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Das Unmaß der neo-liberalen Globalisierung

 

Viele kritische Stimmen
Der frühere deutsche Bundespräsident Dr. Horst Köhler meinte zur großen Finanz- und Eurokrise, dass „ihre nicht mehr beherrschbare Komplexität mit Händen zu greifen (ist) – und so auch die Versuche, die Probleme mit Konzepten maßlos übersteigerter Ideologien zu lösen“. So scheint man im anglo-amerikanischen Raum alles auf einen (grob vereinfachten) Keynesianismus mit der über die Notenpresse finanzierten Nachfrage-Belebung zu setzen und mogelt sich um grundlegende Reformen der Finanz- und Wirtschaftsverfassung vorbei. Im Euro-Raum sucht Deutschland „alternativlos“ seinen markt-fundamentalistisch begründeten Sparkurs durchzusetzen. Die Mehrheit der Partner will von notwendigen Differenzierungen nichts wissen und fordert für den gesamten Raum eine einheitliche Budget- und Fiskalpolitik 57). In der südlichen Peripherie Europas wiederum strapazieren Reform-unwillige Schuldner den europäischen Solidaritäts-Gedanken.
„Nicht mehr beherrschbare Komplexität“, „maßlos übersteigerte Ideologien“, aber auch „alternativlos“, „markt-fundamentalistisch“ sowie die Ablehnung notwendiger Differenzierungen und überforderte Solidarität – das ist der Stoff, der zu diesem Buch den tieferen Anlass gibt und nach der Neuen Aufklärung schreit. Ja, es ist letztlich die Wirtschaft mit ihren ach so bewährten Erfolgsrezepten, die die Krise des gewohnten Vernunft-Denkens voll ausbrechen ließ. Die klassischen Grundlagen der Wirtschaft waren – und sind weiterhin! – großartige Dinge: Geld, Markt und Wettbewerb, dann Eigentum, Wachstum und Effizienz-Steigerung, um nur die wichtigsten zu nennen. Aber nun stehen sie alle in einem schiefen Licht da, offenbar hat Mammon sie über den kritischen Punkt hinaus ins Unmaß wachsen lassen.


57) Bundespräsident a.D. Prof. Dr. Horst Köhler, „ Der Kapitalismus – kreative Zerstörung?, Rede, Herrenberg am 31. Januar 2013


 

Mit der Kritik am Neo-Liberalismus soll hier nicht versucht werden, das Rad neu zu beschreiben; es genügt hier auf einige Autoren zu verweisen:
– Schon in den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich der bayrische Philosoph und Vordenker der Grünen, Carl Amery, mit dem Thema befasst. Wie im Sammelband seiner Essays „Arbeit an der Zukunft“ nachzulesen ist 58), setzte er dabei Schwerpunkte auf Ökologie, Nachhaltigkeit und Spiritualität. Treffend ist seine Apostrophierung des Neo-Liberalismus als „totaler Markt“ und ganz besonders seine Kritik am „Mammonismus“, die ich gerne übernommen habe.

– In „No more Bullshit – Die Zukunftswerkstatt für die 99 Prozent“ unternimmt es der Organisator der „Occupy-Wall-Street“- Bewegung“, Kalle Lasn, mit einer Sammlung kurzer, aber präziser Essays verschiedenster Autoren den Lehrbetrieb des Neo-Liberalismus an den renommierten Wirtschaftsuniversitäten ad absurdum zu führen und Markierungen für ein „gutes Leben“ zu setzen 59).

– Christian Felber beschreibt in seiner bemerkenswerten Analyse „Retten wir den Euro! 60) “ die Verkehrung von Mittel und Zweck in der Politik durch die neo-liberale Globalisierung: Nicht Menschenrechte, Umweltschutz, Verteilungs-Gerechtigkeit und Demokratie sind die Ziele des Globalisierungsprojektes, sondern Wirtschaftsfreiheiten wie

– Freihandel ohne Steuerkooperation, Gesundheits- und Umweltstandards,

– freier Kapitalverkehr, selbst für Hochrisikoprodukte und Steueroasen,

– globaler Eigentumsschutz für Konzerne inklusive globaler Einklagbarkeit – etwa bei dem Internetional Centre fort Settlement of Investment Disputes bei der Weltbank, das Klagen von Konzernen gegen Staaten verhandelt.


58) Carl Amery, „Arbeit an der Zukunft – Essays“, 2007 München Sammlung Luchterhand
59) in „No more Bullshit – die Zukunftswerkstatt für die 99 Prozent“, Adbusters Media Foundation bzw München 2012 Rieman-Verlag
60) Christian Felber, „Retten wir den Euro!“ 2012 Wien, Deuticke Verlag


 

Die unselige Symbiose zwischen Staat und Banken
In Europa wurde die Probe auf das Exempel des Mammonismus, wie erwähnt, schon 1993 mit dem Maastricht-Vertrag gelegt, als im Zuge des globalen Deregulierungs-Trends jede Beschränkung des Kapital- und Zahlungsverkehrs zwischen den EU-Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten wurde, gleichzeitig jedoch Vorkehrungen für eine entsprechende internationale Missbrauchs-Kontrolle ganz einfach „vergessen“ wurden. Aber nicht genug damit hat das Fehlen internationaler Kontrollen natürlich einen Standort-Wettbewerb um den „liberalsten“ Finanzplatz ausgelöst, wo auch andere sozial extrem schädliche Dinge „legal“ sein sollten, wie etwa Schwarzgeld-Konten, die Duldung von Schein-Banken oder abenteuerlichste Derivate und Leer-Verkäufe. All dies geschieht bis heute ohne jede Wertschöpfung und war damals – wegen der gesteigerten Profitmargen der Finanzwirtschaft – auch der Beginn der Ent-Industrialisierung Europas.

Die Einseitigkeit und Unausgewogenheit des neo-liberalen Paradigmas zeigt sich schon darin, dass es keine annähernd sanktionsmächtige Abkommen und Institutionen für Menschenrechte, Arbeitsrechte, Sozialstandards, Steuern oder Umweltnormen gibt. So gibt es bis heute keine globale Fusionskontrolle oder Wettbewerbsbehörde, keine Weltfinanzaufsicht, keine Kontrolle des internationalen Kapitalverkehrs, keinerlei globale Steuerpflichten für die Globalisierungsgewinner und kein globales Gericht, bei dem transnationale Konzerne wegen Verletzung der Menschen- und Arbeitsrechte, der Gefährdung der Gesundheit oder Zerstörung der Umwelt geklagt werden könnten.

Und so sind vor allem die Staaten des Westens, um hier nochmals Felber zu zitieren, „Getriebene der mächtigsten Lobby-Organisationen wie dem European Round Table of Industrialists (ERT), dem World Economic Forum in Davos oder der International Chamber of Commerce sowie der mächtigsten Finanz- und Industriekonzerne. Die völkerrechtlichen Regeln kommen zwar demokratisch zustande, sie entbehren jedoch der souveränen Essenz: sie spiegeln nicht die Bedürfnisse und den Willen der Mehrheitsbevölkerung wider. (…) Entsprechend undemokratisch sind die Ergebnisse (…) sie erhielten wohl nirgendwo auf der Welt die Zustimmung der Bevölkerung“ 61). Und diese Entwicklung wollen diejenigen, die dem Einhalt gebieten sollten, nämlich unsere demokratisch gewählten Vertreter in den Parlamenten und Regierungen, nicht bemerkt haben??? Mammon lässt nochmals grüßen….

