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Erkenntnis braucht also Überschaubarkeit als nachhaltige Grundlage für Menschliches Maß, Kooperation und gutes Leben. Das führt zu der in diesem Abschnitt untersuchten Frage, wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Institutionen aussehen müssten, um diesem Erfordernis gerecht zu werden. Ich verwende hier sehr bewusst den Konjunktiv „müssten“, da ich auch der Frage nicht ausweichen werde, wie realistisch die Umsetzung solcher Rahmenbedingungen ist; man begibt sich damit aber auf das Gebiet von Prognosen, die schon laut Karl Valentin besonders schwierig sind, wenn sie die Zukunft betreffen.

 

Oligarchie gegen Demokratie
Unterwegs zur Post-Demokratie?

Winston Churchill hielt “Demokratie für die schlechteste Regierungsform, ausgenommen alle anderen“. Mahatma Ghandi war da etwas präziser, wenn er zur Demokratie nur kurz bemerkte: „oh, it is a beautiful idea“. Was er in einem nicht ausgesprochenen Nachsatz im Raum stehen ließ, war das ewige Auseinanderklaffen zwischen dem hehren Ideal der Demokratie und ihrer viel weniger schönen Praxis. Optimisten werden daher auch nicht müde, Demokratie als eine ewig verbesserungsbedürftige Baustelle anzusehen.

In der Menschheitsgeschichte ist Demokratie ein sehr junges Pflänzchen. Die Stammesgesellschaft war hingegen mindestens 40.000 Jahre lang weltweit das einzige politische System – also in einem auch genetisch relevanten Zeitraum. Dort herrschte für alle Stammesgenossen volle Überschaubarkeit, und wurden politische Entscheidungen nach langem „großen Palaver“ im Konsens getroffen, womit die ganzheitliche Sicht garantiert werden sollte; die Rolle des Stammeshäuptlings blieb dabei zumindest im Frieden sehr beschränkt. Die Frage Demokratie oder Diktatur stellte sich erst, als sich mit dem technischen Fortschritt die Dinge beschleunigt haben, und das Palaver unter dem ständigen Entscheidungsdruck abgekürzt werden musste. Waren die Probleme zwar dringend, aber nur kurzfristig oder einfach strukturiert, war die Diktatur im Vorteil; umgekehrt reüssierte die Demokratie bei komplexen Fragen, weil sie Fehlentscheidungen leichter korrigieren kann – spätestens beim nächsten Wahlgang. Mit anderen Worten: wenn Diktatoren keine Fehler machen, dann bleiben sie – und je mehr Fehler erwartet werden können, desto besser die demokratische Regierungsform. Aber auch die Reparaturfähigkeit der Demokratie stößt heute an ihre Grenzen, weil einerseits die Welt immer komplizierter wird, die ganzheitliche Sicht der Dinge aber andererseits mehr und mehr verloren geht.

Noch im Wende-Jahr 1989 schien die Demokratie mit dem Ende des „Kommunismus“ den endgültigen Durchbruch als beste – oder zumindest erträglichste – Regierungsform geschafft zu haben, was Francis Fukuyama bekanntlich etwas voreilig vom „Ende der Geschichte“ träumen ließ. Wenige Jahre später sieht die Lage wieder anders aus; denn bei allgemeinen Wahlen erhalten nun Parteien deutlich verstärkt Zulauf, die den Anschein erwecken, an der Demokratie nicht nachhaltig interessiert zu sein – sei es, dass sie nationalistische Aggressionen fördern, zentrale Umweltfragen ignorieren, finanzpolitisch absolut unverantwortliche Forderungen aufstellen, ein Mindestmaß an sozialer Solidarität vermissen lassen oder überhaupt in Total-Opposition zum „herrschenden System“ stehen. Zwar hat es schon immer reine Protestparteien und Populisten gegeben, doch konnten sie in reifen Demokratien kaum mehr als 10 bis 15 % der Wählerstimmen erhalten; bei den italienischen Parlamentswahlen vom Februar 2013 waren es aber schon 60% der Wähler! Ähnliches zeichnet sich auch in anderen etablierten Demokratien ab – und zwar einschließlich der USA, sollten dort die Fundamentalisten religiöser, ultra-liberaler und/oder militaristischer Prägung weiterhin an Boden gewinnen.

Offenbar läuft die Demokratie heute im Leerlauf, die Möglichkeiten der Partizipation und Eigenverantwortung werden nicht wahrgenommen, die demokratische Fassade ist jedoch noch intakt. Ingulfir Blühdorn, ein in England lehrender deutscher Politikwissenschaftler, nennt das die »simulative Demokratie«. Wir erleben darin, so seine These, einen schleichenden Formwandel des Politischen, in dem sich demokratische Verfahren, ja sogar die Idee des demokratischen Souveräns selbst gewissermaßen überlebt haben, gleichzeitig aber mehr öffentliche Zustimmung finden denn je – und deshalb als »Simulation« sorgfältig kultiviert werden . Schon kurz zuvor hat sein britischer Kollege Colin Crouch den Begriff der „Postdemokratie“ in Umlauf gesetzt; dessen Bedeutung läuft darauf hinaus, dass wir uns auf Gemeinwesen zubewegen, die zwar formal am Modus von Wahlen festhalten, die aber von konkurrierenden Teams professioneller Berater und Medienexperten gesteuert werden, die die Wahlkämpfe zu einem Spektakel verkommen lassen. Es handelt sich um eine neoliberale und technokratische Form der Verwaltung der Bürger, die auf ihre politische Enteignung hinaus läuft. Wie (nicht nur) Crouch feststellt, sind ihre Nutznießer regelmäßig – bei sich verschärfender sozialer Polarisierung – kleine special interest groups.

Zum gleichen Resultat führt der Trend zur Parteien-Demokratie: Zunächst wurde Montesquieus Gebot der Gewaltentrennung durchlöchert, indem die Legislative der Exekutive faktisch untergeordnet wurde – erspart sich doch eine über solide Mehrheiten verfügende Regierung damit „unnötige“, weil Zeit und Energie raubende Diskussionen. In der Politik gibt es aber keine absoluten Gewissheiten, und offene Diskussionen sind daher am besten geeignet, Irrwege zu vermeiden; kurz, „Demokratie lebt vom Zweifel, der den Disput nährt,“ wie die deutsche Grün-Politikerin Antje Hermenau dazu knapp und überzeugend festgestellt hat. Innerparteiliche Debatten können das ihrer Überzeugung nach nicht ersetzen; denn „dort entstehen eher Selbstvergewisserungs-Gemeinschaften. So erweckt (die deutsche) Parteienpolitik zurzeit den Eindruck, einer wenig vorhersehbaren Zukunft nicht gewachsen zu sein. Das Band zur Bevölkerung reißt“, führt doch das Fehlen offener Diskussionen dazu, dass die vielen schweren „Kulturbrüche unserer Zeit nun als Ohnmacht erlebt werden.“

Die Postdemokratie mutiert in diesem Szenario also schon aus einer internen Dynamik heraus zum leeren Gehäuse und zur Parodie einer vollwertigen Demokratie. Leider ist diese – zumindest in Europa – seit dem Jahr 2014 auch außenpolitisch unter schweren Druck geraten: Fukuyamas Traum vom Ende der Geschichte war schon deshalb falsch, weil selbst die Vision von der endgültigen Abschaffung des Krieges nicht gehalten hat.

Zwar lassen sich für die Gefährdung der Demokratie die verschiedensten Begründungen anführen, ein einigendes Band stellt jedoch das Feindbild des Mammon dar: Letztlich ist es den großen Egoismen kleiner Gruppen von ökonomischen und politischen Manageristen zuzuschreiben, dass die Demokratie mehr und mehr bis auf ihre formale Hülle ausgehöhlt wird. Ihr modus operandi ist dabei sehr einfach: das kurzfristige Interesse an ungestörtem Geschäftsablauf hat Vorrang vor den Mühen der Abwehr von langfristig schlagend werdenden Gefahren.

 

Bedrohung durch Oligarchie

Mammon und seine Manageristen, das ist das Zusammenspiel von Crouchs special interest groups, genauer gesagt das Regierungssystem der Oligarchie; als die „Herrschaft der wenigen“ kannten es schon die alten Griechen.

