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Ein biologischer Exkurs: die Vernunft und ihr Ceteris-Paribus-Syndrom

George Bernard Shaw hat behauptet, das lange gesuchte missing link zwischen Affen und dem Homo sapiens gefunden zu haben: das sind wir Menschen. Wenn Shaw damit gemeint hat, der Mensch soll sich nicht für allzu sapiens halten – also weise, vernünftig – dann hätte er in Zeiten der Globalisierung jede Menge Belege dafür gefunden. Als jüngstes und liebstes Kind der Aufklärung setzt die Globalisierung ja auf ein durch und durch rationales Verhalten des homo oeconomicus – und gerade auf der globalen Bühne geht dieses Vertrauen an den Realitäten der Menschennatur weit vorbei. Warum das so ist, soll hier kurz gezeigt werden.

Auf die Wurzel dieses Problems hat Konrad Lorenz aufmerksam gemacht: Am Höhepunkt des Kalten Krieges, als dank moderner Waffentechnik der nukleare Holocaust täglich vor der Tür zu stehen schien, zeigte er in seinem klassischen Buch “Das sogenannte Böse” , dass die biologische Evolution des Menschen über das Niveau der Altsteinzeit nicht hinausgekommen ist. So waren unsere Altvorderen noch in der Lage, das Spannungsverhältnis zwischen natürlicher Aggression und ihren angeborenen Hemm-Mechanismen zu beherrschen. Durch den technologischen Fortschritt wurde die buchstäbliche Schlagkraft der Aggression jedoch einseitig so gestärkt, dass diese Hemm-Mechanismen nun wirkungslos bleiben – nicht nur die Kriege wurden damit immer schrecklicher. Es hinkt also der „biologische Mensch“ heute seiner kulturellen Entwicklung hinterher und stolpert ständig in neue Probleme.

 

Der Wächter im Kopf – ein Exkurs in die Biologie

Vernunft gilt als die höchste Disziplin unseres Bewusstseins. Sie ist freilich nicht das einzige System der Informationsverarbeitung im Kopf – knapp unterhalb der Bewusstseinsschwelle gibt es da auch andere Systeme. So etwa das, was der Sozialpsychologe Ap Dijksterhuis in seinem Buch „Das kluge Unbewusste“ beschrieben hat, und das man den „Auto-Piloten“ im Kopf nennen könnte: Zielgerichtet koordiniert es unterhalb der Bewusstseinsschwelle komplexe Muskelbewegungen an Hand von Erfahrungs-Mustern; damit werden Routine-Aufgaben erledigt, etwa Atmen oder Gehen – aber auch Rad- oder Autofahren ent-lang gewohnter Routen. Noch wichtiger im Zusammenhang mit Komplexität ist das, was ich die „Wächter-Ebene“ nenne ; es ist die urtümlichste Form der Informationsverarbei-tung und sollte zunächst nur den Zeitpunkt für das „Ein- und Ausschalten“ der biologischen Urfunktionen bestim-men, also der „4 F“ feed, fight, flight und fuck. Konkret wird dort die Fülle ununterbrochen hereinkommender Sinneswahrnehmungen zunächst zu einer ganzheitlichen Vorstellung des Umfelds verdichtet; daraus wird dann – anhand bewährter Erfahrungsmuster – alles „Bemerkenswerte“ herausgefiltert und dem Bewusstsein als Impuls zum Handeln gemeldet.

Wie gesagt, ist die „Wächterebene“ evolutionsgeschichtlich sehr alt und findet sich ansatzweise schon bei den einzelligen Pantoffeltierchen. Mit fortschreitender Evolution konnten jedoch automatische Reaktionen auf Sinneswahrnehmungen nicht mehr genügen; das Individuum musste nun neben genetisch erworbenen Erfahrungsmustern auch individuell „gelernte“ Muster berücksichtigen. Weiters empfahl es sich nun auch, über die Handlungsimpulse des „Wächters“ prüfend zu „reflektieren“ – was zur Geburtsstunde von Begriffen, Sprache, Vernunft und wohl auch dem „Ich-Bewusstsein“ wurde.

Vernunft war – und ist auch heute – somit nur so etwas wie zusätzliche Software, die noch vor der Altsteinzeit in ein noch älteres System eingebaut wurde; sie sollte die „alte“ Software der ganzheitlichen Informationsverarbeitung nun durch lineare Schritt-für-Schritt-Folgen ergänzen, aber keineswegs ersetzen.

Die biologischen Grenzen der Vernunft erkennt man sogleich, wenn man sie mit dem Seh-Sinn und seiner Gabe des Fokussierens vergleicht: Im Fokus können wir nur ganz, ganz wenige Winkelgrade unseres Blickfeldes behalten. Um den Fokus auf andere Objekte in unserem Blickfeld zu lenken, muss dort irgendetwas Bemerkenswertes geschehen – meist sind das Bewegungen am Rande, die uns veranlassen, dort „näher hinzuschauen“. Aber auch das Blickfeld unser Augen umfasst nicht einmal 180 Grad; und um etwas optisch zu erfassen, was hinter dem Kopf liegt, müssen wir erst durch andere Sinne – etwa den Hör- oder Geruchsinn – sensibilisiert und zu einer Änderung des Blickfeldes durch eine Kopfdrehung veranlasst werden. Wir sehen also: was außerhalb des Fokus des Auges – oder der Vernunft – liegt, muss mit anderen Mitteln erfasst werden – also mit etwas, das selbst nicht wieder optischer Fokus ist. Mit dem Aufmerksamkeits-Spektrum der Vernunft verhält es sich eben-so – womit schon ihr wesentlicher Geburtsfehler angesprochen ist.

Denn das Zusammenspiel von Wächter-Ebene und Vernunft kann man mit einem gut eingespielten Einbrecher-Duo vergleichen: Weil der eine ständig für seinen Partner Schmiere steht und neue Chancen auskundschaftet – also immer „ganzheitlich aufpasst“ – kann sich der andere auf die eigentliche Arbeit an Türschlössern und Mauer- Safes konzentrieren. Wesentlich an der Arbeitsteilung des „Duos“ ist, dass auch das Schweigen des „Wächters“ Resultat wichtiger Arbeit ist: Er leistet Schwerarbeit, denn wenn er dem „Spezialisten“ (und dem „Auto-Piloten“ als seinem Assis-tenten) auch nur wenige Meldungen bzw. Handlungs-Impulse weitergibt, so hat er doch eine ungeheure Vielzahl von Eindrücken geprüft und als „nicht bemerkenswert“ abgelegt. Also erst die Gewissheit, dass tausende mögliche Gefahren – und Gewinn-Chancen! – mit negativem Resultat geprüft wurden, erlaubt uns davon auszugehen, dass bis zum ausdrücklichen Widerruf durch seinen „Wächter“ „die Luft rein ist“; hier gilt also das berühmte „no news is good news“. Während ich beispielsweise jetzt im Café diese Zeilen in den Computer klopfe, registriert mein „Wächter“: Kein Knistern im Gebälk kündet vom drohenden Einsturz des Hauses, keiner der übrigen Gäste bedroht mich oder macht mir das Territorium meines Tisches streitig, keine Appetit anregenden Düfte sind zu verspüren, und trotz einiger fescher Weiber im Saal (ja, so animalisch redet er mit mir) besteht kein unmittelbarer Handlungsbedarf.

 

Der technische Fortschritt und sein ganzheitlicher Flankenschutz

Mag auch die Arbeitsteilung zwischen Wächtern und Spezialisten in den Köpfen unserer steinzeitlichen Altvorderen das Ergebnis einer höchst komplexen Evolutionsgeschichte sein, so haben sich jedenfalls auf beiden Ebenen nicht mehr Kapazitäten zur Informations-Verarbeitung entwickelt, als es den damaligen Lebensumständen angemessen war. Wie überhaupt unser biologischer Erkenntnisapparat seit grauester Vorzeit keine Weiterentwicklung erfahren hat. Damals hat sich alles „Bemerkenswerte“ innerhalb der Reichweite unserer fünf Sinne abgespielt, heute reichen wir aber mit Hilfe der Technik weit darüber hinaus. Das bringt aber jenseits des „Gesichtskreises“ gleich mehrere Probleme mit sich:

  • Man darf sich nicht mehr darauf verlassen, vom „Wächter“ im Kopf über alles „Bemerkenswerte“ informiert zu werden. Schlimmer noch, die alte Gewohnheit ein „no news“ des Wächters als bestätigende „good news“ eines unbedenklichen Um-welt-Befunds werten zu dürfen, stimmt nicht mehr – „no news“ ist zu simpler Ignoranz verkümmert. Daher müsste sich der „Spezialist“ nun ständig und sehr bewusst nach dem „ceteris paribus“ erkundigen, also dem Weitergelten der Annahme, dass sein Umfeld unverändert oder zumindest unbedenklich geblieben ist – und weil das eine Sisyphus-Arbeit ist, entgeht ihm erfahrungsgemäß sehr viel!
  • Diese bewussten Überprüfungen spießen sich schon an den unterschiedlichen Kapazitäten der Informationsverarbeitung: In Bytes pro Sekunde gemessen, kann unser „Wächter“ über die fünf Sinne rund einhundert Millionen mehr Information aufnehmen und verarbeiten als der „Spezialist“ mit Bewusstsein und Vernunft. Diese Unterschiede entsprechen zwar den Gegebenheiten der Altsteinzeit, nicht aber den Herausforderungen einer globalisierten Welt. Zusätzlich plagt uns ja – dank neuer Medien und Werbung – eine gewaltige Informationsflut. Der Erfolg ist: unser Verstand ist überfordert, wir sind „auf nix mehr neugierig“ – und verzichten daher öfter als uns gut tut auf die bewusste Prüfung unseres Umfelds.
  • Intellektuelle Erschöpfung bzw. Neugier-Schwund strafen uns auch aus einer anderen Richtung: zwar meldet der biologische „Wächter“ nach wie vor alles Bemerkenswerte aus der näheren Umgebung und gibt uns entsprechende Handlungs-Impulse; unser „Spezialist“ ist aber schon viel zu sehr erschöpft, um diese Impulse korrekt zu verarbeiten, d.h. sie unter Einsatz von Bewusstsein und Vernunft zu übernehmen, abzulehnen, abzuschwächen oder zu verstärken. So erklärt sich etwa die zunehmende Fremdenfeindlichkeit: Der biologische „Wächter“ meldet zwar wie eh und je das Eindringen offensichtlicher „Ausländer“ in die persönliche Sphäre und regt kämpferische Reaktionen an; für die vernünftige Ablehnung dieses instinktmäßigen Impulses durch den „Spezialisten“ fehlt aber die intellektuelle Energie – und der Ausländer bekommt nur die unreflektierten Impulse des „Wächters“ zu spüren.
  • Und schließlich neigen wir bei intellektueller Erschöpfung zu mehr Ängstlichkeit und Pessimismus. Das treibt uns zu einer oft übertriebenen Vorsicht – auch dies wohl ein Vermächtnis aus unserer Höhlenmenschen-Vergangenheit.