Natürlich haben das unsere Regierungen schon bei Zeiten mitbekommen. Sie neigten jedoch schon immer dazu, sich die Gunst oder Duldung ihrer Untertanen durch Ausgaben zu erkaufen, für die sie kein Geld haben, und hier liegt die Wurzel des Problems. Bereits in grauer Vorzeit sind sie eine unselige Symbiose mit ihren Finanziers eingegangen: Caesar etwa wäre ohne den reichen Crassus früh gescheitert, die reichen Fuggers sicherten die Kaiserwahl nicht nur von Karl V und erhielten dafür Münz- und Bergbaurechte, am Tropf der Rothschilds hingen im Europa des 19. Jahrhunderts fast alle Regierungen – und die Rechnung blieb letztlich immer beim gemeinen Volk hängen, sei es durch steigende Steuern oder ihr „dünner werdendes Geld“, also Inflation. Der Weg zum größten Unmaß dieser Symbiose zwischen Politik und Finanz wurde schließlich 1971 fixiert, als es zum Ende des am US-Dollar hängenden Wechselkurses und der endgültigen Aufgabe des Goldstandards kam. Wie schon erwähnt, ist der innere Wert von Geld damit auf den bloßen Glauben an das Zahlungsversprechen eines Staates oder seiner Zentralbank reduziert worden; einer keineswegs wunderbaren Geld-Vermehrung stand nun nichts mehr im Wege. So können bis heute Regierungen jedes Geld ausgeben, indem sie grenzenlos Staatsanleihen auflegen – im Wissen, dass diese von den Banken gekauft werden, ja gekauft werden müssen. Und die Banken tun das, weil sie ihrerseits durch Kreditvergabe grenzenlos Geld schöpfen können (FIAT-money), denn sie müssen bei der jeweiligen Zentralbank für jeden neu vergebenen Kredit – bis heute! – nur einen Bruchteil als Sicherheit hinterlegen. Staat und Banken sind daher überzeugt, sich nie versiegende Geldquellen geschaffen zu haben 62) . Wen wundert da, dass Staaten die Ausarbeitung von neuen Detail-Regeln zur Kontrolle exzessiver Bankgeschäfte den Experten eben dieser Banken überlassen?


61) Christian Felber, „Retten wir den Euro!“ a.a.O.
62) Franz Schellhorn, a.a.O.


 

Bundespräsident Köhler resümiert die daraus entstandene Situation in der schon erwähnten Rede 63)  in einem Bezug zum österreichisch-amerikanischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter. Dieser hatte nach der besonderen Kraft des (markt-)wirtschaftlichen Systems gefragt und fand sie in der „schöpferischen Zerstörung“ vorhandener Produktionsstrukturen und ihren Neu-Kombinationen. Köhler zufolge hat in letzter Zeit „eine vergleichsweise kleine Sonderinteressengruppe, die Akteure auf den internationalen Finanzmärkten nämlich und im Besonderen die Gruppe der Investmentbanker (…) in der Bankenwelt, im Finanzsystem und in der Weltwirtschaft auf jede von Schumpeter vorausgesehene Art einen Schub der Zerstörung ausgelöst“. Diese Zerstörung gehe nun viel zu weit; wie schon Schumpeter sagte, habe „der Kapitalismus eine Tendenz zur Selbstzerstörung; denn am Ende würden monopolistische Großunternehmen, von Managern geführt, den klassischen Unternehmer verdrängen, das Bürgertum um die Substanz seines Eigentums bringen, die bürgerliche Familie auflösen, die politische Struktur der westlichen Demokratien erschüttern und zum Sozialismus überleiten.“

Ohne nun erschöpfende akademische Erklärungen zu den hier angerissenen Themen liefern zu wollen, halte ich vor allem den Faktor Geld und in seinem Gefolge den Zins für den Treiber ins Unmaß. Das gilt es hier zu diskutieren:


63) Bundespräsident a.D. Prof. Dr. Horst Köhler, Rede „ Der Kapitalismus – kreative Zerstörung?, Herrenberg am 31. Januar 2013


 

 Die vielen Funktionen des Geldes

 

Geld ist wahrscheinlich das größte Erfolgsprinzip unserer Zeit, und so habe ich unter den Ideen, deren Exzesse nun unser Überleben aufs Spiel setzen, auch den Monetarismus genannt. Denn es ist schon ein buchstäblich gewaltiger Exzess, wenn man glaubt, alles Sinnhafte in Geldeswert ausdrücken zu können, kann doch nach allen Lebenserfahrungen “Geld nicht alles sein“ – eine menschenwürdige Gesellschaft braucht eben auch Dinge, die für kein Geld der Welt zu haben sind.

Tatsächlich hat Geld so viele verschiedene Funktionen, dass es diesem “alles sein” zumindest vordergründig gefährlich nahe kommt, es also in die Nähe der Allmacht rückt – was im Übrigen ja auch seine Mystik bis hin zum Götzen Mammon ausmacht. Diese Multifunktionalität gilt es näher zu beleuchten, da dies meiner Überzeugung nach der Politik den besten Ansatz bietet, auch andere Exzesse wieder in den Griff zu bekommen. So seien hier die wichtigsten Funktionen des Geldes beleuchtet und – so wie Idee und Gegen-Idee – ihren jeweiligen Komplementär-Funktionen gegenübergestellt:

Die Tausch-Funktion: Laut Wikipedia ist Geld ein Zwischentauschmittel, weil es den Bedarf der Tauschpartner nicht unmittelbar befriedigt. Mit anderen Worten, es erleichtert den Warenaustausch: Denn während ein Ware-gegen-Ware zwei Wert-Berechnungen braucht, ist es bei Ware-gegen-Geld nur eine. Damit anonymisiert das Geld aber menschliche Beziehungen, etwa zwischen Produzenten und Endverbrauchern. Geld hat keinen Geruch, meinte schon Caesars Freund Crassus, der im alten Rom durch Bau und Betrieb öffentlicher Toiletten buchstäblich stinkreich wurde; und „Geld hat kein Mascherl“ sagt man nicht nur in Wien. In dieser Anonymität des Geldes liegt das vielleicht gewaltigste Potential für Exzesse: Die Versuchung für Käufer und Verkäufer, ihre wechselseitigen Beziehungen mit dem Akt des Bar-Kaufs zu beenden, ist enorm: Den Käufer interessiert nicht, wie die Ware produziert wurde, und den Verkäufer hat nicht zu interessieren, was der Käufer damit macht. Sicher, die Rechtsordnung durchbricht mit Haftungs-Regelungen und Produkt-Deklarationen diesen Beziehungs-Stopp, und über den Kundendienst geschieht dies auch vielfach auf freiwilliger Basis. Aber diese Einschränkungen der Anonymität sind nicht mehr als Krücken, denn unter dem Strich bleibt der Unterschied zum alten Tausch Ware-gegen-Ware (oder Dienstleistung): Wo sich Hersteller und End-Verbraucher von Waren nicht in Anonymität verstecken können, kommen – wie ich am Menschenbild Kohrs und Schumachers gezeigt habe – die konstruktiven Qualitäten des Menschen stärker ins Spiel, der Kunde ist Partner auf Augenhöhe und bleibt dies meist auch über das konkrete Geschäft hinaus; dies ganz im Gegensatz zum Turbo-Kapitalismus, der Kunden nur mehr als anonyme Beutestücken sieht.

Geht man von der Anonymität der Tausch-Funktion aus, so ist ihr klassisches Gegenstück dazu der Barter, also der seit Urzeiten übliche Warentausch. Es gibt aber auch Möglichkeiten, dem Geld letztlich doch ein „Mascherl“ umzuhängen, und zwar mit den mehr oder weniger inoffiziellen Parallelwährungen, deren Gültigkeit etwa auf eine bestimmte Region beschränkt ist (mehr dazu später).