Gestützt auf die Wissenschaftsgläubigkeit können Manageristen heute straflos behaupten, die Welt sei so kompliziert geworden, dass nur mehr wenige Menschen sich darin auskennen können. Daher braucht die heutige Massen-Demokratie echte Eliten in Parteien und Verbänden, aber auch in sonstigen Großorganisationen. Aus diesen Eliten werden mit der Zeit aber Oligarchen, die ihre Machtpositionen mit Erfolg gegen das „gemeine Volk“ abschirmen. Sie geben in gewundenen Sätzen zu verstehen, die Komplexität der Dinge erlaube heute demokratische Entscheidungen nur mehr in Randfragen, über Wichtiges müsse man daher die Experten walten lassen. Fürst Hans-Adam II von Liechtenstein stellt zu Recht fest , dass heute im Dreieck von (Erb- oder Wahl-) Monarchen, Oligarchen und einfachem Volk – ein Dreieck, das so alt ist wie die Menschheitsgeschichte – die Oligarchen unter Berufung auf ihre hohe Sachkompetenz viel zu mächtig geworden sind und zu Gunsten von Volk und Monarchen zurückgestutzt werden müssen. So sollte der Staat im dritten Jahrtausend bestrebt sein, die beiden schwächeren Elemente durch Abbau von Komplexität zu stärken und damit ein harmonischeres Verhältnis erreichen.

Diese Einsicht deckt sich mit dem von Roberto Michels schon 1911 formulierten „Ehernen Gesetz der Oligarchie“. Auf Basis von Fallstudien zur deutschen Arbeiterbewegung untersuchte Michels die Entwicklung von formalen und informellen Entscheidungsstrukturen. Demnach konzentrieren sich Führungsgruppen in Organisationen zunehmend auf eigene Interessen, persönlichen Nutzen und deren Absicherung durch den bloßen Erhalt der Organisation. Die einstigen Ziele der Gruppe, an deren Spitze sie stehen, treten so in den Hintergrund. Führungsgruppen versuchen demnach, die „Massen“ zu lenken, selbst dann, wenn die herrschende Ideologie dieser Gruppierungen das Gegenteil anstrebt. Heute stehen Michels Thesen wieder im Zentrum der sozialwissenschaftlichen Forschung und werden in so unterschiedlichen Forschungsfeldern wie der Radikalisierung von Kirchen, der Institutionalisierung der neuen sozialen Bewegungen oder selbst der – anfangs radikal demokratisch konzipierten – Organisation Wikipedias diskutiert.

Oligarchien sind zunächst Erfolgsgeschichten. Sie entstehen und halten sich, weil einem ersten Erfolg von Führungspersönlichkeiten – also von echten Eliten – viele weniger tüchtige (und daher defensiv eingestellte) Nachahmer folgen, und diese sich in einem typischen Gruppeneffekt gerne abschotten. So lange demokratische Strukturen intakt sind, geschieht das freilich nur in einigermaßen komplexen Situationen, in der sich nur die Wissenden gut zurecht finden können. Die Dinge komplizierter darzustellen als sie tatsächlich sind, liegt daher im Interesse der alt gewordenen Eliten, und dies ist heute auch Quell ihrer Macht. Kurz, nachhaltige Komplexität macht aus Eliten Oligarchien, und wer nach Überschaubarkeit ruft – darüber muss man sich klar sein – der macht sich damit zum Feind dieser Oligarchen!

Oligarchien gibt es, wie gesagt, überall, und immer deutlicher wird auch ihr Zusammenschluss im Sinne Mammons. Das geht so weit, dass man heute von einer Neuauflage des alten Feudalismus sprechen kann: Zwar haben wir es vordergründig mit einer demokratisch verbrämten „Expertokratie“ zu tun, doch hinter den Experten stehen eben diese special interest groups als die wirklichen Feudalherren, die durch Bestellung „ihrer“ Experten und Einflussnahme auf „ihre“ Medien zu den gewünschten Ergebnissen kommen. Und so wie im alten Feudalismus die ersten beiden Stände, der Adel und der Klerus geherrscht haben, so sind offenbar auch heute zwei Gruppen dabei, gemeinsam die wahre Macht zu übernehmen: Nennen wir sie etwas überspitzt „die Politiker“ und „die Banker“. Beide huldigen dem extremen Kapitalismus, wie er lange Zeit in der neo-liberalen Mont Pelerin Society vorgezeichnet wurde und heute vor allem im Basel Committee on Banking Supervision praktiziert wird (1974 von den Zentralbanken und Bankaufsichtsbehörden der wichtigsten Industriestaaten gegründet).

Selbstverständlich gibt es unter den „Politikern“ und „Bankern“ genauso wie beim alten Adel und Klerus viele Menschen, die das Feudal-System ablehnen und das Prinzip der Chancen-Gleichheit bevorzugen. Allein, sie sind meist im wahrsten Sinne des Wortes ohnmächtig – sei es, dass sie als junge Kritiker schon nach dem ersten Protest auf Abstellgeleise gestellt werden, oder dass Ihnen später ganz einfach der Mut zum Beschreiten alternativer Wege fehlt.

Der Verbund der beiden Oligarchien hat nichts Gestaltendes an sich. Vielmehr ist er das Ergebnis eines geistigen Vakuums, das zur Verteidigung des Status quo zwingt und zu diesem Zweck bewährte Ideen in den Exzess treibt – Wachstumsstreben, Monetarismus, extremer Individualismus und materialistische Wissenschaftsgläubigkeit bleiben also ohne Maß und Gegenidee.

Hier einige weitere Gemeinsamkeiten zwischen alten und neuen Feudalherren:

  • Ziemlich gleich geblieben ist die Abschottung gegen Einflussnahmen durch die Masse der „einfachen Bürger“. Zwar war früher die „höhere“ Geburt dafür maßgeblich, nun ist es vordergründig die echte oder auch nur behauptete Beherrschung komplexer Fragen, also von allem was man glaubt, „den Menschen draußen“ nicht zumuten zu können. Dass die offizielle Bestätigung solcher Fähigkeiten durch oligarchische Netzwerke und Old-boys–Vereinigungen besonders „hilfreich“ sein kann, liegt wohl auf der Hand.
  • Interessant sind die Ähnlichkeiten im zweiten Stand: Sowohl der frühere Klerus als auch die modernen Banker beanspruchen für sich höchste gesellschaftliche Deutungshoheit, wobei sich erstere auf Gott und letztere auf „die Märkte“ berufen.
  • Entscheidend ist wohl, dass sich die neuen Feudalherren so wie die alten voneinander abhängig gemacht haben. Ihr immer schon bestehendes Naheverhältnis steigerte sich zur vollen Abhängigkeit, als es 1971 mit dem Ende der (am US-Dollar hängenden) fixen Wechselkurse zur endgültigen Aufgabe des Goldstandards kam: Der innere Wert von Geld verkümmerte damit zum bloßen Glauben an das Zahlungsversprechen eines Staates oder seiner Zentralbank. Einer keineswegs wunderbaren Geld-Vermehrung stand nun nichts mehr im Wege, die regierenden „Politiker“ konnten nun unbeschränkt Staatsanleihen begeben, die die „Banker“ gerne dem Publikum weiter verkauften. Auch die „Banker“ können durch Kreditvergabe grenzenlos Geld schöpfen („fiat-money“); denn sie müssen bei der jeweiligen Zentralbank für jeden neu vergebenen Kredit nur einen Bruchteil als Sicherheit hinterlegen – ja sie können sogar für diese Einlagen eben diese Staatsanleihen abschlagsfrei verwenden – ein finanzielles perpetuum mobile. Und wen wundert da, dass „die Politiker“ die Ausarbeitung von neuen Regeln zur Kontrolle exzessiver Bankgeschäfte den Experten, eben diesen „Bankern“, überlassen?