Aus diesen evolutionsgeschichtlichen Erfahrungen lassen sich einige Erfahrungssätze ableiten: –

  • Vernunft ist im Bewusstsein des Einzelnen nur die Spitze des Eisbergs, weil der Großteil der Informationen im Unbewussten verarbeitet wird; im Besonderen braucht bewusstes und vernünftiges Denken den Flankenschutz durch ein Maximum an unbewusster Umfeld-Kontrolle.
  • Um den gesamten Informations-Eisberg einigermaßen in Ordnung zu halten, ist Überschaubarkeit unverzichtbar. Sie ist dort gesichert, wo der einzelne Mensch nicht selbst aktiv nach allem „Bemerkenswerten“ suchen muss; sondern wo ihm dies „von selbst“ zugetragen wird.
  • Jenseits der Reichweite unserer fünf Sinne muss sich der Mensch in extrem mühsamer Weise um diesen Flankenschutz kümmern. Weil er das nur selten tut und in alter ganzheitlicher Gewohnheit no news weiterhin für good news hält, wird er regelmäßig Opfer des Ceteris-Paribus-Syndroms – die Ergebnisse vernünftigen Denkens stehen dann meist auf recht schwachen Füßen.

 

Die Krücken der Vernunft

Die Vernunft ist zweifellos ein wunderbarer Baukasten. Innerhalb des engen Bereichs, der in unserer fokussierten Aufmerksamkeit steht, kann man mit ihr die kühnsten geistigen Konstruktionen schaffen. Wie gesagt, ist ihr Dilemma jedoch die Biologie: Wie sichert sich die Vernunft gegen die vielen Gefahren und Gegen-Argumente, die außerhalb be-wusster Aufmerksamkeit liegen? Nur im Bereich der fünf Sinne besteht da eine ganzheitliche Kontrolle mit spontanen Warnungen. Und weil außerhalb des „Gesichtskreises“ nur die „teure“ Ebene der bewussten Reflexion funktioniert, sollte alles daran gesetzt werden, möglichst viele Arbeiten dort zu erledigen, wo buchstäblich unter unseren Augen die „billige“, aber räumlich gebundene Ebene der unreflektierten Ganzheitlichkeit zum Zuge kommt – kurz, wo Überschaubarkeit herrscht.

Zum Glück muss ein „Gesichtskreis“ im hier behandelten Zusammenhang nicht allzu wörtlich genommen werden. Denn nicht nur darf man meistens (aber nicht immer!) annehmen, dass die Rahmenbedingungen des „Gesichtskreises“ auch auf das nicht mehr einsehbare nähere (!) Umfeld projiziert werden dürfen, kann sich die Vernunft auch außerhalb des Gesichtskreises auf einige Krücken stützen, die ihm bei der Bewältigung des Ceteris-Paribus-Syndroms helfen: nämlich auf den sozialen Raum, eine Reihe ganzheitlicher Ordnungs-Systeme sowie die moderne Informations-Technologie. Der Reihe nach:

 

Der soziale Raum

Wer nach mehreren Monaten Abwesenheit in sein Dorf oder Stadtviertel zurückkommt, wundert sich oft, wie rasch er wieder völlig auf dem laufenden ist: mit ein, zwei Einkaufs-Runden beim Bäcker, Zeitungsverkäufer oder Metzger (aber kaum im anonymen Super-Markt) oder einem Besuch im Lieblings-Lokal hört man so viel „Dorf-Tratsch“, dass man über das laufende Geschehen im Ort schon fast so gut informiert ist, wie wenn man nie weg gewesen wäre. Im gewohnten „sozialen Raum“ schwirrt nämlich eine Unzahl von Informationen umher, die man auch ungefragt mitbekommt; sei es, dass man Zufallszeuge von Ereignissen ist, die einen nichts angehen; oder sei es, dass man persönlich bekannten Zeugen vertraut, die – gefragt oder ungefragt – über ihre eigenen Beobachtungen berichten. Ähnlich ist die Wirkung lokaler Medien: Was da an Informationen verbreitet wird, berührt meist Personen und Dinge, die auch aus eigener Anschauung bekannt sind – die Glaubwürdigkeit der Lokal-Meldung ist damit bereits weitgehend geprüft. Die Dichte neuer und alter, aber jedenfalls ortsbezogener Informationen wird somit in der Regel so groß sein, dass man sich jederzeit über sein weiteres Umfeld ein „Bild“ machen kann. In diesem Sinne verfügt wohl jeder Mensch über einen „sozialen Raum“, der überschaubar ist.

Der soziale Raum produziert also eine Informations-Dichte, die der unreflektierten „Wächter“-Arbeit des Gehirns sehr nahe kommt: Auch hier ist man in der Lage, die Unzahl von Informationen, die aus der Außenwelt hereinströmen, automatisch zu einem „Bild“ der unmittelbaren Umwelt zu vernetzen und daraus das „Bemerkenswerte“ herauszufiltern. Interessant ist, wie die Informations-Dichte mit zunehmender Entfernung vom engeren sozialen Raum rapide abnimmt und dann sogar ganz abreißt. Auch hier läuten keine Alarmglocken, wenn mit zunehmender Verdünnung des sozialen Raums seine ganzheitliche Wächter-Rolle immer schwächer wird und aus den „good news“ des Ausbleibens von Alarmmeldungen dann ziemlich plötzlich schlichtes Unwissen wird.

 

Ganzheitliche Ordnungs-Systeme

Warnungen – aber auch Inspirationen – einer ganz anderen Art können auch aus einer Welt ohne Orts-Bindung kommen. Die Vernunft hat schon bei unseren Ur-Altvorderen versucht, die Beschränkungen ihres engen Aufmerksamkeits-Fokus zu überwinden und Ordnung in den Eindruck einer chaotischen Welt zu bringen. Sie war dabei auf Unterstützung durch andere Ordnungs-Systeme angewiesen. Zwar stand dafür im unmittelbaren Umfeld der biologische „Wächter“ und später der soziale Raum bereit, doch konnte das bei komplexeren Aufgaben nicht genügen; zum umfassenden Verständnis der Umwelt musste auch ein Bezug zu einem möglichst umfassenden System des Welt-Verständnisses geschaffen werden, das die bruchstückhaften Erkenntnisse der Vernunft verbindet. In der frühen Menschheitsphase gab es dafür tatsächlich ein einheitliches Gedanken-System aus religiösen Vorstellungen und vielfältigem „weltlichen“ Erfahrungswissen, heute sind es weitgehend selbstständige Ordnungs-Systeme wie Religion und Moral, Ästhetik und Harmonie-Streben, weiters auch Geschichte und nachhaltige Tradition. Wesentlich an diesen Systemen ist ihre Unabhängigkeit von der Vernunft – nicht zu verwechseln mit Vernunft-Widrigkeit – sowie ihr Anspruch auf ganzheitliche Geltung.

An dieser Stelle ein paar Zeilen zur Religion als ganzheitlichem Hilfsmittel vernünftiger Erkenntnis: Sie bietet meiner Überzeugung nach die beste Orientierungshilfe, wo der Sinn ihrer Offenbarungstexte von Gläubigen „aufgeklärt“ interpretiert wird, also im Einklang mit Vernunft und den Herausforderungen der Gegenwart. So habe ich in meinem Buch „Der Kompass im Kopf“ gezeigt, dass alle Zehn Gebote, die Moses geoffenbart worden sind, auch unter Anlegung rein weltlicher Maßstäbe im nachhaltigen und zeitgemäßen Interesse von Mensch und Gesellschaft liegen. Interessant auch Tomas Sedlacek, der in seinem Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“ auf nachhaltig richtige Wirtschaftsregeln in uralten religiösen Texten verweist.

Zum Hilfsmittel vernünftiger Erkenntnis werden diese Systeme dort, wo man bereit ist, ein von der Vernunft abgesegnetes Vorhaben an Hand eines oder mehrerer dieser Ordnungs-Systeme zu überprüfen. Deckt sich das Vorhaben mit diesem System, so wird es das Vorhaben wesentlich stärken. Im umgekehrten Fall steht man vor der Frage: irrt die Vernunft oder das Ordnungs-System? Meist wird der Vernunft etwas außerhalb ihres Aufmerksamkeitsbereichs entgangen sein – wie man das etwa an der vielfachen Umwelt-Verschmutzung als Nebenwirkung des „vernünftigen“ technischen Fortschritts sieht. Wie auch immer, weil die angerufenen Ordnungs-Systeme sich in der Vergangenheit meist besser durchgesetzt haben, sollte mit ihren Warnungen vernünftigerweise so umgegangen werden, wie es auch im Rahmen der biologischen Evolution geschieht: Es liegt am Neuen zu beweisen, dass es besser ist als das Altbewährte. Das schließt ja keineswegs aus, Vernunft-Projekte gegen die klassischen Ordnungs-Systeme durchsetzen zu wollen – sie haben aber die Beweislast zu tragen!

 

Die neuen sozialen Medien

Zumindest auf den ersten Blick kann die Vernunft vom Druck der Orts-Gebundenheit befreit werden, und zwar durch Informations-Technologie (IT) und die darauf gestützten neuen sozialen Medien. Kein Zweifel, Dinge wie Facebook und Twitter haben in der kurzen Zeit ihres Bestehens schon außerordentlich viel bewegt, sind also wirklich ernst zu nehmen.

Vor allem Facebook hat viele Ähnlichkeiten mit dem sozialen Raum. Sein formaler Verzicht auf jede Ortsgebundenheit der „Freunde“ ist ein großer Vorteil gegenüber dem geographisch fixierten sozialen Raum. Ähnlich wie dieser bietet Facebook dem Netzwerk der „Freunde“ völlig unverbindlich eine geradezu unglaubliche Fülle an Informationen und erleichtert damit über alle Entfernungen hinweg die Pflege persönlicher Beziehungen (während auf den Hang der sozialen Medien zu bedenklichen Anti-Kampagnen bis hin zu shitstorms noch später eingegangen werden soll, können die häufigen Peinlichkeiten überzogener Selbstdarstellung in Facebook hier außer Acht bleiben, da sie mit unseren Themen nichts zu tun haben).

Mag die Informationsfülle von Facebook und ähnlichen Plattformen somit ganzheitliche Qualität erreichen, so hat das jedoch einen Haken: Im Gegensatz zum sozialen Raum, wo der Einzelne fast schon zwangsläufig eine breite Fülle verbaler wie nichtverbaler Informationen mitbekommt, muss er bei Facebook selbst aktiv werden, um etwas zu erfahren – und sei es auch nur durch Drücken einer Taste am Handy. Letztlich setzt das aber Neugier voraus, und wie schon gesagt, ist das heute ein ganz besonders kostbares Gut. Überhaupt ist Neugier das einziges Bindemittel zwischen den Facebook-Nutzern, und dieser Aspekt relativiert den Wert von Facebook ganz erheblich (so entscheidet ihr Vorhandensein auch darüber, ob Facebook mehr Ausdrucksmittel einer Person oder – wie wohl allgemein beabsichtigt sein sollte – auch zum Mittel der Verständigung mit Anderen wird).