Soll die Suche nach der Gegen-Idee auch die Fähigkeit des Geldes berücksichtigen, die Gleichzeitigkeit von Tauschleistungen aufzulösen, so kommen wir zu dem schon diskutierten Prinzip der Kooperation – also zu der von Martin Novak beschriebenen direkten und indirekten Reziprozität. Allerdings setzt jede über den isolierten Bar-Kauf hinausgehende Kooperation gesellschaftliche Mindest-Strukturen voraus, was ja auch für den Barter gilt. Mit anderen Worten: Je mehr wir auf die Tausch-Funktion des Geldes mit seiner Anonymität und Gleichzeitigkeit setzen, desto mehr zementieren wir das sozial primitive Konkurrenz-Prinzip und verbauen uns den Weg in eine Gesellschaft des Menschlichen Maßes sowie der Verbundenheit.

Die Transport-Funktion: Auf Lateinisch hieß Geld noch pecunia, also Kleinvieh – und es ist ja lustig sich alte Römer vorzustellen, würden sie heute mit solchen Geldmitteln auf Reisen gehen oder diese Mittel vor verbrecherischem Zugriff schützen wollen. Immerhin verdeutlicht diese Vorstellung eine wichtige Funktion des heutigen Geld-Begriffs: seine unschlagbar hohe Mobilität, sei es in der Form von Münzen, Papier oder auch dem virtuellen Buchgeld. Der Exzess der Mobilität stellt sich meist in Verbindung mit der Anonymität ein; sei es die Möglichkeit der Verschleierung von Geldflüssen – Stichwort Steuer-Oasen – oder sei es der Hang zur Globalisierung – Stichwort exzessives Outsourcing. Eng verbunden mit exzessiver Mobilität ist der schon erwähnte Problemkreis des „Veloziferischen“, hier also die rasante Beschleunigung eines völlig abstrakt gewordenen Zahlungsverkehrs – Stichwort: automatisierter Börsenhandel. Auch hier entfernt man sich leicht vom Menschlichen Maß, es findet eine Zementierung des Konkurrenz-Prinzips statt.
Das Gegenstück zur Mobilität ist ganz allgemein alles, was die Lokalität des Geldes fördert, also die Förderung von nachhaltiger Kooperation und die Beschränkung der Wirtschaftskreisläufe auf überschaubare Einheiten.

Die Koordinations-Funktion: (auch Allokations-Funktion): Sie geht über den Wettbewerb und die Markt-Funktion des Geldes – die ja auch mit Barter erfüllt werden kann – weit hinaus: Wo man möglichst viele Arten von Leistungen zu messen hat, lassen sich mit Geld als Maßstab auch hoch-komplexe Projekte planen und steuern; man denke nur an die Kostenrechnung bei der Produktion von Autos oder Flugzeugen, mit der – jeweils für die unterschiedlichsten Teile – die Auswahl unter zahlreichen Produktionsmethoden, Materialien, Anbietern und Konditionen erleichtert wird. Kurz: eingeschränkt auf konkrete Koordinationsaufgaben im Materiellen hat die Methode des Monetarismus durchaus ihre Berechtigung
Natürlich kann man für komplexe Produktionsmethoden auch andere Dinge zum Maßstab der Koordination nehmen, etwa Arbeitszeit-Einheiten oder den CO2-Ausstoß. Tatsächlich geschieht das ja auch hie und da – Geld bleibt aber nach wie vor der gängigste Maßstab. Insoweit gibt es auch kein gleichwertiges Gegenstück zur Koordinations-Funktion, jedenfalls nicht in komplexen Situationen; die eigentliche Gegen-Idee liegt vielmehr im Prinzip ganzheitlicher Überschaubarkeit, die auf abstrakte Zahlen eines Maßstabes verzichten kann.

Die Wertbewahrungs-Funktion: Geld kann zwar durch Inflation und Währungsreformen an Wert verlieren, im ökonomischen Alltag hat seine Wertbeständigkeit jedoch bisher – mit der Ausnahme von Grund und Boden – alle anderen materiellen Güter übertroffen. Diesseits von Spekulationen auf künftige Preissteigerungen gilt das selbst für Gold: Seine sichere Verwahrung verursacht höhere Kosten als ein Geld-Depot, wodurch es – ceteris paribus – laufend an Wert verliert; und ist das Gold gemünzt, so hat es regelmäßig einen über dem Materialwert liegenden Nennwert.

Eine ganz besondere Wertbeständigkeit hat Geld in der Form von Schulden: Wie der chilenische Wirtschaftsforscher und Träger des alternativen Nobelpreises Manfred Max-Nef feststellt, ist Reichtum an Gütern eine reale, letztlich physikalische Größe und daher immer endlich; Schulden hingegen können in der Gestalt von Geld ins Unendliche wachsen und sind daher eine mathematische Größe – sie haben eben eine andere Qualität als bloßer „Minus-Reichtum“. Denn anders als reale Werte, die den Gesetzen der Thermodynamik gehorchen, verrotten Schulden nicht, wenn sie alt werden, und werden auch nicht im Prozess des Lebens verbraucht. Wo Reichtum in Schulden umgewandelt wird, verliert er seine vergängliche Natur und wird unvergänglich – er weckt damit die Illusion vom Perpetuum mobile, das den Gesetzen der Thermodynamik zu entgehen glaubt 64).
Die radikale Gegen-Idee zum Konservieren von Geld und materiellen Gütern ist ganz einfach der Konsum – eine Überlegung, die es noch zu vertiefen gilt im Zusammenhang mit der

Spar-Funktion: Sparen ist das Zurücklegen momentan freier (Geld-)Mittel zur späteren Verwendung; es erfolgt als Zwecksparen, um später größere Anschaffungen zu ermöglichen; oder als Vorsorgesparen, um sich vor Notsituationen zu schützen; soweit Wikipedia. Zwar ist auch das Zwecksparen für Investitionen nicht gegen Unmaß gefeit, doch liegen die gravierendsten Exzesse beim Vorsorgesparen: Hier ist – jedenfalls in den reicheren Ländern – bloßes Horten von Geld und Gütern im Wesentlichen aus zwei Gründen zum Selbstzweck geworden:

• Zum einen ist der rationale Grund des Hortens weitgehend entkräftet. Denn wir leben heute in Zeiten, in denen sich alle Rahmenbedingungen so rasch, radikal und lawinenartig ändern können, dass eine halbwegs zuverlässige Berechnung der Risiken, gegen die vorgesorgt werden soll, kaum mehr möglich ist. Natürlich sind auch weiterhin „Notgroschen“ für Übergangsphasen sinnvoll, aber das Streben nach materiellem Reichtum (etwa nach dem Werbe-Motto „reicher als reich“) zwecks Vorsorge ist damit wenig sinnvoll geworden.


64) Manfred Max-Neef, Artikel „Wir leben in einem geliehenen Paradies“, zitiert in „No more Bullshit – die Zukunftswerkstatt für die 99 Prozent“, Adbusters Media Foundation bzw München 2012 Rieman Verlag


 

Das gilt auch für große Geld-Polster, die man sich gerade wegen der vielen unkalkulierbar gewordenen Risiken „sicherheitshalber“ anlegen möchte: Der Krisenfall trifft in unserer hoch-technisierten und daher verletzlichen Welt höchstwahrscheinlich alle gleichzeitig, Geld und Gold werden dann entweder rasch verstaatlicht oder geraubt, die meisten Fluchtwege enden schon früh im Stau. Kurz, die Chancen aus gehortetem Geld im Krisenfall echte Vorteile ziehen zu können, werden immer geringer.