Gewiss ist dieser Neo-Feudalismus in den USA schon seit langem ausgeprägt, mag er auch unter Präsident Reagan zur vollen Blüte gelangt sein. Seine besonderen Kennzeichen sind einerseits seine Einbeziehung der großen Rüstungskonzerne (the military-industrial complex, vor dem schon Eisenhower gewarnt hat); und andererseits das Karussell der Führungspersönlichkeiten, die von Banken ins Finanzministerium, dann in die Börsen- und Finanzmarktaufsicht und schließlich wieder in die Banken rotieren – stets umschwirrt von Lobbyisten aus demselben Dunstkreis. In Europa wurde die Probe auf das Exempel des Neu-Fundamentalismus schon 1993 mit dem Maastricht-Vertrag gelegt, als im Zuge des globalen Deregulierungs-Trends jede Beschränkung des Kapital- und Zahlungsverkehrs zwischen den EU-Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten wurde, gleichzeitig jedoch Vorkehrungen für eine entsprechende internationale Missbrauchs-Kontrolle ganz einfach „vergessen“ wurden. Mit anderen Worten: Es war den Verhandlern des Maastricht-Vertrages durchaus recht, dass den transnationalen Konzernen damit eine neue Dimension auch zur Steuer-Vermeidung eröffnet wurde, blieben doch die Instrumente zur Bekämpfung dieser Praxis weiterhin auf die einzelnen Nationalstaaten beschränkt, die mit diesen Aufgaben völlig überfordert sind. Aber nicht genug damit, hat das Fehlen internationaler Kontrollen natürlich einen Standort-Wettbewerb um den „liberalsten“ Finanzplatz ausgelöst, wo auch andere sozial extrem schädliche Dinge „legal“ sein sollten, wie etwa Schwarzgeld-Konten, die Duldung von Schein-Banken oder abenteuerlichste Derivate und Leer-Verkäufe. All dies geschieht bis heute ohne jede Wertschöpfung und führte damals – wegen der gesteigerten Profitmargen der Finanzwirtschaft – zur Ent-Industrialisierung Europas.

Der Maastricht-Vertrag sollte nicht der einzige neo-feudale Sündenfall der Europäischen Union bleiben; zu nennen wäre da etwa:

  • Die EU-Kommission betreibt auffallend oft Gesetzes-Initiativen, die offiziell dem Konsumentenschutz dienen sollen, tatsächlich jedoch die Produktions- und Vertriebs-Bedingungen von Groß-Konzernen erleichtern bzw. die Wettbewerbsbedingungen von Klein- und Mittel-Unternehmen erschweren (etwa über aufwändige Registrierungen). Besonderer Nutznießer dieser Praxis ist die Agro-Chemie.
  • Kommissions-Unterlagen für die EU-Gipfeltreffen und -Ministerräte lesen sich auffallend oft wie Blaupausen von Beschlüssen der European Round Table of Industrialists (ERTI)), einer Lobbying-Organisation von rund 50 Wirtschaftsführern (Stand 2013) großer europäischer, transnationaler Konzerne mit Sitz in Brüssel. Ziele des schon 1983 gegründeten Forums sind das Entwickeln langfristiger wirtschafts- bzw. kapital-freundlicher Strategien und die Stärkung des eigenen Lobbyismus.
  • Im Zuge der Finanzkrise unterstützte die EU-Kommission ganz klar den Trend zu Größe und „systemrelevanten“ Banken, ganz nach dem fatalen Motto „too big to fail“. So wurde auch über Vorschlag von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso ein siebenköpfiger Weisenrat bestellt (de Larosière Group), der ausschließlich aus Vertretern systemrelevanter Banken oder ihnen zuzurechnenden Personen besteht. Die Interessen der kleineren Banken – die als Gruppe aber mindestens so „system-relevant“ sind – und die Interessen der Bank-Kunden aus der Realwirtschaft sowie der Steuerzahler blieben dabei unberücksichtigt.
  • Notorisch ist die Förderungspolitik: Ganz eindeutig wächst die Aussicht auf EU-Förderung mit der Größe der antragstellenden Unternehmen.
  • Die Anfang 2014 von der EU-Kommission veröffentlichten neuen Ziele der Klima-Politik sind reichlich ambitionslos und entsprechen überdeutlich den Interessen der Groß-Industrie.
  • 2015 musste das Europäische Parlament einer Gesetzesinitiative zustimmen, die die (teilweise) Abschaffung der Roaming-Gebühren an die gleichzeitige Aufgabe der Netz-Neutralität koppelt – also ein kleines Zuckerl an im Ausland urlaubende Bürger gegen ein Geschenk an große Telekom-Firmen, die nun kleine Konkurrenten aus dem Markt drängen können.

Mit diesem Neo-Feudalismus hat Mammon eine neo-liberale Globalisierung erreicht, die ganz auf dem Konkurrenz-Prinzip von unstrukturierten Gesellschaften beruht. Wie sehr das zu einer Verkehrung von Mittel und Zweck in der Politik führt, beschreibt Christian Felber in seiner bemerkenswerten Analyse „Retten wir den Euro!“ : Nicht Menschenrechte, Umweltschutz, Verteilungsgerechtigkeit und Demokratie sind die Ziele des Globalisierungsprojektes, sondern

  • Freihandel ohne Steuerkooperation, Gesundheits- und Umweltstandards
  • freier Kapitalverkehr selbst für Hochrisikoprodukte und Steueroasen

Globaler Eigentumsschutz für Konzerne inklusive globaler Einklagbarkeit – wa bei dem International Centre for Settlement of Investment Disputes bei der Weltbank.

 

Groß-Baustelle Demokratie: Die Grundlagen
Keine Alternative zur überschaubaren Demokratie

Politiker haben es heute schwer: Sie müssen sich einerseits ständig Vorwürfe der Korruption und Unfähigkeit pauschal gefallen lassen; andererseits beginnt sich – vor allem mit Hilfe der neuen sozialen Medien – viel vom politischen Geschehen auf die Ebene der Zivilgesellschaft zu verlagern. Interessanterweise werden dabei zwar Korrekturen am Demokratie-Modell vorgeschlagen, vom Grundsätzlichen her bleibt aber die Stellung der Demokratie als einzig sinnvolle Regierungsform unangefochten – ganz im Sinne des Churchill-Zitats. Das kann man als (weiteres) Indiz dafür sehen, dass die große demokratische Idee weiterhin gut ist und „nur“ etwas über das Menschliche Maß hinaus geraten ist. Wie gezeigt wurde, liegen die tieferen Gründe dafür in unmäßiger Komplexität. Aber wie konnte es soweit kommen?

Einmal mehr ist es die fehlende Überschaubarkeit, und zwar sowohl auf der Ebene der Regierten als auch auf der der Regierenden. Auf eine treibende Kraft dieser Entwicklung habe ich schon verwiesen, nämlich das immer notwendiger werdende Expertentum samt dessen Tendenz zur Selbst-Rekrutierung der Volksvertreter, bis hin zur Bildung von Seilschaften und Oligarchien.

Die andere, wesentlich gewichtigere Ursache liegt in der Vernachlässigung lokaler Erfahrungen, die notwendig wären, um die sozio-politischen Standards eines modernen Zentralstaats lebendig und nachvollziehbar zu halten. Denn wie schon im Resümee der Lehren Kohrs und Schumachers erwähnt, können diese Standards – und insbesondere die Solidarität – nur schrittweise „von unten nach oben“ wachsen, also von der dörflichen über die regionale hin zur nationalen und internationalen Ebene. Nicht genug damit, ist auf der höheren Ebene auch ihr weiterer Bestand gefährdet, sobald sie von der unteren Ebene nicht länger unterstützt wird – sei es, dass sie dort „unten“ im Laufe der Zeit ausgehöhlt wurde, oder man die höhere Ebene viel zu früh darüber gestülpt hat, sodass sie sich nicht ausreichend entwickeln konnte. Denn es kann ja vom Bürger nicht erwartet werden, dass er der unüberschaubaren oberen Ebene mehr Vertrauen entgegen bringt als der voll überschaubaren unteren. Es ist daher sehr unvernünftig, was wir heute beobachten müssen: Weil Überschaubarkeit nicht zählt und Zentralismus samt Einheitlichkeit als fortschrittlich gelten, schauen allzu viele nur allzu gerne herab auf „Kirchturmdenken“, „Kantönli-Geist“ und „dumpfen Provinzialismus“ – womit die mühsam erarbeiteten sozio-politischen Standards „unten“ und wenig später auch „oben“ verkümmern.