So können Facebook und die anderen neuen sozialen Medien den sozialen Raum – und damit die Reichweite der Vernunft – zwar nicht allgemein und nachhaltig erweitern; wohl aber können die meisten Menschen eine nicht allzu lange Abwesenheit von ihrem gewohnten sozialen Umfeld mit Hilfe dieser Medien so weit überbrücken, dass sie sich weiterhin integriert sehen. Auf Dauer wird das wohl nur Ausnahme-Menschen gelingen, zu schwer wiegen neben leicht erschöpfter Neugier auch die fehlenden haptischen Kontakte mit ihren speziellen Informationen.

Günstiger sieht es aus, wo es um eingeschränkte Sachbereiche geht, wie etwa Klimaschutz, Menschenrechte, Kindererziehung oder klassische Musik. Hier können die neuen sozialen Medien auch über größte Distanzen hinweg tatsächlich für einen weitgehend umfassenden Überblick unter den Interessierten sorgen; denn beim einzelnen Menschen verteilt sich das Potential an Neugier in diesem Fall nur auf einen Teil des Ganzheitlichen und meist auch auf deutlich weniger Kontaktpersonen.

Wer in solchen Bereichen engagiert ist, dem wird dann auch „alles Bemerkenswerte“ dazu sozusagen von selbst zugetragen – man kann hier eine quasiholistische Qualität des Informationsstandes annehmen.

Unter dem Strich können also auch die hier beschriebenen Krücken der Vernunft nichts daran ändern, dass die Zuverlässigkeit „vernünftiger Erkenntnis“ stark von einem örtlichen Bezug abhängt. In Ausnahmefällen – wie etwa bei eng umschriebenen Sachbereichen – mag dieser Bezug vernachlässigt werden, wie alle Ausnahmen von der Regel wären solche Fälle jedoch nach den Gesetzen der Vernunft einschränkend zu interpretieren.

Für einen vernünftigen Umgang mit einer globalisierten Welt sind das sehr enge Rahmenbedingungen.

 

Die vielen Gesichter der Komplexität
Unterwegs mit der Titanic

Im April 1912 rammte die Titanic ihren Eisberg, ein Fingerzeig auf die Verletzlichkeit hochkomplexer Dinge. Wenig später gingen in Europa die Lichter aus, weil das Netz militärischer Bündnisverpflichtungen zu komplex geworden war, um von den Akteuren in den Staatskanzleien – durchwegs honorige Männer – noch beherrscht zu werden. Und so hat ein lokaler Konflikt am Balkan einen Weltenbrand ausgelöst. Hundert Jahre später brennen am Rande Europas wieder einige Lunten. Gleichzeitig wachsen den Staatskanzleien exzessive Schulden über den Kopf und schauen sie mit lautem TINA-Rufen zu, wie Finanz-Manager mit Derivaten und zockenden Computern hantieren (TINA ist nicht die Schutzheilige der Banker sondern die Abkürzung für there is no alternative). Es geht da also um Dinge, die man als finanzielle Massenvernichtungswaffen bezeichnet – und wer behauptet, die Komplexität dieser Dinge voll zu verstehen, ist sehr wahrscheinlich ein Lügner.

Es ist nicht nur die Finanzkrise, die vor allem Europa viel Zuversicht raubt. Neben den finanziellen Gefahren sind es auch jene durch Terror und Krieg, die ökologische Überschuldung, Identitätsverlust und soziale Abstiegsangst, Leere in Kirchen und auf Geburtsstationen …kurz, die Titanic unserer Generation steuert geradewegs auf den Untergang zu. Im Kern steckt hinter dieser Düsternis das, was Fred Sinowatz als erster Regierungschef Europas mutig ausgesprochen hat: „Es ist alles so schrecklich kompliziert geworden!“

Trotzdem behaupte ich: All diese hoch komplexen Probleme sind lösbar, Europas Kurs lässt sich ändern, der Untergang ist vermeidbar. Jedoch werden nicht Experten, Politiker oder der eine oder andere „schreckliche Vereinfacher“ die Rettung bringen, sondern eine Vielzahl von Menschen mit durchschnittlichen Begabungen, die sich zwei unersetzliche Gaben bewahrt haben: jugendliche Neugier und ein bohrendes Interesse an überschaubaren Strukturen.

Das Schicksal der Titanic schlägt uns bis heute in seinen Bann. „Weder Himmel noch Erde!“ wurde noch in der Werft auf ihren Kiel gemalt; der größte Luxus-Liner seiner Zeit, von den besten Experten gebaut und betrieben, kracht gegen einen Eisberg; und unter den Klängen der Bord-Kapelle sinken Tausende in den Tod. Ja, hätte der Kapitän nicht eine neue Route eingeschlagen, hätten Funker und Ausguck besser aufgepasst, hätte man schon vorher mehr Schottenwände eingebaut und Rettungsboote mitgenommen, hätte…, hätte… . Komplex ist es eben, wenn viele berufen sind es besser zu machen, letztlich aber niemand wirklich verantwortlich ist.

Lähmende Komplexität ist nicht vom Himmel gefallen. Natürlich gab es schon in grauer Vorzeit Situationen, die kompliziert und undurchschaubar waren; verglichen mit unserer Zeit waren das aber meist nur kurze Ausnahmen. Im Großen und Ganzen war das Leben klar strukturiert, seine sozialen Regeln waren umfassend und „hielten“. Daher die Frage: warum ist Komplexität gerade heute zu so einem nicht mehr durchschaubaren Problem geworden? Nicht alles, aber doch sehr vieles wird man dem Mammon zuschreiben können; dazu im Folgenden einige Komplexitäts-Treiber:

 

Komplexitäts-Treiber Ort- und Zeitverlust

Wie im vorigen Kapitel ausgeführt, setzen „vernünftige Ergebnisse des Vernunft-Denkens“ im Regelfall einen deutlichen Orts-Bezug voraus, brauchen also den „überschaubaren Raum“. Zwar kommt man in Ausnahme-Situationen auch ohne diesen Bezug zu vernünftigen Ergebnissen, doch muss der fehlende ganzheitliche Flankenschutz nun durch bewusste Kontrollen oder sonstige Ersatz-Konstruktionen ausgeglichen werden. Dies verlangt nicht nur einen vermehrten Einsatz von teurer Neugier; je mehr Kontrollen und Ersatz-Konstruktionen notwendig werden, desto mehr entsteht Komplexität – unter diesen Begriff fällt ja alles, was über gesunde Vielfalt hinausgeht und nicht mehr ohne weiteres überschaubar ist. Fehlender Orts-Bezug ist also ein erstrangiger Komplexitäts-Treiber.

Gleiches muss auch dort gelten, wo Vernunft-Denken sich über das Verhältnis von Realität und Zeit hinwegsetzt. Wie die Erfahrung zeigt, führt fehlender Realitätsbezug zu Beschleunigung und Überstürzung, was wiederum zu Fehlern und letztlich zu wachsender Komplexität führt. Sehr anschaulich beschreibt das ein Satz, den ich irgendwo gelesen habe: „Als die Ruderer im Nebel ihr Ziel aus den Augen verloren, begannen sie immer schneller zu rudern“. Zu diesem Zeit-Bezug der Vernunft zwei Bemerkungen:

  • Schon im vorigen Kapitel wurde ausgeführt, dass die biologische Evolution uns Menschen nur eine ziemlich geringe Kapazität für bewusste Informations-Aufnahme bzw. -Verarbeitung beschert hat, was sich in Bytes per Sekunde ausdrücken lässt; ähnliches gilt im sozialen Raum für den ganzheitlichen Feedback, der „in praktikabler Zeit“ zu erfolgen hat. Vernünftiges Denken ist Schwerarbeit, die wie jede Arbeit ihre Zeit braucht.
  • Umgekehrt gibt es in einer abstrakten Welt nichts, das sich einer Beschleunigung entgegenstellt. Dies wurde eindrucksvoll von Manfred Osten in seinem Buch „Alles veloziferisch – oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit“ dargestellt: Haben schon vor Goethe Denker wie Sophokles, Bacon und Hobbes vor „flügelschlagenden Akzelerations-Tendenzen des Verstandes“ gewarnt, und kam es „im Zeichen der Aufklärung zu einem ruckartig weiter beschleunigten Verstand“, so schildert Goethe vor allem in seinem Faust II die Gefahren isolierten und überstürzten Denkens als das „Veloziferische“. Mammon lässt grüßen!

Fehlender Bezug zwischen Realität und Zeit erhöht die Irrtums-Anfälligkeit und ist somit ein Komplexitäts-Treiber.

 

Komplexitäts-Treiber Neugier-Schwund

Vieles über den Neugier-Schwund wurde schon im vorigen Kapitel aufgezeigt: die rasche Erschöpfung der Vernunft bei allen Prüfungen, die sie bei fehlendem ganzheitlichen Flankenschutz ersatzhalber erledigen sollte, das dann – unkontrolliert – folgende Durchschlagen instinktiver Handlungs-Impulse, sowie gesteigerte Ängstlichkeit und Pessimismus.

Ein Verstärker des Neugier-Schwunds ist das heute allenthalben geforderte Multitasking. Es erfordert ein always on und schadet enorm durch sein kolossales Ablenkungspotential. Ständige Aufmerksamkeitsdefizite verhindern schöpferisches Arbeiten, wie das Komponieren oder die Lösung mathematischer und anderer komplexer Probleme, schränken das Hinhören und damit die Qualität der Kommunikation ein.

Erschöpfung durch Neugier- Schwund zeigt sich auch im „kognitiven Dissens“: Oft unterbleibt der Impuls zum initiativen Aufspüren von bisher unbeachteten Widersprüchen, Begrenzungen oder Querverbindungen zwischen mehreren Abstraktionen und Projektionen. Bewusstsein und Vernunft finden sich also damit ab, dass das, was nach Grundsätzen der Vernunft unvereinbar sein sollte, nebeneinander weiter besteht.

Eine besondere Form dieses „kognitiven Dissenses“ ist die allgemeine Verdrängung moralischer Standards, vom Wiener Soziologen Herbert Rauch als „kollektive Trance“ beschrieben: In einem erfolgreichen sozialen System, in dem sich die überwiegende Mehrheit „wie in einem Schlafrock“ bequem eingebettet fühlt, gilt alles, was damit im Einklang steht, als komplett normal und angebracht, selbst wenn man damit in einzelnen Fragen in deutlichen Gegensatz zu den klassischen Standards der Moral gerät. Allgemein hohe Rechtschaffenheit kann also punktuell und kollektiv blinde Flecken entwickeln, und diesen „Schlafrock“ wird man nur mit besonderem intellektuellen und moralischen Aufwand ablegen können. Wer das thematisiert – meist als Vorbote eines Umbruchs – wird lange Zeit als Störenfried geächtet, bis dann das System zu einer neuen Ordnung findet und sich die blinden Flecken schließen. Die Geschichte ist voll von solchen Fällen. Noch lebhaft in Erinnerung sind da die Nazi-Schergen, die die schlimmsten Verbrechen begangen haben und nach 1945 wieder zu unauffälligen Biedermännern wurden. Heutige Beispiele dieser Trance sind die verschiedenen Formen sozialer Eiseskälte gegenüber den Opfern von Mammons Markt-Fundamentalismus und Globalisierung – ganz zu schweigen von „Kleinigkeiten“ wie das Vertuschen sexueller Ge-walt oder die Toleranz gegenüber den verschiedenen Praktiken der Korruption. Kein Zweifel, dass diese Verdrängungs-Prozesse umso „erfolgreicher“ sind, je mehr ein allgemeiner Neugier-Schwund das freie Nachdenken und Urteilen behindert!