• Zum anderen gibt es irrationale Gründe für das Horten: In den reichen Ländern des Westens besteht seit alters her ein beträchtlicher Druck, sich den heute möglichen Genuss zu versagen und auf ein ruhigeres „später“ zu verschieben – sei es das von unseren ackerbauenden Vorfahren geerbte Gefühl der Abhängigkeit von einer einzigen Ernte im Jahr; sei es Tribut an dem zum Wahn gewordene Wachstums-Gedanken („aus Warten wird ein Mehr“); sei es die Leibes- und Lust-Feindlichkeit (nicht nur) christlicher Traditionen; oder sei es auch nur die Ideen-Armut des herrschenden Materialismus, der Sozial-Prestige mehr am angehäuften Geld und weniger am Lebensstil messen will. Sozusagen die Rationalisierung dieses Druckes ist die Erwartung, aus dem gehorteten Gut später eine bequeme Rente ziehen zu können – womit wir bei der noch zu diskutierenden Zins-Problematik wären.

Schon John Maynard Keynes hat die Sinnlosigkeit, ja Gefährlichkeit des Hortens auch unter sozialen Gesichtspunkten gesehen: Auf der einen Seite akzeptierte die Arbeiterklasse (…) eine Situation, in der sie ein sehr kleines Stück des Kuchens, den sie und die Natur und die Kapitalisten gemeinsam produzierten, ihr Eigen nennen konnte. Und auf der anderen Seite war es der kapitalistischen Klasse erlaubt, sich das beste Stück des Kuchens anzueignen, und sie hatte theoretisch die Freiheit, es zu konsumieren – unter der unausgesprochenen Bedingung, dass sie in Wirklichkeit nur sehr wenig davon konsumierte. Die Pflicht dieser Entsagung machte neun Zehntel der Tugend aus, und das Wachstum des Kuchens wurde zum Ziel wahrer Religion. Um die Nichtverzehrung des Kuchens wuchsen alle Instinkte des Puritanertums, das auch zu anderen Zeiten der Welt entsagt hatte und die Künste der Herstellung und des Genusses gleichermaßen verachtete. Und so vergrößerte sich der Kuchen – zu welchem Zwecke, sah keiner. Der Einzelne wurde ermahnt, nicht direkt zu entsagen, aber aufzuschieben und sich in den Freuden der Sicherheit und der Erwartung zu üben. Man sparte für das Alter oder für die Kinder. Doch das war nur Theorie – der Zauber des Kuchens war, dass er niemals verzehrt werden würde, nicht von dir und nicht von deinen Kindern nach dir 65) .

Vom Ergebnis her hat dieses vorgebliche Vorsorge-Sparen heute verheerende Folgen, ist es doch für die zunehmende Polarisierung zwischen erfolgreich hortenden Super-Reichen und den – schon mangels Gelegenheit – arm bleibenden Massen verantwortlich. Die dringend gebotene Gegen-Idee zu diesem Sparen wäre daher, die „momentan freien (Geld-)Mittel“ ohne Zeitaufschub zu konsumieren oder zu investieren.

Fazit: Alle hier aufgezählten Geld-Funktionen stärken das Konkurrenz-Prinzip. Wie ich eingangs schon ausgeführt habe, läuft ein darauf aufgebautes System heute Gefahr, sich in einem darwinistischen „Jeder-gegen-jeden“ zu verstricken und konstruktive Ergebnisse – wenn überhaupt – nur mit Zeit-Verzögerung und extrem hohen Mehrkosten zu erreichen. Das ist ein übler Befund, da das Zurückdrängen des Konkurrenz-Prinzips – nicht aber seine Beseitigung – damit zur Überlebensfrage der Menschheit geworden ist. Die Gegenstücke zu den Geld-Funktionen entsprechen hingegen durchwegs dem Kooperations-Prinzip, setzen aber gesellschaftliche Strukturen voraus, in denen ein Mindestmaß an Überschaubarkeit gegeben ist. Nur im Kooperations-Prinzip ist es auch möglich, auf die Individualität des Menschen Bedacht zu nehmen – geht doch Geld und Konkurrenz davon aus, dass alles austauschbar ist.


 65)  J.M. Keynes, Economic Consequences of the Peace, 1919, zitiert von Charles Eisenstein in „Ökonomie der Verbundenheit“


 

 Das Zins-Problem

Eine Funktion des Geldes ist bisher unerwähnt geblieben: die einzigartige Fähigkeit Zinsen zu generieren. Nach dem Motto Lass Dein Geld für dich arbeiten potenziert sie die Hortungs-Funktion des Geldes; überdies stärkt sie den Irrglauben, dass grenzenloses Wachstum möglich sein soll. So ist Zins heute zu einem gesellschaftlichen Schlüssel-Problem geworden.

Das Potential der Zinsen zeigt die bekannte Parabel: Hätte ein alter Römer zu Christi Geburt eine einzige kleine Münze auf ein Sparbuch gelegt, so sollten seine Nachfahren bei ungebrochener Normalverzinsung heute auf diesem Sparbuch mehr Geld finden, als es überhaupt auf der ganzen Welt gibt. Und wie schon bei der Werterhaltungsfunktion des Geldes festgehalten, ist Reichtum physikalisch begrenzt, während Schulden (durch Zins und Zinseszins potenziert) ins Unendliche wachsen können. Irgendwann MUSS also die Anhäufung von Zinsen unterbrochen werden und der Zähler auf null zurückgestellt werden.

Die Frage, ob überhaupt Zinsen verlangt werden dürfen – und gegebenenfalls unter welchen moralischen Auflagen – wird daher seit Jahrtausenden diskutiert. In einigen Religionen, wie im Islam und bei den Bahais, sind Zinsen generell verboten; und auch nach dem Alten Testament soll im Jubeljahr, also alle 50 Jahre, ein Schuldenerlass und Besitzausgleich für alle Israeliten erfolgen 66). Das Christentum hat sich erst in der Neuzeit mit der Verzinsung von Geldbeträgen abgefunden; vorher durfte Zins – als Preis für die nur Gott allein gehörende Zeit – nur von Glaubens-Fremden verlangt werden, etwa von Juden. Bezeichnenderweise sind in der Folge völlig widersprüchliche Zins-Theorien entwickelt worden, um solche Geschäfte „vernünftig“ begründen zu können. Der Zins im heutigen Wirtschaftsalltag steht also auf einem derart schwachen historischen Boden, dass Änderungen in den sozialen Rahmenbedingungen es rechtfertigen, die heutige Selbstverständlichkeit seines Gebrauchs zu hinterfragen.