Für den gewissenhaften Nationalstaats-Politiker ist das eine schlimme Sache. Während er unter Dauerverdacht des Machtmissbrauchs steht, muss er sich auf horrende Arbeitszeiten ohne normales Familienleben einstellen und im Regelfall auf angemessene Honorierung verzichten. Weil wegen der Komplexität aller politischen Dinge sowohl seine politische Gestaltungsfreiheit als auch seine Überzeugungskraft gegenüber dem gemeinen Publikum im Keller liegt, wird er oft auch an seinem Berufs-Ethos verzweifeln. Und extrem düster wird es, wenn er sich vor Augen führt, was die Quintessenz von Peter Druckers klassischem Buch “Ursprünge des Totalitarismus: Das Ende des Homo Oeconomicus“ ist : Zwar mag der Einsatz für Gerechtigkeit und Freiheit schon seit Jahrhunderten die Grundlage westlicher Gesellschaften sein, ganz besonders auch der Demokratie; gewinnt aber die Bevölkerung eines Landes den Eindruck, dass ihr Regierungssystem diesen Einsatz nicht mehr ernst nimmt – wozu auch die entsprechende Pflege emotionaler Bindungen einschließlich der Identität gehören sollte – wird sich dieses System nicht halten können, und macht der Totalitarismus leichte Beute. Genau diesen Eindruck bekommen heute immer mehr Bürger von ihrer in vielerlei Exzesse getriebenen demokratischen Regierungsform! Gewissenhafte Politiker und ihre Wähler werden daher gut daran tun, die Grundlagen der Demokratie unter den Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts neu zu überdenken. Wie beim Unterfangen instabil gewordener Kellermauern muss man da ganz, ganz unten anfangen – also auf der Ebene von Gemeinde und Region; und erst wenn man dort wieder stabile Strukturen hat, wird Politik auch auf nationaler und internationaler Ebene belastungsfähig gemacht werden können.

Die Baustelle Demokratie soll man nicht ohne Plan besteigen. Bevor man entscheidet, was wir als Bürger konkret tun können, und was – darauf aufbauend – dann auch die klassische Politik umzusetzen hat, sei daher zunächst beleuchtet, welche Rolle die in diesem Buch so gepriesene Überschaubarkeit in einer Demokratie konkret zu spielen hat, und welche Barrieren da zu überwinden sind.

 

Subsidiarität

Das Wesen der Demokratie ist die Überzeugung, dass das gemeine Volk nicht blöde ist und daher – erstens – sich selbst regieren kann und es – zweitens – etwaige Fehlentscheidungen spätestens bei der nächsten Wahl korrigieren kann. Damit diese Selbstregierung funktionieren kann, ist in allen gesellschaftlichen Dingen lebendige Überschaubarkeit gefordert. Diese ruht auf zwei Säulen: Subsidiarität und Rückkoppelung.

Der erste Begriff stellt auf die Entfaltung von individueller Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ab. Danach sollten Aufgaben so weit wie möglich selbst-bestimmt unternommen werden, also wenn möglich vom einzelnen Bürger und sonst von der kleinsten Gruppe oder der untersten Ebene einer Organisationsform, etwa den Gemeinden. Nur wo dies nicht möglich ist oder mit erheblichen Hürden und Problemen verbunden ist, sind sukzessive größere bzw. übergeordnete Gruppen oder öffentliche Kollektive berufen, wie Bundesländer und Kantone, dann Staaten sowie darauf aufbauende Organisationen wie die EU und UN, die diese Aufgaben „subsidiär“ unterstützen. Für diesen Zweck wird ein Zurückdrängen der individuellen Selbstbestimmung – als das geringere Übel – in Kauf genommen. Die katholische Soziallehre hat dieses Subsidiaritäts-Prinzip schon im 19. Jahrhundert gefordert und zunächst vorwiegend moralisch begründet. Leopold Kohr hat ihm unter dem Titel des Menschlichen Maßes auch die erwähnte psychologische, ökonomische und philosophische Basis gegeben (dass die katholische Kirche die Schützenhilfe Kohrs bis heute ignoriert hat, ist freilich ein anderes Thema).

Für die Schlussfolgerung, dass die Vorteile von Subsidiarität und Überschaubarkeit am ehesten in kleinen Gemeinwesen gedeihen, finden sich leicht Belege: Eine 2010 veröffentlichte Auswertung von UN-Statistiken über 223 unabhängige Staaten und Territorien zeigt es; die Dezentralisierungsstudie der Europäischen Union aus dem Jahr 2009 zeigt es; und die Schweizer beweisen es jeden Tag: Kleine politische Einheiten administrieren billiger als große und geben ihren Bürgern bei weniger Bürokratie mehr Gesundheit, Einkommen, Wohlbefinden und Bildung. Gleiches gilt für Bundesstaaten gegenüber zentral verwalteten Staaten.

Offenbar ist der schon angesprochene ganzheitliche Flankenschutz – als die evolutionsgeschichtlich begründete Forderung nach Überschaubarkeit und Subsidiarität – in kleinen Einheiten stärker wirksam. Es scheint zwar tief in unserem Vernunft-Denken zu stecken, dass störende Komplexität am ehesten durch Einheitlichkeit überwunden und diese am besten durch Größe bzw. Zentralismus erreicht wird. Aber Kleingeistigkeit, Dummheit und Korruption sind in großen (bzw. zentral geführten) Gemeinwesen keineswegs seltener anzutreffen – sie können sich dort aber hinter eleganteren Bezeichnungen wie “Sachzwang”, “Umwegrentabilität” oder “legitime Gruppen-Interessen” besser verstecken. Daher fallen Missstände bei den Kleinen, wie schon Kohr festgestellt hat, selbst dem dümmsten Bürger viel früher auf als bei den Untertanen großer Einheiten und können daher auch rascher und billiger korrigiert werden. Originalton Kohr: In einem Kleinstaat würde ein Hitler schon an der Lächerlichkeit seines ersten Auftritts scheitern (den Beleg zu dazu liefert Gerhart Polt in seinem Sketch über Hitlers Leasingvertrag ).

Von “oben” verordnete Einheitlichkeit wird diesen Flankenschutz also meist unterdrücken – und so erweisen sich Einheitlichkeit und Zentralismus einmal mehr als Autobahn zu Maßlosigkeit und unnötiger Komplexität. Bürgernähe und Subsidiarität findet man schließlich nicht dort, wo “oben” sagt, was es nicht braucht; sondern wo “unten” sagt, was es nicht kann.

Ein weiteres und bisher kaum beachtetes Argument für Subsidiarität ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Größe, Komplexität und Lernen: Geht man davon aus, dass die Komplexität politischer Einheiten mit zunehmender Größe exponentiell ansteigt, dann ist klar, dass die für den aufrechten Betrieb notwendige Informationsmenge vor allem bei nicht mehr überschaubaren Einheiten so groß sein muss, dass es zum beschriebenen Phänomen des „Neugier-Schwunds“ durch Informations-Überflutung kommt. So wie unser Gehirn „verdrahtet“ ist, werden dann vor allem Informationen bedrohlichen Inhalts in das Bewusstsein durchkommen – alles, was neu und viel versprechend, aber unerprobt ist, wird hingegen dazu neigen draußen bleiben zu müssen. Im Ergebnis neigen daher große Einheiten zu Versteinerung und Alternativlosigkeit.

Wie ich schon im Exkurs über die biologische Evolution gezeigt habe, stürzt auf den Menschen ständig eine riesige Menge an Informationen ein, und wird über das Bewusstsein nur die Spitze des Eisbergs dieser Informationen verarbeitet. Überschaubarkeit ist unverzichtbar, um den gesamten Informations-Eisberg einigermaßen in Ordnung zu halten; und sie ist dort gegeben, wo der einzelne Mensch nicht selbst aktiv nach allem „Bemerkenswerten“ suchen muss, sondern wo ihm dies „von selbst“ zugetragen wird – sei es innerhalb des Gesichtskreises durch den biologischen „Wächter“ im Kopf oder – mit geringer Zeitverzögerung – durch den „Dorftratsch“ des engeren sozialen Raumes. Daraus ergeben sich zwingend zwei politische Gebote:

  • Politische Information, die über den engeren sozialen Raum hinausreicht – die also politische Ebenen wie Region oder Nationalstaat betrifft – ist Bringschuld der Politik; und diese Schuld hat auch den Zeitraum zu berücksichtigen, der für das allgemeine Verständnis der Information notwendig ist.
  • Vor allem aber: Diese politische Information misslingt, wo sie nur bruchstückhaft erfolgt und damit vom Ceteris-paribus-Syndrom betroffen ist. Die damit einhergehende Verletzung der Subsidiaritäts-Erfordernisse ist gleichzeitig eine Verletzung des Menschenrechts auf seine Menschennatur!

 

Rückkoppelung

Rückkoppelung bzw. Feedback sind Begriffe aus der Kybernetik. Der Grundgedanke dabei ist der des Radars: Das Echo auf meine eigenen Signale soll mir helfen, richtig zu steuern bzw. zu entscheiden. Echo in diesem Sinne ist etwa der Applaus des Publikums, der den Bühnenkünstler zu Höchstleistung anspornt; die Antwort des Marktes auf die Preisgestaltung des Verkäufers; oder Umfragewerte, die der Politiker vor und nach jeder Grundsatzrede studiert.

