wenn überhaupt – nur als anonyme Kategorie, nicht aber als Individuum, das sich oft irrt und gar nicht so selten wirklich selbstlos handelt!

Wann immer ein Mensch sich politische oder wirtschaftliche Macht errungen hat und diese Macht im freien Wettbewerb zu schwinden droht, wird dieser Mensch versuchen, die Freiheit des Wettbewerbs einzuschränken und damit seine ausgleichende Funktion zu unterlaufen. So wird der bedrohte Politiker nicht nur seine Klientel um verbotene Wahlkampf-Spenden ersuchen, er wird sie auch mit wettbewerbswidrigen Subventionen schützen wollen; und der gleichfalls bedrängte Unternehmer wird die Politik um protektionistische Markteingriffe bitten – wie überhaupt die Verschränkung zwischen Politik und Wirtschaft immer intensiver wird, je mächtiger die Akteure sind. Ob „Unvernunft“ oder Macht-Missbrauch, die übrigen Teilnehmer im Wettbewerb bekommen damit falsche, weil wettbewerbswidrige oder zumindest krass zeitverzögerte Signale.

Die Innensteuerung sagt dem Menschen hingegen, dass in einem strukturierten Umfeld seine scheinbar selbstlose Kooperation sowohl seinem Eigennutz dient – wie gesagt, sollte da der Nutzen größer sein als die Kosten – als auch zu Fortschritt und Wohlergehen der Allgemeinheit führt; es wird dort also freiwillig kooperiert werden. Logischerweise sollte in konkreten Situationen die Alternative somit nicht Außensteuerung gegen Innensteuerung lauten. Vielmehr muss gefragt werden, ob das Umfeld hinreichend strukturiert ist, um erfolgreiche Innensteuerung zu erlauben; oder ob das Umfeld so anonym und amorph ist, um nur noch hoffen zu können, dass aus einem darwinistischen „jeder-gegen-jeden“ mit Zeit-Verzögerung und hohen Mehrkosten letztlich doch noch ein einigermaßen konstruktives Ergebnis folgt.

 

Vom Geist der Verbundenheit

Wenn Hans Peter Dürr schon die Kraft „nichtlokaler“ Verschränkung der Quantenmechanik einer allumfassenden Geisteswelt zuordnet, dann wird man spätestens im Moment, wo die Vorteile der Kooperation zweifelsfrei ins Bewusstsein der Menschen treten, von einem „Geist der Verbundenheit“ sprechen können. Naturgesetzlich gesehen wird dieser Geist auf die Prinzipien der Selbstorganisation bauen können, ist also im Ergebnis das genaue Gegenteil zum Mammon.

Die Phase dieses „Ins-Bewusstsein-Tretens“ ist schon längst angebrochen. Schon im ausgehenden 20. Jahrhundert mehrten sich die „Aussteiger“, die weder an Adam Smiths „unsichtbare Hand“ noch an Darwins Konkurrenz-Prinzip als der Weisheit letztem Schluss glauben konnten. Das waren Total-Verweigerer wie Hippies und die vielen Fans mystischer Gurus asiatischer Provenienz, später dann der von Amitai Eztioni beschriebene Kommunitarismus und viele ähnliche zivilgesellschaftliche Initiativen, die von Selbsthilfegruppen über regional organisierte Bio-Bewegungen bis hin zu Tauschkreisen reichen mochten. Wie schon angedeutet, kann man ähnliches seit der 2008 schlagend gewordenen Finanz- und Wirtschaftskrise vor allem in stark betroffenen Gebieten beobachten; etwa in Südeuropa, wo mehr und mehr Arbeitslose sich zunächst notgedrungen „alternativen“ Kooperationsmodellen zuwandten und nun soweit Gefallen daran finden, dass daraus eine gewisse Dynamik entsteht. Die größte Steigerung selbstloser Kooperation hat jedoch das Internet gebracht; hier findet man nicht nur große Organisationen, die ihre Dienste unentgeltlich zur Verfügung stellen – als Beispiele seien Wikipedia, Avaaz und Linux genannt – täglich verfassen Millionen „kleiner“ Internet-Nutzer Kunden-Rezensionen für bereits abgeschlossene Leistungen oder beantworten mit ihrem Fachwissen Hilfsersuchen aus dem Publikum.

Ich bin überzeugt, dass diese bisher unreflektiert gebliebene Kooperations-Bereitschaft um ein Vielfaches zunehmen wird, sobald sie im öffentlichen Bewusstsein die gebührende Anerkennung findet; denn damit nützt sie über ihre Reputation – wie Nowak gezeigt hat – nicht nur sich selbst, sie leistet nun in einem „Geist der Verbundenheit“ auch höherwertige Beiträge zum Gemeinwohl. Über Nowaks „Multilevel-Selektion“ sollte dieser Geist auch in Gruppen von Gruppen wirksam werden, womit das Kooperations-Prinzip eine sozial-darwinistische Wirkung erzeugen würde – etwas, was ansatzmäßig bereits in der EU als Friedensprojekt geschieht.

Die Aussicht, damit das ungeliebte darwinistische Konkurrenz-Denken überwinden zu können, wird von den meisten Menschen sicherlich als Befreiungsschlag empfunden, und daher dürfte sich dieser „Geist der Verbundenheit“ sogar ziemlich „blitzartig“ verbreiten – die nächste „Mutation der Menschheit“ könnte also durchaus als eine Lorenz´sche Fulguration erfolgen.

Wie schon mehrfach betont, ist all das jedoch nur in einem strukturierten Umfeld möglich; was sind nun die Bedingungen einer solchen Struktur? Zentrale Voraussetzung ist wohl, dass die Vorleistung des Einzelnen nicht in Anonymität versinken darf, die gesamte Kooperation daher in überschaubarem Rahmen zu erfolgen hat. Diese Überschaubarkeit ist einerseits objektiv an geographische Nähe geknüpft – auch die Verschränkung der Quantenmechanik ist offenbar distanzabhängig! Andererseits muss Überschaubarkeit auch subjektiv gesichert sein: Der Einzelne braucht zumindest ein umfassendes Grobverständnis von dem, was in seinem Umfeld geschieht, und die entsprechenden Informationen sollten daher auch möglichst einfach gehalten sein, also Komplexität tunlichst meiden.

Wenn somit Kooperation im Geist der Verbundenheit wieder gleichberechtigt an die Seite des Wettbewerbs-Prinzips tritt, so entspricht das einer „Fulguration“ mit enormen Auswirkungen – richtig angewandt wird man sogar von einem Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte sprechen können. Die Voraussetzungen dafür sind meiner Überzeugung nach dort am besten erfüllt, wo man sich an das Menschliche Maß hält. Von diesem Maß kann man widerum auf die optimale Struktur der Gesellschaft schließen, die für Nowak Voraussetzung der Kooperation ist. Und für das damit anbrechende Zeitalter der Verbundenheit ergibt sich damit schließlich die konkrete Handlungs-Praxis:

so viel Kooperation wie möglich, soviel Konkurrenz wie nötig;
so viel Überschaubarkeit wie möglich, so viel Komplexität wie nötig;
so viel Dörflichkeit wie möglich, so viel Globalisierung wie nötig.

Das zu verdeutlichen ist zentrales Anliegen dieses Buches.

 

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