Dass der Zins als Beschleuniger der Hortungs-Funktion die sozialen Rahmenbedingungen geändert hat, kann heute nicht bezweifelt werden. Einige Mega-Trends zeigen, dass Geld und Zins heute vor allem in ihrer Koordinations-Funktion gescheitert sind:


 66)  Leviticus, 25, 11-21


 

“Die Armen werden ärmer, die Reichen immer reicher”: Wie schon auch viele anderen Studien beschreibt das 2014 viel diskutierte Buch von Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert 67) die seit Langem zunehmende Konzentration von Einkommen und Reichtum in den obersten Einkommensschichten, während Armut stagniert und der Mittelstand zurückfällt. Dahinter steht die Erfahrung, dass im langjährigen Durchschnitt die Zinsen höher als das Wirtschaftswachstum sind. Der Einwand, dass das nur für die entwickelten Industriestaaten des Westens zutrifft, weil allein in den zwei Jahrzehnten um die Jahrhundertwende einige hundert Millionen Menschen aus der Armut geholt wurden, stimmt nur statistisch; das fand nämlich in Entwicklungs- und Schwellenländern statt, die nun die Wachstumsphase früher Industrialisierung durchlaufen, die der Westen schon vor vielen Jahrzehnten abgeschlossen hat. Dazu gehört auch der scheinbare Wachstumseffekt, der sich aus dem weltweiten Phänomen der starken Landflucht ergibt – wird damit doch die weitgehend bargeldlose Subsistenz- durch Geld-orientierte Marktwirtschaft ersetzt.

Die Finanzwirtschaft „verschlingt“ die Realwirtschaft: Die höhere Ertragskraft der Finanzwirtschaft zieht immer mehr Kapital aus der Realwirtschaft ab. Im Jahr 2007 lag das Volumen der Finanztransaktionen bereits beim 74fachen des globalen Bruttonationalprodukts. Die gesamten Finanztransfers beliefen sich auf 16120 Milliarden Dollar pro Tag (bei 250 Handelstagen). Von diesen Finanztransaktionen betreffen nur etwa zehn Prozent den Handel mit realen Waren und Dienstleistungen, den Löwenanteil von 90 Prozent bilden von der Realwirtschaft losgelöste, teilweise hochspekulative Derivate. Bei den Devisentransaktionen entfallen sogar weniger als fünf Prozent auf den realwirtschaftlichen Handel 67) . Und das war noch vor Ausbruch der Finanzkrise, die mit ihren vielen Absicherungs-Wetten dieses Missverhältnis noch gesteigert hat!

Kurz, mit Geld und Zins jonglieren ist profitabler als produktive Arbeit. Der Zinsfaktor spielt dabei die Rolle eines Brand-Beschleunigers, weil jede Geldschöpfung nur im Zusammenhang mit verzinsten Neu-Krediten erfolgt; daher muss auch die Summe aller Schulden größer sein als die Summe des gesamten umlaufenden Geldes! Es ist erstaunlich,


67) Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, C,H.Beck Verlag
68) http://www.zeit.de/2010/22/A-Finanztransaktionssteuer


 

dass diese sozial verheerenden Fehlentwicklungen noch nicht zu Korrekturen nach der schon besprochenen Außensteuerung des Konkurrenz-Prinzips geführt haben, also erzwungene Kursänderungen unter dem Eindruck drohender Gewaltanwendung. Offenbar müssten da erst Katastrophen eintreten, die die Finanzkrise von 2008 noch gewaltig übertreffen würden. Die extreme Verschuldung in der südlichen und westlichen Peripherie Europas zeigt, dass das aktuelle Schulden-Regime von politischer Seite überdacht werden muss, da ihre einigermaßen pünktliche Tilgung nicht mehr vorstellbar ist. Das Gesamtpaket der Hilfsleistungen, die von entwickelten Ländern an Entwicklungsländer fließen, macht laut Statistiken des Internationalen Währungsfonds typischerweise nur ein Viertel der Schuldentilgungen aus, die in umgekehrter Richtung fließen. Das Modell zinsbasierter Kapitalbeschaffung für Investitionen läuft damit für die Entwicklungsländer auf einen kolossalen, nun schon fünf Jahrzehnte anhaltenden Schuldenanstieg hinaus 69) . So ist es schlichtweg mit der Menschenwürde unvereinbar, ganzen Volkswirtschaften auf Jahrzehnte hinaus jede realistische Aussicht auf Überwindung der depressiven Grundstimmung zu verwehren, wie sie durch die Verschuldung entstanden ist. Nicht zuletzt zur Vermeidung von gewaltsamen „Lösungsversuchen“ wird sich die Politik also fragen müssen, ob Kapital und Zinsertrag wichtiger ist als Menschenwürde.

Das zeigt schon die extreme Verschuldung in der südlichen und westlichen Peripherie Europas, die 2009 im Zuge der Finanzkrise durch den exorbitanten Zinsanstieg schlagend geworden ist. Dort muss das aktuelle Schulden-Regime nun von politischer Seite überdacht werden, da weder einigermaßen pünktliche Tilgungen vorstellbar sind, noch eine weitere Verelendung der Menschen in den Schuldnerländern im Interesse des europäischen Nordens liegen kann. Kurz, ein Schuldenschnitt ist unumgänglich, aber wie soll er aussehen? Hier ist wieder die Gegenüberstellung von Idee und Gegen-Idee in der beschriebenen Drei-Schritt-Methode sinnvoll: Gläubiger berufen sich auf den Grundsatz der Vertragstreue – das schon den Römern bekannte pacta sunt servanda – wenn sie selbst von hoch überschuldeten Kreditnehmern die volle Erfüllung ihrer Verpflichtungen verlangen. Die Gegen-Idee dazu ist der allgemeine Rechtsgrundsatz gleich bleibender Rahmenbedingungen, im Juristen-Latein  die clausula rebus sic stantibus; sie erlaubt es Verträge zu ändern, wenn sich nach Vertragsabschluss entscheidende Umstände der Geschäftsgrundlage geändert haben.


 69) Tarek El Diwany, Artikel „Meine Konversion zur islamischen Ökonomie“,zitiert in „No more Bullshit – die Zukunftswerkstatt für die 99 Prozent“, Adbusters Media Foundation bzw München 2012, Rieman-Verlag


 

Dabei kommt es darauf an, ob es angesichts der Gesamtumstände „treuwidrig“ wäre, den Vertragspartner, für den die Geschäftsgrundlage weggefallen war, an dem Vertrag festhalten zu wollen. Der Drei-Schritt-Methode folgend wäre also nun zu prüfen, wen in der Frage um das Ausmaß eines Schuldenschnitts die Beweislast trifft; und sofern die Schuldner nicht vor zumutbaren Leistungen zurückschrecken, werden das die Gläubiger sein, da wohl alle ganzheitlichen Ordnungssysteme die Anhänger unbedingter Vertragstreue im Exzess sehen. Um nicht selbst „treuwidrig“ zu sein, werden die Gläubiger daher entweder konkrete Forderungen nach einem Schuldenschnitt akzeptieren oder mit harten Fakten und Zahlen zu beweisen haben, warum sie die Forderung nach Schuldenerlass für überzogen halten, und welches Schulden-Ausmaß objektiv zumutbar ist.

Ähnliches sollte auch für die Hilfsleistungen an Entwicklungsländer gelten, die ohnehin wie oben erwähnt laut Statistiken des Internationalen Währungsfonds nur ein Viertel der Schuldentilgungen ausmachen, die in umgekehrter Richtung fließen 70).

Auf der Strecke dieses Unmaßes bleibt der Mensch, um den es ja eigentlich gehen sollte. Jedenfalls verletzt die von Zins und Rendite-Erwartungen getriebene Ungleichheit die von John Rawls zu diesem Thema (und zu dem schon erörtertem Problem des Neo-Feudalismus) entwickelte wunderbare Ethik der Fairness: „Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offen stehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip) 71).“ Aber wie kann man den Zins-Mammon bekämpfen? Zunächst sei da auf zwei revolutionäre Denker verwiesen: Silvio Gesell und Charles Eisenstein.