Die Qualität des gesamten Feedbacks hängt sehr davon ab, wie repräsentativ das empfangene Echo ist: Antworten alle Elemente der Rückkoppelungsschleife („the loop“) oder nur ein kleiner Teil? So schaffen sich, kybernetisch gesehen, die Oligarchien ihre eigene kleine Rückkoppelungsschleife und unterdrücken das Feedback des „gemeinen Volkes“. Auch eine etwaige Über-Länge dieser Schleife und die Komplexität der behandelten Materie sind wesentlich; und last not least der konkrete Mensch, der in der Schleife steht: Letztlich muss gerade bei ihm die für Überschaubarkeit wesentliche „ganzheitliche Zusammenschau“ zumindest in einem Grobverständnis gegeben sein – und dies zu erreichen ist ein höchst langwieriger Prozess.

Fehlt es an diesem Verständnis, weil der Einzelne in seinem ganzheitlichen Verständnis überfordert ist, so kommt es leicht zum Phänomen der „sozialen Falle“: Nahe liegende Vorteile werden genutzt, weil ihre hohen Kosten nicht sogleich in Erscheinung treten. So gut wie überall, wo man hört „ich wäre je blöd, wenn ich das nicht nütze“, bleibt das einzelne Gruppenmitglied hier zwar im Rahmen des gesetzlich Erlaubten, beutet aber das wehrlose Kollektiv zu seinem Vorteil aus.

Kybernetisch gesehen tut er das, weil seine Rückkoppelungsschleife zu kurz greift bzw. nicht geschlossen ist. Im Sinne der schon diskutierten Kooperations-Theorie Martin Nowaks wird man hier eine nicht genügend strukturierte Gesellschaft annehmen müssen, in der das Konkurrenz-Prinzip der Kooperation überlegen ist.

In unserer global vernetzten Welt müssen die Gruppenmitglieder heute also lernen, die zunächst auf den engsten Umkreis beschränkte Kenntnis über Ursache und Wirkung des Feedbacks weiter zu entwickeln und nun auch bestmöglich auf größere Rückkoppelungsschleifen auszudehnen – wie Kohr und Schumacher gezeigt haben: zunächst auf dörfliche, dann auf regionale Gemeinschaften, sodann auf die Nation und schließlich auf internationale Gebilde wie EU und Vereinte Nationen.

Aber small is not always beautiful, um das berühmte Motto zu paraphrasieren. Neben der Kohr (fälschlich) zugeschriebenen „dörflichen Idylle“ gibt es ja auch die „dörfliche Enge“, wo der typische Dorfpascha seinen Nachbarn – dörflicher Kleinheit, Überschaubarkeit und formaler Subsidiarität zum Trotz – das Leben schwer macht. Kybernetisch gesehen wird dieser Pascha zwar das richtige Feedback bekommen, fühlt sich aber stark genug, seinen Mitbürger zu unterdrücken. Und „stark“ kann so ein Pascha nur sein, wenn er alle wichtigen Rückkoppelungsschleifen seines Umfelds blockieren kann – also neben der Politik etwa auch Wirtschaft und Sozialprestige. Da man in größeren Gemeinschaften eine derart überragende Stellung einzelner Paschas nicht so oft antrifft, ist in kleineren Einheiten die Missbrauchsgefahr tatsächlich größer.

Fazit: small is beautiful darf als die Regel gelten, aber der Missbrauch durch Dorfpaschas aller Sorten ist ihre gar nicht so seltene Ausnahme.

 

Groß-Baustelle Demokratie: Agenda der Bürger

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es – und zwar zuerst im Internet! Wie es schon der schöne Reim von Erich Kästner ausdrückt, müssen die Bürger selbst für die Ingangsetzung des Reformwagens aktiv werden; von den etablierten Politikern ist da anfangs nichts zu erwarten, da müsste ihnen das Wasser schon über den Hals hinaus bis zum hoch gestreckten Kinn reichen.

Aber wie gesagt, ist der Wagen mal gut unterwegs, werden sich die Politiker gerne aufs Trittbrett schwingen – und dann werden sie tatsächlich auch gebraucht, wo es um die Umsetzung eines klaren Volkswillens in hoheitsrechtliche Paragraphen geht.

Dass dies tatsächlich gelingt, ist kein naiver Optimismus: Die Aussichten, dass die Bürger der Zivilgesellschaft ohne die „alte“ Politik etwas bewegen können, verbessern sich von Tag zu Tag – einerseits aus der Frustrations-Energie angesichts der Ohnmacht der klassischen Politik, andererseits mit Hilfe der Informationstechnologie und ihrer neuen Formen der Vernetzung. Dazu einige Stichworte:

 

Das virtuelle Dorf

Die Informations-Technologie (IT) erleichtert die Bildung von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs). Als „virtuelle Dörfer“ widmen sie sich jeweils einer besonderen Thematik. Beispiele reichen von Rotary über Amnesty International und Greenpeace zu Ärzte-Ohne-Grenzen etc. Auch Zusammenschlüsse und Plattformen wie Klima-Allianz, Permakultur und Transition Towns gehören dazu. Der Informationsfluss innerhalb dieser NGOs wird heute mit Internet und seinen neuen sozialen Medien derart verdichtet, dass man hier – wenn auch auf das Kernthema der Institution beschränkt – die schon erwähnte „quasi-holistische“ Qualität der Vernetzung erreicht; d. h „wie im Dorf“ bekommt man ungefragt alles Wesentliche mit. Das schon angesprochene no news aus dem Umfeld wird nun endlich wieder good news und damit das Ceteris-paribus-Syndrom entschärft. Diese NGOs verfügen nun über deutlich mehr Flexibilität und können auch über die Medien – und gelegentlich auch über die Straße – mehr Druck auf die staatliche Autorität ausüben.

Auch Facebook und Twitter stärken das virtuelle Dorf. Beide haben, wie erwähnt, viele Ähnlichkeiten mit dem sozialen Raum, wie wir ihn zur Sicherung eines erweiterten „ganzheitlichen Flankenschutzes“ benötigen. Ihr formaler Verzicht auf jede Ortsgebundenheit der „Freunde“ hat große Vorteile gegenüber den geographisch fixierten Gruppen und Netzwerken, erleichtern sie ja über alle Entfernungen hinweg die Pflege persönlicher Beziehungen. Letztlich setzt sich jedoch auch bei ihnen der geographische Ortsbezug deutlich stärker durch. Zur Probe möge man im städtischen Autobus beobachten, mit wem denn die vielen Handy-Gespräche geführt und Messages ausgetauscht werden: Bis auf wenige Ausnahmen sind es durchwegs Menschen, die man vor kurzem gesehen hat und sehr bald wieder sehen wird; kurz, durch IT wird die lokale Vernetzung deutlich mehr gestärkt als die überregionalen Bindungen. Politisch gesehen kann das Internet zwar das Unwissen jenseits des überschaubaren Raumes deutlich mildern, tatsächlich fördert es aber in viel stärkerem Ausmaß die Regionalität!

 

Liquid Democracy

Die Dynamik der IT ist ungebrochen; und schon stehen andere digitale Revolutionen auf dem Prüfstand, die die Möglichkeiten politischer Vernetzung auf eine neue Ebene heben. So insbesondere Liquid Democracy und Delegated Voting: Ersteres verbindet in dynamischer Weise Bestandteile der direkten Demokratie und der repräsentativen Demokratie. Letzteres ist eine Form der gemeinsamen Entscheidungsfindung: Ob nun Fragen innerhalb einer Organisation bzw. Partei oder auch auf völlig offenen Plattformen diskutiert werden, jeder Beteiligte kann entweder selbst sprechen und abstimmen oder seine Stimme jemand anderem übertragen. Dabei kann sich die Übertragung auch nur auf solche Entscheidungen und Bereiche erstrecken, in denen man einer anderen Person mehr Entscheidungskompetenz zutraut. Die Übertragung ist jedenfalls nur temporär und kann jederzeit aufgehoben werden.

Mit Liquid Feedback wurde zu dieser Methode bereits eine Software entwickelt. Ihr Pionier war die Piratenpartei in Schweden und Deutschland; und ihr Gesellenstück dürfte sie in Island bei Ausarbeitung des (2013 letztlich an einer knappen Parlamentsmehrheit gescheiterten) Verfassungsentwurfes geliefert haben. Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass mit diesen neuen Instrumenten das Zusammenspiel der Bürger mit staatlichen Institutionen und „quasi-holistischen“ NGOs verbessert und so weit verdichtet wird, dass ein Vergleich mit der Überschaubarkeit der von Kohr besonders gerühmten Stadtstaaten gerechtfertigt wäre.