Schließlich schlägt der Faktor Neugier auch dort zu, wo es um das übersteigerte Streben des Einzelnen nach Autonomie geht. Dies wird zum Komplexitäts-Treiber, sobald man glaubt, auf die Zugehörigkeit zu einer überschaubaren Gemeinschaft – wie Familie, Nachbarn und Freunde, Kirche, Vereine und Gemeinde – verzichten zu können. Denn der beim Einzelkämpfer einhergehende Verlust an emotionalem Halt zwingt zur Entwicklung rationaler Ersatzlösungen – und das kostet eben sehr, sehr viel Neugier …

Komplexitäts-Treiber Ideologie

Mit der Aufklärung hat auch die Zeit der Ideologien und ähnlicher „großer Ideen“ begonnen. Als Kinder der Vernunft liegen diesen Gedankengebäuden zunächst Abstraktionen konkreter Sachverhalte zu Grunde; d.h. es werden komplexe Dinge auf „das Wesentliche“ reduziert; dieses Wesentliche wird sodann in der Form von Mustern auf andere, meist größere Umfelder projiziert. Der Erfolg solcher „großer Ideen“ liegt in ihrer Erklärungskraft: Erleichtert es doch das Analysieren von Situationen mit ähnlicher Komplexität, wenn man soziale Klasse oder Rasse, Markt oder Natur zu alles erklärenden – und bald auch beherrschenden – zentralen Werten erhebt; ähnlich auch der blinde Glaube an die unbedingte Durchsetzung von Erfolgsprinzipien wie Wirtschaftswachstum, freier Kapitalverkehr, Out-Sourcing, Pressefreiheit oder politische Umfragen.

Daher präsentieren sich „große Ideen“ und vor allem Ideologien auf den ersten Blick als willkommene Mittel zur Reduktion von Komplexität. Von der Wirkung her ist es tatsächlich jedoch sehr oft genau umgekehrt: Weil die Erklärungskraft und „Eleganz“ der Abstraktionen so groß ist, vergessen die Nachbeter „großer Ideen“ meist auf den ganzheitlichen Flankenschutz und erliegen dem Ceteris-Paribus-Syndrom. Dann kann das, was bei der anfänglichen Abstraktion durchaus zu Recht vernachlässigt bzw. „weg-abstrahiert“ wurde, in ähnlichen – aber eben nicht ganz gleichen – Situationen sehr wohl wieder wesentlich werden, und die gesamte Idee erweist sich damit als unbrauchbar, oft sogar als gefährlich.

Es stellt sich also die Frage des richtigen Maßes, was – wie erwähnt – schon Leopold Kohr festgestellt hat, als er das Paracelsus-Wort „Jede Arznei ist Gift – entscheidend ist nur die Dosis“ auch auf Ideologien und alle „großen Ideen“ ausgedehnt hat. Selbstverständlich war auch Kohr überzeugt, dass der Mensch Abstraktionen in der Form von „Werten“ und Ideen braucht, um sich mit ihrer Erklärungskraft in komplexen Situationen behaupten zu können. Aber wie man schon aus dem Wort von der „Werte-Gesellschaft“ erkennen kann, hängt die menschliche Lebensqualität davon ab, dass in einer Gesellschaft mehrere Werte Geltung haben. Aus ihnen in einer konkreten Situation den richtigen „Mix“ zu finden, ist wohl die wichtigste Aufgabe der Vernunft.

Kohr war sich auch über den Grund im Klaren, der nicht wenige große Ideen und Werte über den kritischen Punkt hinaus zum „Kippen“ bringt: Nur zu oft werden dabei die jeweiligen Gegenwerte vernachlässigt; also die gleichfalls positiv besetzten und komplementären Werte, so wie Vorsicht als Gegenwert zu Mut, Kontrolle als Gegenwert zu Vertrauen. Kohr griff dabei auf Einsichten von Aristoteles zurück, und etwas Ähnliches haben die Chinesen ja schon vor langer Zeit in ihrem Yin-Yang-Prinzip entwickelt.

Ideologien und „große Ideen“ sind somit für Denk-Faule und Leute, die unter der heute grassierenden Informationsflut leiden, besonders attraktiv. Ihr Verzicht auf den ganzheitlichen Flankenschutz treibt sie immer mehr über den kritischen Punkt hinaus – nicht selten in die Arme Mammons oder anderer Fundamentalismen. Der Eindruck einer kaum mehr zu überwindenden Komplexität kommt dann von zwei Seiten: Zum einem, wenn man die „große Idee“ übertrieben hat und plötzlich merkt, dass sie in einem viel komplexer gewordenen Umfeld nicht mehr weiter hilft, man aber auch das Rüstzeug zur individuellen Meinungsbildung verloren hat. Zum anderen, wenn Probleme ideologisch – also abstrakt – zerredet werden und schließlich als „zu komplex“ ungelöst bleiben.

 

Komplexitäts-Treiber Einheitlichkeit

Ähnlich wie Ideologie ist auch die Einheitlichkeit nur auf den ersten Blick ein willkommenes Mittel zur Redukti-on von Komplexität. Ihr Symbol ist das Vernunft-Produkt der geraden Linie, mit dem schön kurvigen Mäander als Gegenwert – also ganz anders als es in der freien Natur geschieht. Selbstverständlich erleichtert Einheitlichkeit die industrielle Produktion und das Marketing – aber auch hier gibt es den kritischen Punkt, wo das weg-abstrahierte Mäandern wieder schlagend wird und die Kostenrechnung zum Kippen bringt.

Komplexität ist nicht berechenbar

Schließlich noch ein Wort zur Beherrschung komplexer Situationen: Nassim Nicholas Taleb befasst sich in seinem Buch: “Der Schwarze Schwan“ mit Gesetzmäßigkeiten höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, u.a. mit dem schon im alten Griechenland diskutierten Irrtum, dass das Fehlen des Beweises einer bestimmten Gefahr nur allzu oft mit dem Beweis der Ungefährlichkeit verwechselt wird. Von besonderem Interesse ist dabei Talebs Theorie von den vier Quadranten der Risiken einer Entscheidung, nämlich

1. einfache Entscheidungen (entweder/oder) in über-schaubaren Situationen (in „Mediocristan“)

2. einfache Entscheidungen in komplexen Situationen (in „Extremistan“)

3. komplexe Entscheidungen (wie, wie viel…) in über-schaubaren Situationen

4. komplexe Entscheidungen in komplexen Situationen.

Mit großem statistischem Material weist Taleb nach, dass Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung zwar in den ersten drei Quadranten zu brauchbaren Ergebnissen führen können, niemals jedoch im 4. Quadrant. Taleb zielt besonders auf die angeblich so überraschend ausgebrochenen Finanzkrisen in den USA, doch gilt sein Befund zweifellos auch für die Nutzung von Hoch-Technologie mit möglicherweise extremem Schadenspotential – Komplexität, die nicht kalkulierbar ist, ist auch nicht beherrschbar. Und so rauscht die neue Titanic mit ihren Komplexitäten auf den Eisberg zu, so wie noch immer viele Autobahn-Fahrer ungebremst in die Nebelwand rasen…

 

Von der Titanic auf die Arche Noah umsteigen?

Noah war für den Mainstream seiner Zeitgenossen ein dem Wein ergebener Spinner. Aber der Mainstream mit all seinen Experten ist ertrunken, und Noah hat überlebt – auf einem plumpen, kastenförmigen Schiff, das er als blutiger Amateur selbst gebaut und betrieben hat. Die Geschichte von Noah berührt uns auch heute noch aus zwei Gründen: zum einem durch die plastische Schilderung einer (fast) alles Leben auslöschenden Natur-Katastrophe, zum anderen durch die Faszination, die vom Überleben Noahs, seiner Familie und den vielen Tieren auf der Arche ausgeht. Betrachtet man diesen Aspekt etwas näher, so hat eine stark gemischte Gruppe von Menschen und Tieren auf engstem Raum viele Monate friedlich zusammen gelebt – allein wenn man an die Versorgung mit Proviant denkt, muss das eine reichlich komplexe Sache gewesen sein. Freilich war Noah nicht allein, und so musste er auch nicht jede Schiffsplanke selbst zimmern, nicht jede Fuhre Heu selbst an Bord holen und nicht jedem der wilden Tiere seinen Platz in der Arche zuweisen – dazu hatte er seine Söhne mit ihren Frauen. Er hat aber alles in einer ganzheitlichen Zusammenschau behalten und konnte daher auch das, was er nicht selbst gemacht hat, in seiner Qualität und Wirkung gut abschätzen. Kurz: was an Noah und seiner Arche beeindruckt, ist der Erfolg der Überschaubarkeit.

Schon Leopold Kohr hat auf Noahs Beispiel verwiesen. Kohr muss wohl als Philosoph der Überschaubarkeit gelten – obwohl dieses Wort in seinen Büchern so gut wie über-haupt nicht vorkommt; er spricht stattdessen meist vom „Menschlichen Maß“. Ich vermute, dass er diese Wortwahl getroffen hat, weil er auf Englisch publiziert hat, und sich diese Sprache bei der Übersetzung des Wortes „Überschau-barkeit“ sehr schwer tut: Eine „overviewability“ gibt es nicht, während der oft verwendete Ausdruck „supervision“ unnötigerweise auch hierarchische Autorität einschließt; und der von Kohr selbst gewählte Ausdruck einer „translucent society“ blieb eine Eintagsfliege. Näher kommt man der Überschaubarkeit wohl, wenn man sie mit den beiden Begriffen der „comprehensibility“ und der „manageability/“ verbindet. Ersterer berücksichtigt das umfassende Kontext-Bewusstsein, letzterer die praktische Nähe. Diese Übersetzungsversuche und Noahs Beispiel machen klar, worum es bei der Überschaubarkeit wirklich geht: um die Fähigkeit, das innere Wesen einer bestimmten Sache zu-mindest im Groben zu verstehen und mit ihren Grenzen und ihrem Potential in einen ganzheitlichen Zusammenhang zu stellen. Wo das nicht gegeben ist, herrscht unberechenbare Komplexität.