70) Tarek El Diwany, Artikel „Meine Konversion zur islamischen Ökonomie, a.a.O.
71) John Rawls: Justice as Fairness: A Restatement (2001), Cambridge 2001, Harvard University Press, §13


 

Silvio Gesell

Johann Silvio Gesell (1862 -1930) war ein deutscher Kaufmann, Finanztheoretiker und Begründer der „Freiwirtschaft“. Diese beruht auf der Kritik an der Geldverfassung und der Kritik an Renten-Einkommen; ihr Ziel ist Vollbeschäftigung in einer stabilen und freiheitlichen Marktwirtschaft ohne Monopolrenten, wie etwa durch den Besitz von Geld bzw. Eigentum an Boden oder Handelsrechten. Die Freiwirtschaft soll eine ungerechte und sich ständig verstärkende Umverteilung der Vermögen von den Ärmeren zu den Reicheren verhindern; und zwar nicht durch Verbote, sondern durch Benutzung des sogenannten „Freigelds“ sowie durch “Freiland”. Dieses sucht die Überführung des Bodens in Gemeinschafts-Eigentum bei freier Nutzung durch Private, die aber an die Gemeinschaft Pacht zu zahlen haben.

Gesell forderte, dass Geld der Wirtschaft nur als Tauschmittel dienen, sie aber nicht als Hortungsmittel lähmen darf; denn alles in der Natur unterliege dem rhythmischen Wechsel von Werden und Vergehen, nur das Geld wolle sich der Vergänglichkeit alles Irdischen entziehen. Durch die Marktüberlegenheit des Geldbesitzers sah Gesell das freie Kräftespiel zwischen Verkäufer und Käufer grundlegend gestört. Daraus zog er den Schluss, Geld solle in seinem Wesen der Natur entsprechen und natürlichen Dingen nachgebildet sein. Das Geld in der Hand eines Geldbesitzers müsse wie menschliche Arbeitskraft und Waren mit der Zeit an Wert einbüßen, dann habe es auf dem Markt keine Vormachtstellung mehr. Führt man Negativ-Zinsen ein, so wäre Geld einem ständigen Weitergabe-Druck unterstellt; jeder Geldbesitzer werde sein Geld nicht zu lange zurückhalten, sondern damit Waren oder Dienstleistungen kaufen, laufende Rechnungen begleichen oder es ohne Zinsforderung verleihen, um so der Wertminderung zu entgehen. So wirke Geld als Diener des Menschen und nicht als dessen Herrscher.

Dieses Geld ohne Zinsanspruch nannte Gesell „Freigeld “. Die Ausgabe des Freigeldes – eigentlich Schwundgeld – soll dem Staat vorbehalten sein, der hierfür ein Währungsamt einzurichten hätte. Bei Inflationsgefahr soll das Währungsamt Freigeld einziehen, bei Deflationsgefahr solches ausgeben. Mit ihm wäre die schädliche und risikofreie Hortungsfähigkeit des Geldes überwunden; Denn wegen seiner Wertminderung würde Freigeld auch bei sinkenden Preisen und niedrigen Zinssätzen nicht gehortet werden. Gesell glaubte, auf diese Weise käme es zu einem starken und dauerhaften Kapitalangebot für die Wirtschaft. Er wollte so „den Zins in einem Meer von Kapital ersäufen“, wie er sich ausdrückte. Durch seinen gesicherten Umlauf würde Freigeld der Wirtschaft Krisen ersparen und durch das Absinken des allgemeinen Zinsniveaus zugleich die soziale Frage lösen.

Bei seinen Untersuchungen entdeckte Gesell einen allen Zinsforderungen zugrunde liegenden Zinsanteil, den er Urzins nannte, also einen Mehrwert des Geldes. Den Urzins erklärte Gesell ebenfalls mit der Überlegenheit des Geldes über Arbeitskraft und Waren. Er sei eine unvermeidliche Begleiterscheinung einer Wirtschaft mit Geldgebrauch. Der Urzins sei es, der dem Geldbesitzer als Kreditgeber einen leistungslos zufallenden Anteil am Arbeitsertrag seines Kreditnehmers und seiner Kunden zuführe und dadurch zu großer sozialer Ungerechtigkeit führe. Unter den Urzins sei über Jahrhunderte hinweg kein Zins je gesunken. Seine Höhe gab er mit zwei bis drei Prozent an.

Den tatsächlich bezahlten Zins sah Gesell als Summe aus Urzins, Inflationsausgleich und Risikoanteil. Dazu komme, solange die Wirtschaft wächst, ein produktionsbedingter Wachstumsanteil, den er Darlehenszins auf Sachgütern nannte. Schließlich fordere die Bank für ihre Leistung der Kreditvermittlung ein Vermittlerentgelt. Damit setze sich Zins aus fünf Anteilen zusammen, auch wenn sie in der Praxis nicht einzeln ausgehandelt würden.

Könnte die Überlegenheit des Geldes auf dem Markt durch die Einführung von Freigeld beseitigt werden, so würde nach Gesell der Urzins auf null sinken und aus sämtlichen Zinsarten verschwinden. Weil durch Freigeld zugleich Inflation und Deflation weitgehend überwunden werden könnten, würde automatisch auch der Inflationsausgleich im Zins wegfallen. Weiterhin ergäben sich aus einem stabileren Wirtschaftsverlauf geringere Kreditrisiken, so dass auch der Risikoanteil im Zins zurückginge. Ohne Wirtschaftswachstum würde schließlich noch der Wachstumsanteil wegfallen, so dass praktisch von einem Nullzins gesprochen werden könne. Das Schrumpfen der Zinshöhe führe zu einer bedeutenden allgemeinen Entlastung der Wirtschaft von Zinskosten. Auf der anderen Seite wäre das Anhäufen leistungslos erworbenen Reichtums aus Zinseinnahmen nicht mehr möglich. Stattdessen ergäben sich ein grundsätzlich größerer Wohlstand der arbeitenden Bevölkerung und eine weitgehende Lösung der sozialen Frage 72).

Während der Großen Depression wurde Gesells Idee vom Schrumpfgeld 1932 im Tirolerischen Wörgl eingeführt und hatte rasch großen Erfolg, wurde aber wohl deshalb über Betreiben der Österreichischen Nationalbank bald verboten 73). Auch US-Präsident F.D. Roosevelt soll die Einführung von Schrumpfgeld ernstlich erwogen haben, gab diese Idee jedoch wegen des Widerstands des Bankensektors wieder auf 74).

Charles Eisenstein sei nicht zuletzt wegen seines größeren Gegenwart-Bezugs ein eigenes Kapitel gewidmet.


72) http://de.wikipedia.org/wiki/Silvio_Gesell#Geld_und_Freigeld, Stand 1.10.2014
73) www.unterguggenberger.org
74) Charles Eisenstein, „Ökonomie der Verbundenheit“(„Sacred Economics – Money, gift and society in the age of transition“)


 

Charles Eisensteins „Ökonomie der Verbundenheit

 

Der 1967 geborene Charles Eisenstein ist ein US-amerikanischer Kulturphilosoph und Autor. In seinem brillant geschriebenen – und unentgeltlich ins Internet gestellten – Buch „Ökonomie der Verbundenheit“ 75) führt er Gesells Theorien zu Zins und Privateigentum weiter, stellt sie allerdings in einen größeren kulturellen Zusammenhang. Wettbewerb soll demnach zugunsten von Kooperation zurück gedrängt und Dankbarkeit wieder zu einer zentralen und verbindenden gesellschaftlichen Kategorie gemacht werden.