 

Zivilgesellschaftliche Teams

Eine gut vernetzte Zivilgesellschaft hängt von Neugier ab und damit auch zwingend von überschaubaren Strukturen; sie wird sich Barrieren einer unverständlichen Komplexität nicht gefallen lassen und daher immer konkreter diskutieren, wie diese Strukturen zu überwinden sind. Als erstes Ergebnis wird es da wohl zur Bildung operativer Teams kommen, die sich an die Ausarbeitung einer politischen Agenda machen. Dabei werden sie nach dem Prinzip der „lowest hanging fruit“ entscheiden, welche Anliegen der Überschaubarkeit als erste anzugehen wären. Natürlich wird jede Region mit ihren Teams eine eigene Agenda zu erstellen haben, ihre Betreiber werden aber von einer überregionalen Vernetzung gut profitieren. Gute Tipps, was jeder gegen politische Missstände tun kann, können diese Teams aus Hasso Homolkas Buch „Jetzt reicht’s – 5o Anleitungen zum Bürgerprotest“ holen. Wie man die Krake Google als dominierende Internet-Suchmaschine umgehen kann, ist dabei sicher nicht der unwichtigste.

 

Die kulturelle Dimension

Am Baum der politischen Agenda dürfte die Kultur recht niedrig hängen, eignet sie sich wegen ihrer Vielfältigkeit doch besonders zur Überwindung allgemeiner politischer Blockierungen. So dürfte es kaum einen Dorf-Pascha geben, der das Kulturgeschehen in seinem Dorf nachhaltig unterdrücken kann – würde er sich doch auf diesem routine-feindlichen Gebiet besonders leicht blamieren und damit einen schwer zu verkraftenden Kontrollverlust einhandeln. Ein von Leopold Kohr gegründetes Musterbeispiel für Kultur im überschaubaren Bereich stellt der Verein TAURISKA im Salzburger Oberpinzgau dar: Sein Auftrag, ist Brauchtum und lebendige Alltagskultu r zuerhalten, Modernes auf spannende Art erfahrbar zu machen; Projekte zu entwickeln und zu begleiten, die wirtschaftlich unabhängiger machen; Heimische Erzeugnisse zur Marktreife zu bringen. Tauriska unterstützt erfolgreich regionale Verwaltungen und Dorfgemeinschaften auf ihrem Weg zu mehr Eigenständigkeit.

 

Medien-Arbeit

Zivilgesellschaft braucht Medien wie Fische das Wasser. Vor allem für Werte-Diskussionen ist ihre Einbindung wichtig; so sollte es nicht schwer fallen, das Interesse der Medien an Diskussionen zu wecken, die etwa das Überschreiten kritischer Punkte feststellen, Gegenideen identifizieren und mit der beschriebenen Drei-Schritt-Methode in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis halten. Schon vorher sollten in Internet-Plattformen die Argumente für Gegenwerte und Gegenideen so präzise formuliert werden, dass sie auch von Massenmedien gerne aufgegriffen werden und damit auf die Oligarchien politischen Druck ausüben.

 

Tauschbörsen und Regionalgeld, Crowd funding und Reform der Marktwirtschaft

Ohne Staat und Notenbankgeld kommen schon heute Institutionen aus, die auf Überschaubarkeit setzen: Die regionalen Tauschbörsen für Dienstleistungen auf der Basis von Zeit-Einheiten sowie die auf Waren-Gutscheinen basierenden Parallelwährungssysteme werden in Zukunft sicher wesentlich stärker werden und die Entwicklung intelligenter neuer Barter-Systeme beflügeln. Auch das Crowd funding als Finanzierungsinstrument des “kleinen Mannes” dürfte sich durchsetzen: Mit dieser Methode der Geldbeschaffung lassen sich Geschäftsideen und vieles andere mit Eigenkapital versorgen, zumeist in Form von stillen Beteiligungen. Ihre Kapitalgeber sind eine Vielzahl von Personen, die in aller Regel über das Internet zusammenfinden.

 

Virtuelle Pranger

Die Zivilgesellschaft wird auch nicht lange zuschauen, wie sich einzelne Mammonisten durch „soziale Fallen“ bereichern und die Allgemeinheit zahlen lassen. Es werden daher wohl „virtuelle Pranger“ entstehen, die – gestützt auf die Verknüpfung offener Daten – in sachlich unangreifbarer Weise asozial handelnde Personen und Institutionen beim Namen nennen, womöglich ergänzt mit einem Ranking etwa der „schlimmsten Zehn“. Shitstorms zeigen allerdings, dass der virtuelle Pranger auch oft zu Missbräuchen führt. Hier liegt es auch im Interesse der Zivilgesellschaft, Instrumente einer Missbrauchskontrolle zu entwickeln. Wie auch immer, die mit dem Pranger erreichte Stärkung gesellschaftlicher Rückkoppelungsschleifen ist jedenfalls ein wertvolles Gut. Mit AVAAZ.org ist im Internet ja schon eine äußerst schlagfertige Plattform entstanden, die mit vielen Millionen Anhängern diese Pranger-Funktion erfüllt und bereits schöne zivilgesellschaftliche Erfolge erzielt hat.

 

Vom Steuer-Bürger zum Staats-Bürger

In dem Maße, wie der (National-)Staat immer weniger in der Lage ist, die Erwartungen seiner Bürger zu erfüllen, gleichzeitig aber seine Steuerlast immer drückender empfunden wird, dürfte sich der Gedanke des Steuerstreiks aufdrängen. Über Soziale Medien gut vorbereitet, sollten solche Streiks zunächst mit großen Vorlauffristen angekündigt werden, um den Staat zu freiwilligen Reformen zu bewegen. Auch ist da internationale Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften zu erwarten, um zunächst das schwächste Glied unter den Hochsteuer-Staaten in die Knie zu zwingen. Selbst politische Konsumentenstreiks sind zu erwarten: So ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Attac ein Boykott vom prominenten Exportgütern derjenigen Länder organisiert, die sich in der internationalen Gemeinschaft asozial verhalten (etwa: keine britische Mode kaufen, solange die Briten Steuern auf Finanz-Transaktionen ablehnen).

Freilich, Internet und Soziale Medien als Instrumente der Zivilgesellschaft sind auch nur eine Idee, die vor Überschätzung, Missbrauch und grobem Unmaß nicht geschützt ist. Unmaß ergibt sich schon daraus, dass das im Internet gewonnene Bild von der Realität verzerrt ist, weil man unsympathische Inhalte mit einem Mausklick viel leichter „aus der Welt schaffen“ kann als in einem persönlichen Gespräch. Die „sympathischen“ Inhalte verstärken sich somit von selbst, oft noch zusätzlich durch Algorithmen. In der Interaktion rastloser Ströme digitaler Information kommt es daher zu einem Preaching to the converted, ganz ähnlich wie die schon erwähnte Entwicklung politischer Parteien zu Selbstvergewisserungs-Gemeinschaften. Wir sehen also eine Herdenbildung von Menschen, die sich gegenseitig ihres Weltbildes versichern und ihr Gemeinschaftsgefühl durch Ablehnung der jeweils anderen Herde bestärken. So haben die digitalen Medien letztlich auch anti-soziale Eigenschaften, weil die Gemeinschaftsbildung, die sie fördern, stets Anti- Gemeinschaftsbildungen mit sich bringt: Es tritt Fraktionierung und Polarisierung ein, man verlernt einander zuzuhören – all das zusätzlich verschärft durch die typische Dauer-Ironie der digitalen Medien, die Spott oft in Hass umschlagen lässt. Offenbar laden sich hier zwei Dinge auf: Die wachsende Informationsflut zwingt uns dazu, mit dem überreichen Angebot an Kontaktmöglichkeiten wählerisch umzugehen; und die heute durch technischen Fortschritt gegebene Möglichkeit, das soziale Umfeld über die Dörflichkeit des ganzheitlichen sozialen Raum hinaus auszudehnen, „erspart“ uns die Konfrontation mit Andersdenkenden.