 

Die neue Aufklärung

Wie schon eingangs gesagt, ist mit der Aufklärung etwas schief gelaufen: Ihre Betonung der Vernunft – und dann auch des Konkurrenz-Denkens – hat nach großartigen Anfangserfolgen so sehr in den Exzess geführt, dass nun das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht. Das Vernunft-Denken bleibt weiterhin unersetzlich, doch müssen wir die Exzesse auf das Menschliche Maß zurückführen, um nun in einem Geist der Verbundenheit leben zu können. Kurz: Aufklärung und Gebrauch der Vernunft sind bis heute stark ergänzungsbedürftig geblieben.

Auf den Punkt bringt es der große Evolutionsforscher Rupert Riedl, wenn er in seinem Buch „Evolution und Erkenntnis“ eine Diskussion mit Marion Gräfin Dönhoff im Jahr 1979 schildert. Als Riedl mit ihr nach einer Konferenz im Vatikan über den Petersplatz spazierte, meinte er: „In einer zweiten Aufklärung wird nicht mehr gegen die Inhumanität von Kirche und Aristokratie angetreten, sondern gegen jene von Ideologie und Kapital; und dann soll …nicht die Unbegrenztheit des Machbaren den Menschen befreien, sondern die Einsicht in die Grenzen seines Vermögens.“ „Das, sagte Gräfin Dönhoff, ist aber eigentlich eine Art der Abklärung!“

So ist es! Aufklärung – das ist das Ausleuchten des Dunklen mit dem Scheinwerfer der Vernunft; und Abklärung, das ist die Einordnung so gewonnener vernünftiger Erkenntnisse in eine umfassende Ordnung. Und um brauchbar zu sein, darf diese Ordnung Riedls Grenzen menschlichen Vermögens nicht überschreiten, muss also auf die dem Menschen von der Natur gesetzten Grenzen vernünftiger Erkenntnis Rücksicht nehmen. Wo liegen da heute die Probleme?

Im Wesentlichen lassen sich die Probleme mit der Aufklärung (und dem Mammon!) auf eine Ursache zurückführen: Weil das Vernunft-Denken linear organisiert ist, haben wir die Ganzheitlichkeit aus den Augen verloren.

 

Lineares Vernunft-Denken und Projektionen

Wie eingangs schon ausgeführt wurde, erleben wir heute zunehmende Frustration über das “Versagen” von zentralen Ideen und Werten, die als „typisch westlich“ gelten und bisher unbestritten höchst erfolgreich waren, sei es nun Demokratie, Toleranz, Säkularismus, Nationalstaat – ja auch Geld, Wirtschaftswachstum und Effizienz. Da diese Ideen und Werte erst mit der Aufklärung „groß“ geworden sind, müssen offenbar grundlegende Dinge dieser Denkungsart in Schieflage geraten sein. Was könnte das sein?

Auf den Punkt gebracht: Die Vernunft konnte sich nur deshalb in der uns heute bekannten Form entwickeln, weil sie immer auf den beschriebenen „Flankenschutz“ ganzheitlicher Systeme zählen konnte. Nun befinden wir uns ja heute im aufklärerischen Zeitalter der Neuzeit, wo die Vernunft das Zepter ganz allein in die Hand genommen haben will. Mit messerscharfen Begriffsbestimmungen, Logik, Abstraktionen und Projektionen glaubt sie alle sinnvollen Fragen beantworten zu können. Schon der Beginn der Neuzeit ist für die neue Denkungsart typisch: Als Columbus zur Überzeugung kam, dass die Erde rund ist, machte er diese Abstraktion zum Gegenstand einer Projektion, die dem gesamten Erfahrungs-Wissen seiner Zeit zuwider lief: War der östliche Landweg nach China versperrt, so sollte es möglich sein, „immer weiter“ nach Westen zu segeln und letztlich doch in China zu landen.

Ob die Projektion des Columbus wirklich so ein großer Erfolg war, mag Ansichtssache sein – jedenfalls hat diese Methode rationaler Projektion Schule gemacht und ist zur Grundlage unseres Fortschrittglaubens geworden: Man reduziert eine komplexe Situation auf eine Abstraktion, überprüft sie nach Möglichkeit in einem kleinen Modellversuch und projiziert dann diese Abstraktion linear auf ein meist größeres – und daher auch komplizierteres – Umfeld.

Die dahinter steckende Problematik drückt ein Zitat aus dem Standard-Repertoire des alpenländischen Bauerntheaters aus: Die Szene dreht sich um einen Bauern, der einen Acker verkauft, dafür einen Beutel mit 100 Gulden bekommt und diese nun nachzählen soll. Er wird dabei öfter unterbrochen, fängt immer wieder neu zu zählen an und meint dann schließlich resignierend hat es bis sechs-a-sechzig g’stimmt, wird’s wohl bis hundert a stimmen!

Wer über diesen Bauern lächeln kann, der sollte auch über die unselige Gewohnheit lachen, in einer konkreten Situation aus einem fundierten Teil-Wissen ohne weiteres auf das Ganze zu schließen. Diese Ganzheitlichkeit im Auge zu behalten mag heute nicht leicht fallen; denn in dem Maße, wie technischer und gesellschaftlicher Fortschritt die Ausdehnung des menschlichen Wirkungskreises über den Gesichtskreis des ganzheitlichen „Wächters“ hinaus ermöglicht hat, stimmt ja auch sein „no news is good news“ nicht mehr; das Ceteris-paribus-Syndrom lässt grüßen.

Es geht also um „vernünftige Projektionen“ als die wohl wichtigsten Träger des Fortschrittsgedankens. Offenbar unter Mammons Druck hat dieser Gedanke im ausgehen-den 20. Jahrhundert eine Scherenentwicklung erfahren: Einerseits hat der Wegfall technischer und politischer Grenzen im Zuge der Globalisierung den Anreiz zu immer mehr Projektionen von globaler Tragweite gegeben, findet also außerhalb des sozial überschaubaren Raums statt; und andererseits findet im Zuge der Säkularisierung nur mehr das aufgeklärte Vernunftdenken allgemeine Anerkennung. Die kulturellen Hilfsmittel vernünftiger Erkenntnis – vor allem die schon beschriebenen ganzheitlichen Ordnungs-Systeme – haben damit ihre korrigierende und inspirierende Wirkung weitgehend verloren. Die Trennung von Materie und Geist, wie sie die Aufklärung betont hat, hat das noch verstärkt: Zum einen durch die sinkende Orts-Bindung, zum anderen durch den „veloziferischen“ Zeitdruck. Somit fehlt der ganzheitliche Flankenschutz, der auf die Querverbindungen und Grenzen der Projektionen verweisen sollte – also schlägt heute das Ceteris-paribus-Syndrom besonders stark zu. Die alte Klausel der „im Übrigen gleich bleibenden Rahmenbedingungen“ hat in einer immer enger vernetzten Welt nur mehr so viel Wahrheits-gehalt wie die alte Märchen-Floskel „und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch“: beide Aussagen sind logisch richtig, suggerieren jedoch falsche Tatsachen; spricht doch die einfache Lebenserfahrung dagegen, dass der Märchen-Prinz und seine Prinzessin heute noch am Leben sind; oder bei einem Eingriff in komplexe Dinge die Rahmenbedingungen gleich bleiben können.

Und so entsteht im ungezügelten Nebeneinander end- und maßloser Projektionen viel Unvernunft und undurchschaubare Komplexität, die gegen Naturgesetze und Grundsätze sozialer Nachhaltigkeit verstoßen und damit unser Überleben aufs Spiel setzen:

 

Verstoß gegen Naturgesetze und soziale Grunderfahrungen

Hier ist an erster Stelle der Glaube an ungebremstes Wachstum zu nennen, der – wie schon erwähnt – als Allheilmittel für fast alle Probleme der Politik herhalten muss, und der weder mit den begrenzten Ressourcen noch den Gesetzen der Thermodynamik vereinbar ist. Gewiss, aufgeklärte Kreise sprechen jetzt von der Umschichtung des umweltschädlichen zu „grünem“ Wachstum, aber auch diese Variante hat ihre Tücken: Selbst ein Mehr an rein digitaler Wertschöpfung benötigt mehr Hardware, verbraucht also mehr Mineralien und Energie, produziert obendrein auch mehr Elektroschrott. Darüber hinaus ist kaum anzunehmen, dass „grüne“ Wertschöpfung genauso „grün“ wieder konsumiert wird: Wenn etwa der „grüne“ Internet-Unternehmer seinen Gewinn in einen Malediven-Urlaub steckt, verkehrt sich seine grüne Wertschöpfung in eine ungleich gewichtigere Umweltbelastung.

Dann steht ganz besonders Europa vor dem Verlust seiner demographischen Reproduktions-Fähigkeit: In dem Maße, wie der heutige Lebensstil die Frauen dazu drängt, in ihrer Lebensplanung den Kinderwunsch weit über das biologische Optimum hinaus auf immer später zu verschieben, sinkt die Fertilitätsrate und nimmt die Vergreisung der Gesellschaft zu – mit Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Als Stichworte seien da genannt: Immigration und Ausländer-Integration, Alten-Pflege, zunehmender allgemeiner und kultureller Pessimismus.

Schließlich ist auch die wachsende Informationsflut mit ihrem „Ertrinkungstod der Neugier“ zu nennen: Nicht nur im europäischen Alltag übersteigt die zunehmende Komplexität die biologische Fähigkeit des Einzelnen zur Informationsverarbeitung. Wie schon erwähnt, führt das zu einem Neugier-Schwund mit massiven Fehlentscheidungen wegen fehlender Überschaubarkeit, fördert aber auch das unreflektierte Durchschlagen instinktiver Reflexe, etwa durch Fremdenfeindlichkeit.

Im einleitenden Kapitel über das richtige Feindbild wurde schon ausgeführt, wie die Wissenschafts-Gläubigkeit, der Monetarismus, der extreme Individualis-mus sowie das Wettbewerbs-Prinzip ins Unmaß geraten sind, weil sie nun gegen soziale Grunderfahrungen verstoßen. Alle diese Exzesse machen heute dem Mammon die Mauer, und gleiches gilt für die nun zum Turbo-Kapitalismus degenerierte Marktwirtschaft – sowie damit zusammenhängende Ideen, die lange als Erfolgsprinzipien galten: etwa das arbeitsteilige Verfahren, Zins und Zinseszins, Papiergeld, Werbung etc.. Wenn man sich nun anschaut, wie nicht nur das südliche Europa wegen der Folgen der Finanzkrise von 2008 in tiefe Hoffnungslosigkeit zu versinken droht, obwohl die Wirtschaftspolitik mit klassischen Rezepten gegenzusteuern sucht, – ja, dann muss man annehmen, dass gleich mehrere Säulen des Kapitalismus in extremes Unmaß geraten sind.