Seiner Meinung nach gleicht die Menschheitsgeschichte den Phasen des individuellen Menschenlebens; demnach sind wir heute in das Erwachsenenalter eingetreten. Das bedeutet zum einen, dass weiteres Wachstum nun lebensgefährlich wäre – so wie Krebs. Zum anderen müssen wir uns daran gewöhnen, dass die Zeiten, als wir als Kind nur Geschenk-Empfänger waren, nun vorbei sind, und wir nun als Erwachsene nur dann weiterhin empfangen können, wenn wir zu Gebern werden – sowohl gegenüber der Natur als auch der Gesellschaft.

Für Eisenstein wird der Prozess der Zivilisation von dem Versuch vorangetrieben, Kontrolle über die Natur zu gewinnen. In dieser Absicht haben schon die Vor-Sokratiker im alten Griechenland den Gedanken der Trennung von Geist und Materie entwickelt. Die fatalen Wirkungen dieses Gedankens gilt es nun zu neutralisieren, denn diese Getrenntheit ist keine letzte Wahrheit, vielmehr eine „menschliche Projektion, eine Ideologie, eine Erzählung“, die in der Vergangenheit praktischen Wert gehabt haben mag, heute aber auf beiden Seiten großen Schaden verursacht. Nicht nur Passivität gegenüber Umweltsünden ist darauf zurück zu führen, auch die Isolation des Einzelnen, die ihm rücksichtsloses Wettbewerbsdenken erlaubt, sowie die weltfremde Entrückung des Geistigen in eine andere Welt – wie überhaupt die Grenzenlosigkeit aller Abstraktionen und Projektionen.

Eisensteins Geld-Theorie: Auch Geld ist ein System aus sozialen Übereinkünften,


75) Charles Eisenstein, Original: „Sacred Economics“ a.a.O.


 

Bedeutungszuschreibungen und Symbolen, die sich über die Zeit entwickelt haben. Geld ist also eine bloße „Erzählung“, die gesellschaftliche Wirklichkeit geworden ist, so wie „Gesetze, Nationen, Kalender und Uhrzeit, Religion und Wissenschaft“.

Was die Geschichte des Geldes angeht, ist Eisenstein überzeugt, dass die erste Wirtschaftsform, die sich in lockeren Stammesverbänden der menschlichen Frühzeit entwickelt hat, nicht die Tausch-Ökonomie sondern die Schenk-Ökonomie war. Dort beschenkte man den anderen bei jeder Gelegenheit mit nützlichen Dingen als Ausdruck persönlicher Wertschätzung; der Beschenkte handelte ebenso und gab das Geschenkte gerne an Dritte weiter – oder behielt es bei Bedarf für den Eigengebrauch. So entstand in einem “Geist der Verbundenheit” ein Kreislauf von Geschenken – etwa nach dem Motto “Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Und das erste Geld kam auf, als man begann, an Stelle von nützlichen, aber schwer transportierbaren Dingen nun nutzlose, aber schöne Dingen zum Ausdruck persönlicher Wertschätzung und Dankbarkeit zu nehmen – etwa Blumengirlanden, Perlen oder Kauri-Muscheln. Eisenstein bezeichnet dieses Schenkungs-Geld als heilig, da es über die zwei dazu notwendigen Eigenschaften verfügte: Einzigartigkeit und persönliche Beziehung. “Ein heiliges Objekt oder Wesen ist einzigartig und daher unendlich wertvoll. Es ist unersetzlich. Es hat kein Äquivalent und daher keinen endlichen “Wert”, denn Wert kann nur durch Vergleich bestimmt werden. (Das heutige) Geld hingegen ist wie alle Maßeinheiten eine Norm, die Vergleiche ermöglicht.” Erst später hat sich aus diesem Schenkungs-Geld das Tausch-Geld mit seinem Anspruch auf gleichzeitige Gegenleistung entwickelt. In dem Maße, wie das nun anonym gewordene Tausch-Geld die Individualität der persönlichen Beziehungen untergraben und die Austauschbarkeit der Leistungen zugenommen hat, wurde Geld auch zum Inbegriff der Begrenztheit der damit gehandelten Güter: Plötzlich konnte man nur mehr gegen Geld haben, was zuvor von der Natur in großer Fülle bereitgestellt oder in einem schenkenden „Geist der Verbundenheit“ frei zur Verfügung gestellt worden war (”Wir leben in einer Welt der Fülle… unsere Wahrnehmung von Knappheit ist eine selbsterfüllende Prophezeiung, deren Dreh- und Angelpunkt das Geld ist”.).

In den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts wurde die künstliche Wertbeständigkeit des Geldes, abstrakt und jenseits der realen stofflichen Welt – und von Eisenstein wohl nur ironisch „göttlich“ genannt – besonders deutlich, „als die Finanzwirtschaft ihre Verankerung in der Realwirtschaft verlor und eine eigene Dynamik entwickelte. Die unvorstellbaren Reichtümer in der Wall Street hatten nun keinen Bezug zu irgendeiner materiellen Produktion mehr, sie existierten in einer Parallelwelt. (…) Die Rituale, mit denen die Finanzpriesterschaft immer verzweifelter den Gott Geld zu besänftigen versucht, scheinen wirkungslos zu sein. Wie die Geistlichkeit einer untergehenden Religion fordern sie von ihren Anhängern immer größere Opfer, während sie ihre missliche Lage entweder auf die Sünden (gierige Bankiers, verantwortungslose Konsumenten) oder auf die unergründlichen Launen Gottes (der Finanzmärkte) zurückführen. Aber manche haben schon begonnen, die Priester selbst zu beschuldigen.“

Eisensteins Zins-Kritik: In dem Maße wie hinter der Geldschöpfung Kredite stehen, muss – wie schon gesagt – wegen der Zinsen die Summe aller Schulden immer höher sein als die Summe des begebenen Geldes. Deshalb muss jede Volkswirtschaft stets ein noch höheres Wirtschafts-Wachstum anstreben, um die Balance zwischen Arbeit und Kapital halten zu können. Das ist freilich nur in Ausnahmesituationen möglich, in den westlichen Industriestaaten etwa in den ersten 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Soweit das BNP in diesen Ländern danach höhere Wachstumsraten verzeichnet, handelt es sich im Wesentlichen nur um statistische Verschiebungen oder um Raubbau an Natur und Gesellschaft: Sei es, dass dem Wachstum in reichen Ländern durch verzerrte Austausch-Relationen eine Verarmung in schwächeren Ländern gegenüber steht, das Wachstum also nur “importiert“ wurde; oder dass Restbestände von Allgemeingut („Commons“) wie Wasser, Luft, Regenwald und der Äther (als Träger von Funk-Frequenzen) privatisiert werden; oder dass bisher in Landwirtschaft und Haushalt bargeldlos – und meist auch gerne – erbrachte Leistungen der Subsistenzwirtschaft nun bezahlt und in die Marktwirtschaft eingegliedert werden.

Zins fördert somit die Renten-Mentalität und führt zur Aufgabe produktiver Tätigkeit. Wie das auch der schon erwähnte Tomas Piketty festgestellt hat, führt das zu einer gesellschaftlichen Polarisierung: hier die arbeitenden Menschen, die sich mit einem immer kleineren Anteil des Kuchens begnügen müssen – und dort die immer reicher werdenden Hauptnutznießer von Zins- und Renteneinkünften. Eisenstein ist überzeugt: Es ist der Zins, der die Hortungsfunktion des Geldes ins Unmaß treibt; suggeriert er doch einen Ausweg aus dem vom Geld erzeugten Eindruck der Knappheit aller Güter und nährt damit den Irrglauben an unbeschränktes Wachstum. Somit verschlechtert sich durch soziale Polarisierung der allgemeine gesellschaftliche Wohlstand.