Ein besonders krasser Missbrauch der IT ist schließlich die schleichende Aushöhlung von Demokratie und Menschenrechten durch geheimdienstliche Überwachung des Internet-Verkehrs, wie sie im Juni 2013 durch Edward Snowdens Enthüllungen offenkundig geworden ist. Dabei erschreckt nicht nur, wie „Big Social Data“ in unvorstellbar großem Umfang und mit voller Kooperation digitaler Medien-Konzerne global und verdachtsunabhängig auf Vorrat gespeichert werden (“Wer Google will, der muss mit PRISM rechnen” ). Schlimmer noch ist die mammonistische Überzeugung, aus dieser Daten-Menge so viel Berechenbarkeit des Menschen herausfiltern zu können, dass man auch glaubt, Strafen nur auf Grund einer Gesinnung – also noch vor der Tat – exekutieren zu dürfen; das reicht von Reiseverboten bis hin zu Todesurteilen, wie den gezielten Tötungen durch Drohnen.

Kurz: Menschliches Maß gehört auch zur Nutzung der digitalen Medien.

 

Großbaustelle Demokratie: Die staatliche Agenda

Texte zu zivilgesellschaftlichen Beschlüssen, aber auch zu Petitionen, Volksbegehren und Gesetzen können über IT rasch formuliert und auf breitester Basis diskutiert und weiter entwickelt werden. Für eine Gesellschaft des Menschlichen Maßes kann die Zivilgesellschaft also die ersten Schritte setzen, staatliches Handeln – und damit Politiker – bleiben aber unersetzlich: Sei es weil die Interessen der Schweigenden und Nicht-Vertretenen gewahrt werden müssen: sei es, weil der Staat nach wie vor das Monopol auf Umsetzung der hoheitsrechtlicher Entscheidungen haben muss. Jedenfalls schreien die geschilderten Probleme mit der Komplexität im Allgemeinen und die Erfordernisse nachhaltig effizienter, weil überschaubarer, politischer Strukturen im Besonderen auch nach umfassenden staatlichen Reformen:

Direkte und repräsentative Demokratie: Natürlich braucht eine gesunde Demokratie in ihren Strukturen den richtigen Mix zwischen Überschaubarkeit und Komplexitäts-Handling. Letzteres erfordert heute in der Regel die repräsentative Demokratie, und Ersteres wird davon abhängen, wie sehr die einzelnen Volksvertreter in der Lage sind, bei ihrer Mandatsausübung ganzheitlich zu denken und zu handeln. Ganzheitliche Qualitäten der Kandidaten sind aber heute nicht gefragt, da sie die Klub-Disziplin gefährden könnten. Soweit die heute vorherrschenden straffen Parteiführungen ihre Kandidaten in erster Linie auf Grund von Expertenwissen auf die Wahllisten stellen, brauchen sie daher Ergänzung durch Elemente direkter Demokratie. Auch außerhalb der Wahlen ist die direkt-demokratische Korrekturmöglichkeit über Bürger-Initiativen bzw. Volksbegehren stark eingeschränkt, weil diese Initiativen von den meisten Parlamenten ignoriert werden können.

Wie sollen da unnötige Komplexität vermieden und ganzheitliche Sichtweisen gesichert werden? Sozusagen als ein anlassbezogenes „fine-tuning“ der periodischen Parlamentswahlen wären zum einen nach Volksbegehren wie in der Schweiz zwingend Volksabstimmungen vorzusehen, sobald (etwa) 10% der Wahlberechtigten ein Volksbegehren unterstützen (was vorangehende verfassungsrechtliche Abklärungen und etwaige Alternativ-Vorschläge der Regierung oder des Parlaments nicht ausschließt). Zum anderen muss die Bindung zwischen dem einzelnen Parlamentarier und seinen Wählern gestärkt werden. Das deutsche Zwei-Stimmen-System kommt dem schon sehr nahe: eine Stimme für die Direktwahl eines Kandidaten, eine zweite Stimme nach dem Listen-System. Eine interessante Variante ist das irische „single transferable vote“, wo in jedem Wahlkreis drei bis acht Mandate zu vergeben sind, und der Wähler auf dem Wahlzettel unter den ihm zusagenden Kandidaten – unabhängig von Parteizugehörigkeit – eine Reihung vornimmt. Die Auszählung der Stimmen ist zwar langwierig, doch spricht das Ergebnis für dieses System: Die Bindung der Abgeordneten an den Wahlkreis ist extrem hoch, gleichzeitig haben (im Gegensatz zum britischen System) auch Klein-Parteien gute Chancen, profilierte Kandidaten durchzubringen.

 

Devolution

Die wohl wichtigste verfassungsrechtliche Aufgabe der Politik ist die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips, also die Anpassung der verfassungsrechtlichen Ebenen Gemeinde – Region bzw. Bundesland – Nationalstaat an das politische Bewusstsein der Bevölkerung. In der Regel werden solche Anpassungen als Devolution erfolgen, also „von oben nach unten“ im Zuge einer Gegenbewegung zum Zentralismus der alten Aufklärung. Maßstab dafür wird das von der Bevölkerung voll mitgetragene Niveau an gesellschaftlicher Solidarität sein, ablesbar an der Bereitschaft selbst für schwer überschaubare Aufgabenbereiche Steuern zu zahlen. In Bundesstaaten sollte daher die Steuerhoheit der Gliedstaaten bzw, Bundesländer selbstverständlich sein; wenn selbst die 15.000 Einwohner des Schweizer Kantons Appenzell-Innerrhoden ihre volle Steuerhoheit gut beherrschen, dann darf da die Kleinheit des Steuergebiets kein Gegenargument sein! Jedenfalls werden Regierungen nur bei Überschaubarkeit ihrer gesamten Tätigkeit genug Respekt vor den Bürgern haben, um sich finanziell maßvoll zu verhalten. Wo Subsidiarität missachtet wird, merkt man im Übrigen gleich am Verschuldungsgrad eines Landes: Für die an ihrer Wiederwahl interessierten Regierungen ist kein Wahlgeschenk zu teuer, was sich bald in der Schuldenbilanz wiederfindet.

 

Subsidiarität auf Zeit

Der Schweizer Politologe Robert Nef hat sehr eindrucksvoll die zeitliche Dimension des Subsidiaritätsprinzips herausgearbeitet: „Wenn man der untergeordneten Gebietskörperschaft das Steuersubstrat wegnimmt, dann fällt es leicht, im Nachhinein eine „Zahlungsunfähigkeit“ zu diagnostizieren, welche eine weitere Zentralisierung rechtfertigt. Ein zentralisiertes Steuersystem wird daher notwendigerweise eine „Unfähigkeit“ untergeordneter Instanzen zur Erfüllung von Infrastruktur-Aufgaben hervorbringen und praktisch eine Einbahnstraße zur Zentralisierung signalisieren. (…) Das Subsidiaritätsprinzip muss daher angesichts der zentralistischen Systemzwänge in dem Sinn präzisiert und radikalisiert werden, dass es für die Rückgabe von Kompetenz, Verantwortung und Finanzierung an die möglichst kleine bzw. problemnahe autonome bzw. privatautonome Trägerschaft optiert, sobald ein Problem auf der höheren zentraleren Stufe nicht mehr adäquat gelöst bzw. nachhaltig finanziert werden kann.“

Konkret ließe sich das umsetzen, indem etwa der Rechnungshof eine periodische Überprüfung der Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden vornimmt. Gegebenenfalls hätte das Parlament – entweder spontan oder über Druck von Volksbegehren und -abstimmungen – daraus die entsprechenden verfassungsrechtlichen Konsequenzen zu ziehen. In Bundesstaaten würde sich die optimale Verteilung von Kompetenzen zwischen Bund und Ländern somit mit der Zeit einpendeln. Man wüsste dann auch besser zwischen voller Bundeskompetenz und der bundesweiten Harmonisierung und Koordinierung von selbstständig bleibenden Länderkompetenzen zu unterscheiden, den Ländern wäre nicht – wie im heutigen Diskurs üblich – eine Art freiwilliger Selbstentleibung zuzumuten.

 

Staat und privat

Zu dieser Frage hat Robert Nef festgestellt, dass „in einer global vernetzen und hochkomplexen Gesellschaft der Anteil an nur noch individuell, temporär und „maßgeschneidert“ zu lösenden Problemen rasant zunimmt, während der Anteil an generell-abstrakt und dauerhaft allgemeinverbindlichen Zwangslösungen grundsätzlich abnimmt: Ein großer Teil der Probleme, die man in den letzten dreißig Jahren durch staatliche Maßnahmen glaubte organisieren und reglementieren zu müssen, sind daher in Zukunft durch Privatisierung zu lösen (nach dem Konzept: Benützer zahlt, Staat leistet allenfalls Subjekthilfe)… Dies ist durch technische und zivilisatorische Entwicklungen bedingt und hat mit Ideologie oder Parteipolitik wenig zu tun. Aus diesem Grund ist es vorteilhafter, die Gesellschaft steuernde Normen in Zukunft eher der Privatautonomie anzuvertrauen als der Demokratie im Sinn des Mehrheitsprinzips. Dieses muss sich auf wenige unveränderliche, allgemeinverbindliche und allgemeinverständliche Prinzipien beschränken, wenn es glaubwürdig, effizient und finanzierbar bleiben will.“ Wie auch schon Kohr festgestellt hat, führt nicht die konsequente Limitierung, sondern die kontinuierliche Aufblähung von Staatsaufgaben und Staatsausgaben zum Kollaps des politischen Systems!