 

Der Wendepunkt

Weil große Ideen also keine Selbstbeschränkung kennen, bedroht uns heute ein Zuviel des Guten. So brachte es auch der Philosoph Carl Amery auf den Punkt: Kann die Menschheit ihre eigenen Errungenschaften überleben? Die alte Aufklärung hat von einer besseren Welt geträumt und mit der „vernünftigen Projektion“ großer Ideen schöne und himmelhohe Kathedralen entworfen. Nach einer langen Erfolgsgeschichte müssen wir heute feststellen, dass die Vernunft heute auch etwas anderes braucht: Rücksicht auf das, was im Menschen unvernünftig ist – wie zum Beispiel das Ceteris-Paribus-Syndrom. Und tatsächlich sehen wir nun, dass die Vernunft dann zu den besten Ergebnissen führt, wenn sie ihre Projektionen einbremst und sich an das Menschliche Maß hält; also in einem Umfeld bleibt, in dem der einzelne Mensch nicht nur ein Maximum an ganzheitlichem Verständnis für seine Lage, sein (Un-)Vermögen und die Folgen seines Handelns haben kann, sondern auch seinen angeborenen Hang zu Kooperation entfalten kann. Da beides von der Überschaubarkeit des menschlichen Umfelds abhängt, muss diese Qualität der Kern der Neuen Aufklärung sein.

Die Neue Aufklärung schätzt die gleichen Ideen wie die alte, aber sie weiß auch, warum diese bessere Welt sich nicht einstellen will; und sie bleibt bei der Bauart, die Natur und Maurer schon immer genutzt haben: Zellen und Ziegel. Denn das Bauen mit kleinen und vielfältig nutzbaren Einheiten gibt dem ganzen System so viel Flexibilität, dass es auch nichts ausmacht, wenn das eine oder andere Element ausfällt; womit auch verhindert wird, dass man vom Menschlichen Maß in den Exzess gerät. Die Kathedralen der Neuen Aufklärung mögen somit nicht mehr in den Himmel ragen, sie können aber mindestens so schön sein – denn meistens ist small ja auch beautiful.

Um schließlich auf Rupert Riedls Verständnis der Neuen Aufklärung zurück zu kommen: Kleinheit und vor allem die mit Zellen und Ziegeln hergestellte Kleinteiligkeit sind zwar meistens, nicht aber immer schön – im Gegensatz zur Unbegrenztheit des Machbaren entsprechen sie jedoch viel besser der Einsicht des Menschen in die Grenzen seines Vermögens. Zum Verständnis der Neuen Aufklärung gehört freilich auch die Einsicht, dass die Begrenztheit des Machbaren auch andere Ursachen hat; so kommen wir um die Physik nicht herum, und da vor allem nicht um die unerbittliche Zwangsläufigkeit der Thermodynamik und des Entropie-Gesetzes: Alles Messbare, das unnütz geworden ist, lässt sich nicht nur nicht aus der Welt schaffen, hier auf Erden wird auch alles Materielle zu Müll – mit der einzigen Aus-nahme der Sonnenstrahlung. Und weil heute ein immer größerer Teil der Welt-Bevölkerung unter der physikalischen wie sozialen Vermüllung unseres Planeten leidet, sollte ein altes Lied einen neuen Sinn bekommen: „Brüder zur Sonne, zur Freiheit…“

 

Kritischer Punkt, Idee und Gegen-Idee

Sonne, Zellen und Ziegel sind ja gut, aber wie löst man das Problem, dass Große Ideen den Hang zur Maßlosigkeit haben, weil sie aus sich selbst heraus zu keiner Selbstbegrenzung finden? Eine allgemeine Rückkehr zu kleinteili-gen und überschaubaren Einheiten, wo sich diese Maßlosigkeit nur selten einstellt, ist wenig wahrscheinlich, für den Großteil der Menschheit wird sich das Leben also weiterhin in unüberschaubar großen und größten Strukturen abspielen. Und daher wird der gute Kern „Großer Ideen“ auch in großen Strukturen bzw. Räumen so gut wie nur möglich beibehalten werden müssen. Was sollte da also geschehen, um die neue Phase der Aufklärung umzusetzen und zum Menschlichen Maß zu kommen?

 

Der kritische Punkt

Außerhalb des überschaubaren Raumes, in dem uns jedes Unmaß „von selbst“ auffallen wird, brauchen wir also eine praktikable Methode zur Überprüfung von üblicherweise nicht mehr hinterfragten Erfahrungen, Erfolgsprinzipien, Werten und sonstigen „Großen Ideen“. Ich glaube, dass hier einige Ansätze des schon erwähnten Philosophen Leopold Kohr weiter helfen. Wie ich im Buch „Leopold Kohr im Zeitalter der Post-Globalisierung“ ausgeführt habe, fußt diese Methode auf Kohrs Erkenntnis, dass es bei der Verbreitung und Umsetzung von Ideen (wie beim Wachstum von Strukturen) einen Punkt gibt, dessen Überschreiten mehr Schaden als Nutzen bringt. Dies wäre auch der Punkt, bei dem man annehmen kann, dass die gewohnte Erklärungskraft einer Idee für weitere Anwendungsgebiete nicht mehr automatisch gegeben ist, nun vielmehr von Fall zu Fall prüfen wäre, ob diese Idee noch weiter Anwendung finden soll. Denn von spirituellen Themen abgesehen, wo es das einzig Absolute geben mag, kann keine Idee unbegrenzte Gültigkeit beanspruchen.

Ab diesem kritischen Punkt einer Idee sollte es an ihren Verfechtern liegen, ihre weitere Anwendbarkeit nachzuweisen. Es ist dies eine Beweislast-Umkehr, weil die Richtig-keit jeder „Großen Idee“ meist schon im Kontext ihres Ursprungs – meist im überschaubaren Raum – einer Überprüfung unterzogen worden ist. Wenn sie danach ihren Siegeszug in ganz andere Umgebungen antrat, wurde unausgesprochen – und in Missachtung des Ceteris-paribus-Syndroms – die ursprüngliche Richtigkeit auch weiterhin „bis zum Beweis des Gegenteils“ angenommen.

Die meisten Streitfragen unserer Zeit wird man schon mit der bloßen Ankündigung einer bevorstehenden Beweislast-Umkehr einer Lösung näher bringen können, werden sie doch damit sehr bald von der theoretischen Ebene eines sterilen und fundamentalistischen „Entweder – Oder“ auf das praktische Niveau eines konkreten Umfelds herunter geholt, wo den Interessen des einzelnen Menschen weit mehr gedient ist. Nun konkret zu der:

 

Drei-Schritt-Methode

Der erste Schritt folgt einem Ansatz, den schon Leopold Kohr bei Aristoteles gefunden hat: Jeder Wert trägt – so wie Gift und Gegengift – den Keim eines „Gegenwertes“ in sich, der – allenfalls auf einer anderen Ebene – gleichfalls positiv gesehen werden sollte. Klassisches Beispiel dafür ist das Spannungsverhältnis zwischen Tapferkeit und Vorsicht: exzessive Tapferkeit – die also auf Vorsicht verzichtet – wird zu Tollkühnheit, und umgekehrt exzessive Vorsicht zu Feigheit. Um auf der Suche nach dem kritischen Punkt zu einem konstruktiven Ergebnis zu kommen, muss also zu-nächst für jeden Wert (bzw. Idee) sein „Gegenwert“ gefunden werden, der als Gegenpol in ein Spannungsverhältnis einzubringen ist.

Mit dem zweiten Schritt kommen die hier die schon erwähnten Ordnungs-Systeme ins Spiel: Religion, Moral, Ästhetik und Harmonie-Streben. Die Ästhetik ist hier besonders interessant, da die Hässlichkeit einer Sache ein sicheres Indiz für ein in ihr steckendes Unmaß ist. Auch die beständige kulturelle Tradition sollte dazu zählen, da sie nur beständig werden konnte, wo sie nicht gegen diese ganzheitlichen Systeme verstößt.

Alle diese Hilfsmittel der Erkenntnis sind ja auf ein ganzheitliches Verständnis ausgerichtet und im Falle der Anwendung „Großer Ideen“ auf immer neue Gebiete auch besser geeignet, den kritischen Punkt zu erkennen, als ausschließlich auf der Basis linearer Vernunft operierende Methoden. Kurz: wenn sich aus diesen ganzheitlichen Erkenntnisquellen schließen lässt, dass eine Idee ihre Gegen-Idee über ein gesundes Spannungsverhältnis hinaus zu erdrücken droht, dann ist der kritische Punkt offenbar erreicht, und ist es nun an der Zeit für den nächsten Schritt.

Der dritte Schritt führt zur Beweislast-Umkehr: durchaus mit den Mitteln der Vernunft gilt es, die exzessiv gewordenen Ideen im Vergleich mit der jeweiligen Gegen-Idee neu zu hinterfragen und an Hand konkreter Situationen die Sinnhaftigkeit ihrer weitere Anwendung eingehend zu prüfen.

Nicht immer wird es gelingen, für eine Idee eine voll entsprechende Gegen-Idee zu finden: Sei es, dass die untersuchte Idee so vielschichtig ist, dass sie gleich mehrere Gegenideen anspricht, oder die Idee so neuartig ist, dass sich noch keine konkrete Gegen-Idee identifizieren lässt. Im ersten Fall müsste man dann eben zu jeder Gegen-Idee eine eigene Diskussion führen. Im zweiten Fall wird man Ersatz in der Form der natürlichen Skepsis gegen alles „Neue“ finden. Dazu gehören insbesondere der (noch näher auszuführende) Wert der Resilienz und die mit fehlender Überschaubarkeit verbundene Sorge um das „Komplexitäts-Risiko“. Das entspricht im Übrigen auch dem Prinzip der biologischen Evolution: Das Neue überlebt nicht, weil es neu ist, sondern (nur) dort, wo es seine Überlegenheit gegenüber dem Alten unter Beweis stellen kann.

Und natürlich landet nicht jede exzessiv angewandte Idee gleich auf dem Misthaufen, wenn sie in einem konkreten Vergleich der Gegen-Idee unterliegt. Doch wird sie sich letztlich nur so viel Respekt verschaffen können, wie weitere Einzelfall-Vergleiche zu ihren Gunsten ausfallen. Im Ergebnis bleibt die Vernunft somit oberste Richterin der Idee, sie muss sich lediglich Fragestellungen gefallen lassen, die bisher übergangen wurden.

 

Beispiele

In meinem Buch „Leopold Kohr im Zeitalter der Post-Globalisierung“ habe ich einige Beispiele dieser – von mir mit dem Namen Kohr verbundenen – Drei-Schritt-Methode ausgeführt. So habe ich zur Illustrierung von Idee und Gegen-Idee dem Asylrecht den Einwand des „vollen Boots“ als Gegen-Idee gegenüber gestellt und gemeint, dass allein die theoretische Möglichkeit der Begrenzung des Asylrechts dazu zwingt, die Debatte zu konkretisieren: Was sind stichhaltige Argumente für diesen Einwand, und welche Ersatzleistungen kann oder muss eine Gesellschaft bringen, um die Verweigerung des Asylrechts zu kompensieren? Als Beispiel für eine neuartige Große Idee, die bisher ohne spezifische Gegen-Idee geblieben sein mag, habe ich die Gen-Technik genannt und bin angesichts des unüberschaubaren Komplexitäts-Risikos zu einem höchst skeptischen Ergebnis gekommen. Weiters habe ich den immens hohen Wert der Religionsfreiheit in ein Spannungsverhältnis gestellt mit dem Wert öffentlicher Orientierungshilfe, wo sie – rechtlich unverbindlich – Modelle einer evolutionären Leit-Kultur anbietet. Am Beispiel des Schweizer Minarett-Referendums und des Antrags einer Atheistin auf Entfernung von Kruzifixen aus italienischen Schulen erlaubt mir das den Schluss, dass das Grundrecht auf Religionsfreiheit (einschließlich der Freiheit von Religion) heute auch exzessiv betrieben wird. Im Folgenden möchte ich einige weitere Beispiele bringen:

 

Vertrauen und Kontrolle

Die Medien sind voll mit Themen der Korruption und Verschwendung in Staat und Großunternehmen. Offenbar ist Amtsträgern und Managern unmäßig viel Vertrauen entgegen gebracht worden. Moral als ganzheitliches Ordnungssystem sieht Vertrauen als exzessiv an, wo die Versuchung zu ihrem Missbrauch außerordentlich groß ist. Ein ungewöhnlich großes Vertrauen hat also im konkreten Fall die Beweislast für seine Berechtigung zu tragen. Umgekehrt widerspricht es allen psychologischen Erfahrungen sowie der Würde des Menschen – ein von allen Ordnungs-systemen getragener Wert – den Menschen unter umfassende Kontrolle zu stellen. Der kritische Punkt im Spannungsverhältnis zwischen Vertrauen und Kontrolle wird also von der konkreten Situation abhängen, genauer gesagt vom Grad der Überschaubarkeit der in Rede stehenden Materie: Je überschaubarer, desto mehr wird die ganzheitliche Einbindung der handelnden Personen hohes Ver-trauens rechtfertigen – und je komplexer die Materie, desto mehr wird Kontrolle und besondere Transparenz angbracht sein.

 

Toleranz und Identität

Nach den fürchterlichen Religionskriegen des 17. Jahr-hunderts ist Toleranz – also der Ausdruck der Wertschätzung für andere religiöse oder weltanschauliche Bekenntnisse sowie ethnische und kulturelle Identitäten – zu dem wohl prominentesten Kind der Aufklärung geworden. Im Buch „Der Kompass im Kopf“ habe ich dieses Thema näher beleuchtet. Demnach scheint in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die Toleranz zumindest in der westlichen Welt den ethischen Diskurs so sehr dominiert zu haben, dass über Inhalte der eigenen Identität kaum mehr gesprochen wird. Toleranz ist damit zur Beliebigkeit geworden. Diese Selbstverleugnung hat gefährliche Folgen; denn wer an nichts Bestimmtes glaubt, der glaubt bald alles, was gut präsentiert wird – und wird dann erfahrungsgemäß leicht zum Fundamentalisten.

Trotzdem verlangen wir immer mehr Toleranz, ohne uns dabei um Identität zu kümmern. Fehlende oder ungesicherte Identität merkt man besonders bei den Globalisierungs-Verlierern, politisch organisiert etwa von den Le Pens in Frankreich und den Haider-Epigonen in Österreich – und wohl noch viel mehr für schlecht integrierte Migranten-Kinder, die zu Djihadisten werden. Was sollen diese Verlierer denn auch von sich selbst halten, wo bleibt ihre Identität, wenn ihnen der Arbeitsmarkt sagt, dass sie nichts wert sind; wenn sie im Konsumrausch zuerst letzte Reste ihres religiösen Weltbildes verloren haben und nun auch den Konsum? Wo sie noch dazu aufgefordert wurden, ihr nationales oder ethnisches Bewusstsein gegen eine immer blasser werdende Europa-Idee einzutauschen! Dazu gehören auch die vielen Männer, die ihr gewohntes maskulines Rollenbild verloren haben, weil sie in Familie und vielen Berufen von (endlich) emanzipierten Frauen an die Wand gespielt werden. Zugegeben, das Konzept des „Multikulti“ strahlt heute nicht mehr so hell wie im ausgehenden 20. Jahrhundert, aber nicht zuletzt im Zuge der sich verstärkenden Globalisierung ist es heute um nichts leichter geworden, unter den überall wuchernden Fragezeichen so viel Identität zu bewahren, dass man echte Toleranz üben kann.

Das Spannungsverhältnis zwischen Toleranz und Identität spielt sich nicht nur auf der intellektuellen Ebene ab, auch die energetische Ebene der Neugier mit dem Problem des Neugier-Schwunds spielt hier eine wichtige, vielleicht sogar entscheidende Rolle; denn wie schon ausgeführt wurde, steigt bei Erschöpfung der Neugier unsere Neigung, unreflektierten Impulsen zu folgen – also „Fremde“ wie Eindringlinge in das eigene Territorium abzuwehren. Konkret dürfen in den aktuellen Integrations-Debatten Minderheit und Mehrheit einander nicht zu viel zumuten, es drohen sonst Fremdenfeindlichkeit auf der einen Seite und/oder Ghetto-Bildung auf der anderen. Auch auf dieser neurophysiologischen Ebene fördert Identitätsbewusstsein die Toleranz, da bei gesicherter Identität weniger Verunsicherungen auftreten, die intellektuell aufgearbeitet werden müssten.

Wie auch immer, die Diskrepanz zwischen der geforderten Toleranz und der dafür notwendigen Eigen-Identität ist heute enorm gestiegen und ist ganz offensichtlich auch die Ursache terroristischer Gewalt. Nach meiner Drei-Schritt-Methode liegt die Beweislast eindeutig bei den Verfechtern von noch mehr Toleranz, es muss also zuerst die Frage nach der eigenen Identität in einer „zukunftsfähigen“ Weise beantwortet werden. Angesichts der heute gegebenen Dringlichkeit dieser Materie mag das auf den ersten Blick als ein unlösbares Dilemma erscheinen, es hat aber gute Aussichten, auf einer anderen Dimension eine Lösung zu finden: nämlich durch Verkleinerung und Verdichtung des Umfelds, in dem Toleranz gefordert wird. Denn nicht nur ist es leichter, die eigene Identität in kleineren Räumen zu stärken; wie ich schon im ersten Teil dieses Buches ausgeführt habe, werden dort durch die Verbesserung der ganzheitlichen Zusammenschau die objektiven Gründe für ein tolerantes Zusammenleben deutlicher; es wird dort aber auch die Entwicklung von Empathie mit dem anderen leichter.

 

Effizienz und Resilienz

Schon in meinem einleitenden Kapitel habe ich das Spannungsverhältnis zwischen den Werten der linearen Effizienz und der ganzheitlichen Robustheit erwähnt. Zu-gegeben, Resilienz (so der wissenschaftliche Name dieser Robustheit) ist ein reichlich abstrakter Begriff und deshalb wird man ihn in den ganzheitlichen Ordnungssystemen des Westens nicht finden – dies im Unterschied zum asiatischen Harmoniestreben, wo es in etwa dem Yin (komplementär zum Yang) entspricht. Jedenfalls lassen sich bei näherer Betrachtung viele krisenhafte Phänomene, die uns heute nach Menschlichem Maß und Neuer Aufklärung rufen lassen, letztlich auf das gestörte Verhältnis zwischen Effizienz und Resilienz zurückführen: sei es die Umwelt-Problematik, die weltweite Polarisierung zwischen Arm und Reich, die überbordende Finanzwirtschaft oder die Verdrängung kultureller Vielfalt als Folge der Globalisierung. Hier lässt sich anhand der ganzheitlichen Ordnungssyste-me leicht feststellen, dass es die der Effizienz zuzuordnen-den Werte und Ideen sind, die ins Unmaß gekippt sind.

Die Wurzel des gestörten Verhältnisses liegt in der bereits besprochenen Evolutionsgeschichte unseres Gehirns, konkret im Zusammenspiel zwischen dem ganzheitlich operierenden „Wächter“ und dem linear vorgehenden „Spezialisten“ in unseren Köpfen. Ohne den Wächter bzw. der Resilienz wäre der Mensch wohl jeder überraschend auftretenden Gefahr voll ausgeliefert – und ohne Effizienz müssten wir Menschen verhungern. Wie gesagt, hat sich dieses Spannungsverhältnis in einer überschaubaren Umwelt entwickelt; jenseits ihrer Grenzen glaubt die Effizienz immer noch no news is good news und verwechselt das Schweigen der Resilienz mit Unbedenklichkeit; und so steigt dort die Fehlerquote exponentiell.

Und der kritische Punkt? Wie der Finanzexperte Bernard Lietaer nach Prüfung hunderter Ökosysteme festgestellt hat, liegt unter dem Gesichtspunkt von nachhaltigem Erfolg das Optimum im Spannungsverhältnis nicht in der Mitte zwischen Effizienz und Resilienz, sondern etwas näher zur Resilienz. Überhaupt ist Nachhaltigkeit seiner Meinung nach nur in einem engen Fenster um diesen optimalen Punk herum möglich, außerhalb davon kollabieren die Systeme.

Schließlich möchte ich auf schon besprochene „Große Ideen“ zurückkommen, die offenbar soweit in Exzess geraten sind, dass sie soziale Grunderfahrungen verletzen; ihre jeweiligen Gegenideen wären demnach

  • für die Wissenschaftsgläubigkeit: die Moral als “kondensierte Langzeiterfahrung“ nachhaltigen menschlichen Handelns
  • für den Monetarismus: da Geld als der Kern dieser Idee mehrere grundverschiedene Funktionen erfüllt, werden hier auch mehrere Gegenideen Platz greifen; mehr dazu später
  • für den Individualismus: gelebte Gemeinschaft
  • für den Markt: die kooperative Gemeinwirtschaft – mehr dazu später
  • für Wettbewerb: die Kooperation

Kein Zweifel, für Menschen, die Ideen und Werte seit Generationen nur abstrakt und linear diskutieren – sie also nicht an Gegenwerten und –Ideen messen – ist die hier beschriebene Drei-Schritt-Methode stark gewöhnungsbedürftig und wird sich damit der Weg zum Menschlichen Maß nicht leicht eröffnen. Denn zu stark ist die Versuchung, einmal für wahr befundene Ideen als ewig strahlenden Fixstern des eigenen Gedanken-Himmels anzusehen; ähnliches gilt für die Gewohnheit, in der Begegnung mit anderen Ideen nur deren Nachteile mit den Vorteilen der eigenen Idee zu vergleichen. Wer aber nur ein wenig Übung in der hier beschriebenen Diskussions-Methode hat, wird bald feststellen können, wie er damit im Handumdrehen die Lufthoheit über den Stammtischen selbst akademischer Wirtshäuser erringen kann.