 

Steuer-Politik

Es kann nicht überraschen, dass in Hoch-Steuerländern wie Deutschland und Österreich die Grenzkosten der Steuer-Eintreibung exponentiell wachsen. So kommt nicht nur schon beim Finanzamt aus einem Steuer-Euro weit weniger als ein umverteilter Euro heraus – womit die Vorstellung von kostenneutraler Umverteilung begraben werden kann – es treten damit auch unabsehbare Verluste durch Wirtschaftsverdrängung und Steuerflucht ein. Kostensenkung und Überschaubarkeit auch im Steuerwesen sind daher unerlässlich – und dies umso mehr, je höher die Abschöpfung der Einkommen durch Steuern und ähnliche Zwangsabgaben ist. Überschaubarkeit bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem die Stärkung des Wissens, was denn die öffentliche Hand mit dem sauer erarbeiteten Steuergeldern tut. Hier kann es nicht genug sein, die sehr konkrete Steuerleistung zu anonymisieren, indem man den Steuerzahler auf die parlamentarische Gebarungskontrolle und den Rechnungshof verweist, nachdem man seine Zahlungen in einem Gemeinschaftstopf versenkt hat. Vielmehr sollte man das natürliche Interesse an der Frage „Was passiert mit meinen Steuern?“ nutzen und die bisher in den meisten europäischen Ländern nur ansatzmäßig bestehende Möglichkeit weiter ausbauen, Aufgaben des öffentlichen Interesses durch Steuer-Freibeträge zu finanzieren; steht doch zu erwarten, dass der Steuerzahler durch Inanspruchnahme der Freibeträge eine persönliche Bindung zu dem geförderten Projekt aufbaut und die dort gegebenen Informations- und Kontrollmöglichkeiten auch tatsächlich in Anspruch nimmt. Abgesehen von der Kostensenkung bei Steuereinreibung und Projekt-Administration hätte dieses Prinzip der „Selbstbestimmung im Steuerrecht“ den Vorteil praktizierter Bürgernähe: Es würde damit auch der Vorwurf entkräftet, dass Steuererhöhungen und Umverteilungspolitik „nur dem Machtrausch der Politiker“ dienen.

 

Liechtenstein-Modell: Steuern

Fürst Hans-Adam von Liechtenstein hat in seinem schon erwähnten Buch „Der Staat im dritten Jahrtausend“ präzisiert: Direkte Steuern (wie Lohn-, Einkommens- und Körperschaftssteuer) sind möglichst lokal festzusetzen und einzuheben – in Liechtenstein ist das die Gemeinde – und nur indirekte Steuern (vor allem Umsatzsteuer) auf nationaler Ebene. Steuer-Wettbewerb innerhalb eines Staates bringt mit der Zeit weit mehr Vorteile als Nachteile!

 

Liechtenstein-Modell: Irrtums-Kontrolle

Überhaupt enthält diese Verfassung höchst interessante und nachahmenswerte Bestimmungen. So erregte es internationales Aufsehen, als die Liechtensteiner in einem Referendum im Juli 2012 mit 76% dafür stimmten, dass der Fürst sein Vetorechts selbst gegenüber solchen Gesetzesbeschlüssen behalten soll, die in einer vorangehenden Volksabstimmung genehmigt worden sind.

Die demokratische Legitimation dieser Bestimmung liegt im Verfassungsrecht der Bürger, in einem nachfolgenden Referendum gleich das Fürstenhaus Liechtenstein abzusetzen; das garantiert, dass das Vetorecht nicht mutwillig ausgeübt wird, und tatsächlich ist dieses auch seit Menschengedenken nicht ausgeübt worden. Die politische Bedeutung dieses Vetorechts ist die Möglichkeit der Irrtums-Kontrolle: Fehlentscheidungen sind sowohl beim Parlament möglich (unvergessen ist das kollektive Versagen des österreichischen Nationalrats am 26. September 2008, als in der letzten Sitzung vor Neuwahlen mit wechselnden Mehrheiten gleich mehrere sündteure Wahlgeschenke beschlossen wurden) als auch bei Volksabstimmungen zu stark emotionalisierten Themen.

Ganz allgemein führen heute fehlende Überschaubarkeit und Bildungsdefizite dazu, dass sich Politiker aller Lager an Massen orientieren, die, wie Christian Ortner in seinem Buch „Prolokratie“ meint, ungebildet, unreflektiert, manipulierbar sind und sich intellektuell von Krawallfernsehen und Trash-Boulevard ernähren – jene Masse also, die letztlich bestimmt, wo es im Staat langgeht und die immer jene Politiker wählt, von denen sie am hemmungslosesten mit nicht mehr bezahlbaren Wahlgeschenken bestochen wurden. Ortner spricht sich daher gleichfalls für eine – sagen wir – überdemokratische Institution aus, die solche Irrtümer stoppen könnte. Was das nun sein könnte, lässt er allerdings offen, nicht ohne der Monarchie die Fähigkeit dazu abzusprechen. Ich halte das für eine allzu pauschale Abwertung, denn die konstitutionellen Monarchien Europas zeigen seit Generationen, dass sie eine solche überdemokratische Funktion bestens ausüben können – dies unbeschadet einiger – sehr rarer – Fehltritte im rein privaten Bereich. Freilich, für das titelbewusste Österreich scheitert eine Wiedererrichtung der Monarchie wohl schon an eben diesem Titel: für ein Kaisertum zu klein, für ein Erzherzogtum zu groß, und für Könige oder Fürsten fehlt die notwendige Tradition. Italien hat mit den vom Staatspräsidenten ernannten, voll stimmberechtigten „Senatoren auf Lebenszeit“ diese Frage ansatzmäßig gelöst.

Ein ganz anderer Weg, der wohl noch näher untersucht werden müsste, könnte sich aus der Volksbeteiligung an der Rechtsprechung ergeben: Laienrichter, Schöffen und Geschworene werden nach dem Zufallsprinzip bestellt und erwerben in Ihrer Amtstätigkeit wertvolle gesellschaftliche Erfahrungen. Warum nicht eine ständige Institution mit einer Art Fürsten-Veto einrichten, also eine Instanz, die periodisch von Laienrichtern und den Geschworenen-Obmännern gewählt wird?

 

Liechtenstein-Modell: Sezessionsrecht

Die Verfassung dieses Kleinstaates enthält ein weiteres Element, das in einer Gesellschaft des Menschlichen Maßes auch für Großstaaten vorbildlich sein sollte: So genießen die 12 Gemeinden Liechtensteins das volle völkerrechtliche Sezessionsrecht, können also theoretisch auch selbstständige UNO-Mitglieder werden. Das mag zwar eine Horror-Vorstellung für das UN-Sekretariat sein, als Verfassungsprinzip ist das aber die bisher radikalste Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips (nur am Rande sei erwähnt, dass man sich damit wieder dem Staatsverständnis des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reichs nähert, das gleichfalls ein Nebeneinander von rund 300 Groß-, Klein- und Kleinststaaten mit überlappenden Zuständigkeiten kannte, und das heute in mehrfacher Hinsicht wieder modern wirkt ).

Reformen wie die hier besprochenen sind für ein Überleben der Demokratie notwendig – und trotzdem werden genug Anhänger Mammons lieber bis zur letzten Sekunde Passagier in der Luxusklasse der heutigen Titanic bleiben wollen, denn es könnte ja auf der neuen Arche Noah nicht immer bequem und geruchsfrei zugehen. Anders gesagt: Komplexität wird weiterhin ihre Freunde haben, die daran bestens verdienen; Überschaubarkeit ist für sie ein lächerlicher Traum, Menschliches Maß Utopie. Wer aber Menschenwürde, Identität und Selbstbestimmung ernst nimmt, der kommt am Kampf um mehr Überschaubarkeit nicht herum. Und er wird raschen Lohn finden – schon weil er damit die Negativ-Spirale zu Resignation und Angst überwindet und den Weg zu einem guten Leben ebnet.

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