 

Zwei Pioniere der Neuen Aufklärung

„Small is beautiful“ heißt das 1973 veröffentlichte Buch E.F. Schumachers , und das ist auch das Motto seines Freundes und Lehrers, des hier mehrfach genannten Leopold Kohr. Dieser entwickelte schon in den 1950er Jahren seine Philosophie, die dann 1957 unter dem Titel „The Breakdown of Nations“ (deutsch: „Das Ende der Großen“) veröffentlicht wurde. Kohr (1909 – 1994) war dabei eher der politische Philosoph, der sich selbst als „romantischen Anarchisten“ bezeichnete und auch in so verschiedenartigen Bereichen wie Architektur und Krebsforschung geschätzt wurde. Hingegen bezog Schumacher (1911 – 1977) seine philosophischen Einsichten aus langer Beschäftigung mit dem Buddhismus und befasste sich mehr mit wirtschaftlichen und technologischen Fragen. Was die beiden Autoren zum Menschlichen Maß zu sagen hatten, hat gewaltige soziale Umwälzungen überlebt und ist heute so aktuell wie vor einem halben Jahrhundert – ja, ich sehe sie als die Pioniere der Neuen Aufklärung und Vorkämpfer für eine Welt der Kooperation. Ihre Philosophie kann hier in aller Kürze zusammengefasst werden:

 

Über den Menschen

  • Der einzelne freie Mensch muss im Zentrum jeder Politik stehen – nicht das „Volk“ oder die „Nation“, auch nicht einmal die „Menschheit“. Und dieser Mensch im Zentrum ist weder der Durchschnitts-mensch der Meinungs-Umfragen noch der Übermensch diverser Ideologien, und schon gar nicht der nur auf Gewinn ausgerichtete Homo oeconomicus der Wirtschaftstheorie – sondern der wirkliche Mensch mit all seinen individuellen Stärken und Schwächen.
  • Der Mensch ist schwach, weil er oft irrt, oft scheitert und sterben muss. Er ist aber auch stark, wo er lacht und liebt (wer lacht, hat ein ganzheitliches Verständnis der Situation, wer liebt ist aktiv engagiert!). Dieser Mensch ist jederzeit für Überraschungen gut, was ja auch seine Würde begründet. Hat er faire Freunde um sich und bleibt er innerhalb des Menschlichen Maßes, so werden seine Überraschungen meist eher konstruktiv als destruktiv sein; denn wenn es wirkliche Freunde sind, werden sie den Menschen vor Fehlern zu bewahren suchen.
  • Als freier Mensch zu leben ist aber oft mühsam und daher auch die Ausrede für ein Verstecken in Anonymität. Dort degeneriert der Mensch jedoch bald zu einer statistischen Zahl, sein angepasstes Verhalten wird berechenbar und kann leicht manipuliert werden. Je größer die Gesellschaft bzw. politische Einheit in der er lebt – oder je unbestimmter ihre Funktion – desto mehr. Das eröffnet wiederum herkömmlichen Diktatoren und modernen Oligarchien die besten Chancen: Sie bieten ein kurzes Gefühl emotionaler Geborgenheit und erhalten dafür willfährige Untertanen.

Über Größe und Gesellschaft

  • Wo biologische oder soziale Organismen wachsen, nimmt die innere Komplexität wesentlich stärker zu als ihre Größe – und damit auch Energieverbrauch und Koordinationsbedarf.
  • Sobald die zunehmende Komplexität mehr schadet als nützt (also nach Überschreiten des Kritischen Punktes) befiehlt die Natur: „teile dich wie die Zellen – oder stirb!“ – und auch menschliche Gesellschaften sollten sich daran halten.
  • Wachstum und Zusammenschlüsse über den Kritischen Punkt hinaus sind nur dort sinnvoll, wo (selten genug!) die eindimensionale Wucht des Schmiedehammers gebraucht wird. Längerfristig ist Vielseitigkeit – wie beim kleinen Schweizer Offiziersmessers – jedoch nützlicher, weil Größe mit ihrer zunehmenden Komplexität ihren Preis in der Form von zunehmenden Kosten und sinkender Verantwortungs-Fähigkeit verlangt; denn Verantwortung kann es ohne Überschaubarkeit nicht geben. Menschliche Gesellschaften sollten daher Größe meiden und im Einklang mit Subsidiarität die politische Verantwortung „nach unten“ delegieren.

Über Ideen:

  • Ideen sind Abstraktionen komplexer Dinge und Situationen. Damit die Idee nützlich ist, mag es in überschaubaren Situationen durchaus sinnvoll sein, einzelne Teile der realen Komplexität außer Acht zu lassen. Sobald die Idee jedoch in anderen und vor allem unüberschaubaren Situationen angewandt wird, kann das, was anfangs wegabstrahiert wurde, wieder schlagend werden und die ganze Idee nutzlos machen. Kohr hat daher die alte Weisheit „Alles ist Gift – entscheidend ist die Dosis“ auch auf Ideen bezogen (dies halte ich für den Wendepunkt von alter zu Neuer Aufklärung!).
  • Um großartige Ideen vor Exzessen zu bewahren ist es (wie schon ausgeführt) am besten, sie mit ähnlich großartigen Gegenideen in ein Spannungsverhältnis zu setzen – so wie Mut mit Vorsicht – und dann beide im Zusammenhang mit der konkreten Situation zu diskutierten. Ideen ohne solche Alternativen sind grundsätzlich unersättlich und enden erst durch Implosion oder Explosion.

 

Über Wirtschaft und Gelungenes Leben

Schumacher zitiert Gandhi „…dass die Erde genug bietet, um das Bedürfnis eines jeden Menschen zu befriedigen, nicht aber seine Habsucht“ und stellt fest: „Jede Zunahme von Bedürfnissen erhöht die Abhängigkeit des Menschen von äußeren Mächten und somit seine Existenzangst“, man müsse daher ein Höchstmaß an Wohlbefinden mit einem Mindestmaß an Verbrauch anstreben.Und Leopold Kohr meinte ähnlich „… denn der Zweck der wirtschaftlichen Aktivität ist nicht der Anstieg der Produktion, sondern die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse.“

 

Über Entwicklung und Globalisierung

Kohr und Schumacher haben zwar vor dem im wahrsten Sinne des Wortes „durchschlagenden“ Erfolg der modernen Globalisierung gelehrt, doch kann an ihrer Skepsis gegenüber dieser Entwicklung kein Zweifel bestehen.

  • Kohr brachte seine Einstellung dazu auf den Punkt: „Was wir grundlegend zum Leben brauchen, sollte möglichst aus der Region kommen, die regionalen Liefer- und Arbeitskreisläufe in kleinem und mittleren Rahmen stärken und dadurch Wohlstand vermehren, gleichgültig in welchem Winkel der Welt“. Mit anderen Worten: von jenseits der eigenen Region ist kaum mehr als Luxus zu holen. Diese Einsicht haben sie vertieft:
  • Wo die soziopolitischen Standards eines (Entwicklungs-)Landes nicht hoch genug sind, um mit den Partnern im internationalen Warenaustausch auf Augenhöhe zu agieren, können diese Länder nicht gedeihen; d.h. die Austausch-Relationen verschlechtern sich, es kommt beim Schwächeren zum Ausbluten der menschlichen und natürlichen Ressourcen. Konkret muss die Wirtschaftsstruktur eines Volkes (ein-schließlich seines technologischen Bildungsniveaus) mit seinem „common sense“ für die Bedürfnisse und Abläufe der Gesellschaft im Einklang stehen; zentral sind dafür Dinge wie Solidarität, Rechtsstaatlichkeit, Steuermoral etc.
  • Diese soziopolitischen Standards können nur schrittweise aufgebaut werden und müssen dem Muster der geschichtlichen Entwicklung folgen: zunächst zu dörflichen Strukturen mit ihren ersten Ansätzen zu arbeitsteiligen Verfahren; dann zu kleineren Regionen oder Stadt-Staaten, wo bereits Leicht-Industrie möglich ist; weiter dann zu Nationalstaaten mit der gesamten industriellen Palette und schließlich zu den verschiedenen Formen internationaler Integration.
  • Der Lauf dieser Entwicklung unterliegt jedoch Einschränkungen: Von außen kommende Finanzhilfen und ähnliche Formen unentgeltlicher Entwicklungshilfe stören Preisgefüge und common sense, verlangsamen also die soziopolitische Entwicklung. In ähnlicher Weise schwächt auch die verfrühte Einführung von Hoch-Technologie die Gesamt-Entwicklung, vor allem durch die „Freisetzung“ von Arbeitskräften. Schumacher hat zur Lösung dieses Problems das Konzept der angepassten bzw. Zwischen-Technologie entwickelt; diese ist zwar effizienter als traditionelle Technologien, jedoch billiger und vor allem arbeitsintensiver als die Hochtechnologie.Demokratie ist in frühen Entwicklungsphasen eines Landes nicht hilfreich, da sie zur Bevorzugung von Konsum- gegenüber Infrastruktur-Ausgaben neigt.

Von Kohr und Schumacher nicht ausdrücklich, wohl aber sinngemäß ausgedrückt: Die nationale und internationale Ebene liegt im Gegensatz zu der regionalen Ebene meist jenseits des Menschlichen Maßes. Auch wenn ihre soziopolitischen Standards (insbesondere die Solidarität) geschichtlich gewachsen sind, ist ihr weiterer Bestand gefährdet, sobald sie von der regionalen Ebene nicht länger unterstützt werden. Mit anderen Worten: verkümmern auf nationaler Ebene die mühsam erarbeiteten soziopolitischen Standards – etwa durch Vertrauensverlust wegen Korruption, Missmanagement oder Oligarchentum – wird man den Schwerpunkt des politischen Geschehens tunlichst wieder auf die regionale Ebene zurückführen, bevor man mit dem Wiederaufbau der höheren Ebenen beginnt.

Die Einsichten Kohrs und Schumachers fußen auf Grenzen, die dem menschlichen Erkenntnis-Apparat durch die biologische Evolution gesetzt sind. Wie im Kapitel „Die Vernunft und das Ceteris-paribus-Syndrom“ beschrieben, ist ihr Hintergrund naturgesetzlich, daher sind politische Versuche zum „Dehnen“ dieser Grenzen sinnlos, ja wegen ihrer schwer absehbaren Rückwirkungen auch gefährlich. Wer das nicht glaubt, kann ja gleich an den Papst als Stellvertreter Christi schreiben und ihn bitten seinem „Chef“ dazu zu bringen, die Halbwertszeit radioaktiven Abfalls zu halbieren, Pestizid-Ablagerungen aus der Nahrungsmittel-Kette zu entfernen und tunlichst auch die Gesetze der Thermodynamik und Entropie etwas wirtschaftsfreundlicher zu gestalten (ja, ich weiß, Ironie ist Bringschuld….) . Für die Politik im weitesten Sinne lassen sich sowohl die Lehre der beiden Pioniere als auch die Kernaussage dieses Abschnitts etwa so zusammenfassen:

  • Menschen-Natur verlangt Menschliches Maß, Menschliches Maß verlangt Überschaubarkeit;
  • Ideologien und Große Idee ignorieren die Grenzen der Überschaubarkeit und führen in den Exzess, solange sie sich nicht an anderen Ideen zu messen haben;
  • das Überschreiten der Überschaubarkeitsgrenze mag in Ausnahmefällen sinnvoll sein, diese Fälle unterliegen dann aber einer ständigen Beweislast.

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