Eisensteins Politik-Vorschläge
Im Interesse des menschlichen Überlebens hält Eisenstein eine weitgehende Wiederbelebung des „Geistes der Verbundenheit“ sowie eines „heiligen“ Geldes für unverzichtbar. Um dies zu erreichen, müsste sich ein Wirtschaftssystem auf sieben Elemente stützen:

– 1. Allmähliche Zins-Reduktion bis hin zu Negativ-Zinsen, also ein „Schrumpf-Geld“ im Sinne Gesells. Ein Negativzins auf Einlagen und eine Währung, die mit der Zeit an Wert verliert, kehren die Wirkung von Zinsen um. Das ermöglicht Wohlstand ohne Wachstum; begünstigt systematisch die sozialverträgliche Verteilung von Reichtum und beendet die Vorwegnahme künftiger Erträge, sodass wir nicht länger dazu gedrängt werden, zugunsten kurzfristiger Gewinne Hypotheken auf unsere Zukunft aufzunehmen. Dazu passt die Umwandlung von Geld-Schulden in Sach-Mieten, da sie Geschäftsbeziehungen eher personalisiert als anonymisiert.

– 2. Steuerliche Förderung der „Commons” (Allmende): Grund und Boden oder kollektive Produkte der menschlichen Kultur sollten tunlichst nicht im Eigentum von Privatpersonen stehen, ganz besonders wenn diese als Commons zu qualifizierenden Dinge nicht zum Wohl der Allgemeinheit oder der Umwelt verwendet werden. Grundidee ist, dass Private nur Profit machen können, wenn sie ihr Eigentum sinnvoll nutzen, und nicht, wenn sie einfach nur besitzen. Alles, was aus Commons kommt, sollte daher mit Gebühren belegt oder besteuert werden. Geistiges Eigentum kann in die Commons zurückfließen, indem die Laufzeiten von Urheberrecht und Patenten verkürzt werden. Dadurch würde das kulturelle Umfeld, das ja Voraussetzung für das Entstehen dieser Ideen war, entsprechend gewürdigt.

3. Volle Kostenwahrheit nach dem Verursacher-Prinzip durch Internalisierung statt Auslagerung der ökologischen und sozialen Kosten. Die Einpreisung dieser Kosten soll verhindern, dass Umweltverschmutzung und andere Formen sozialen Missbrauchs von der Gesellschaft und von späteren Generationen getragen werden müssen. Daher sollten wir auch Steuern auf Verschmutzung und Ressourcen erheben oder ähnlich den CO2-Emissionsrechten damit handeln, damit ökonomische Anreize für Ressourcen-Effizienz und Reduzierung der Verschmutzung geschaffen werden. Noch besser wäre es, die Geschenke der Erde zur Basis unseres Geldsystems zu machen, indem wir die Währung – ein “Freigeld” im Sinne Gesells – mit den Ressourcen der Erde und ihrer Erneuerungs-Kapazität decken, also auch ihre Fähigkeit, Abfälle aufzunehmen und zu transformieren. So wie die Abschaffung der ökonomischen Renten verschieben auch diese Maßnahmen die Steuern weg vom Einkommen hin zu den Ressourcen, wodurch wir nicht für das besteuert werden, was wir beitragen, sondern für das, was wir nehmen. Schließlich sollten Einkommen wohl gar nicht mehr besteuert werden, was uns von der lästigen Dokumentationspflicht und der aufdringlichen staatlichen Überwachung befreit.

4. Wirtschaftliche Regionalisierung, da sich die Menschen nach einer Rückkehr zu Wirtschaftskreisläufen sehnen, bei denen sie die Menschen, von denen sie abhängig sind, persönlich kennen. Wenn die Produktion und der wirtschaftliche Austausch regional sind, dann werden auch die Auswirkungen unserer Handlungen auf die Gesellschaft und die Umwelt viel klarer ersichtlich, und das verstärkt unser angeborenes Gefühl für Kooperation. Tausende Gemeinschaften rund um den Globus haben bereits inoffizielle Lokalwährungen herausgegeben, und obwohl diese heute nur ein Nischendasein fristen, bewirken sie, dass Menschen mit der Idee vertraut werden. Sie schaffen eine Vorlage für zukünftige Regionalwährungen, die von lokalen Regierungen unterstützt werden

5. Technische Errungenschaften erlauben die Auszahlung einer sozialen Dividende an jedermann. Diese Dividende wäre eine verdeckte Umverteilung von Reichtum, weil zwar alle gleich viel erhalten, aber die Reichen proportional mehr Steuern bezahlen, um sie zu finanzieren. Sie wäre über Umlaufsicherungsgebühren, Verschmutzungsentgelte und Zahlungen für die Nutzung von Commons (siehe Punkt 1, 2 und 3) zu finanzieren.

6. Rücknahme des BNP-Wachstums: Es gibt sehr viel notwendige und schöne Arbeit zu tun, die mangels finanzieller Erträge unbezahlt bleibt und bisher neben der Erwerbsarbeit erledigt wurde. Wegen zunehmender Hochtechnologie und Überkapazität in der Produktion gibt es aber nicht mehr genug bezahlte Arbeit, um jeden zu beschäftigen und diese unbezahlte Arbeit zu ermöglichen. Das wäre kein Übel, solange Arbeitslosigkeit durch eine soziale Dividende abgesichert und bezahlte Arbeit auf die gesamte Wirtschaft verteilt wäre. Was, wenn mit einem Bewusstseinswandel, die das Mantra “Wachstum ist gut” überwindet, jeder 20% weniger arbeiten würde, statt dass 20% der Menschen gar nicht arbeiten? Schwundgeld, eine auf Ressourcen basierende Wirtschaft (Punkt 2 und 3), und die soziale Dividende ermöglichen zusammen eine solche Post-Wachstumsökonomie, die das Geld letztlich zu jenen fließen lassen, die es ausgeben müssen. Solange die Commons vor der Umwandlung in Geld geschützt bleiben, wird das auch kein Wachstum des BNP auslösen. Stattdessen wird es zu einer Verschiebung in der Ressourcen-Allokation kommen, und die Wirtschaft wird einen nachhaltigen neuen Schwerpunkt haben.

7. Kultur des Schenkens: Geld ist unfähig, die Zirkulation und die Weiterentwicklung der vielen nicht-quantifizierbaren Dinge zu fördern, die das Leben erst reich machen. Zum Glück hat der Rückgang der Wichtigkeit von Geld schon begonnen, und die Schenkökonomie bekommt neuen Raum. So ist das Internet sehr weitgehend ein Schenk-Netzwerk, das Informationen weitergibt, die einmal sehr teuer produziert werden mussten. Dienstleistungen wie Werbung, Reisebüros, Journalismus, Verlagswesen, Musik und viele mehr werden dadurch in den Bereich der Schenkökonomie verlagert. Ähnlich passiert nun direkt (peer-to-peer – P2P), was einst bezahlte Zwischenhändler – etwa Banken – und zentralisierte Verwaltungsstrukturen erforderte. Das Ideal von Verbundenheit, die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die reine wirtschaftliche Not auf der lokalen Ebene führen somit dazu, dass die Menschen allmählich wieder geschenkbasierte gemeinschaftliche Strukturen aufbauen. Die Politik kann diesen neuen Formen von wirtschaftlichen Kreisläufen helfen, indem sie zum Schutz der regionalen Wirtschaft ihre Steuer- und Bankenregulierungen liberalisiert und Tauschringe für Wirtschaft und Industrie fördert.

Die Wirkung von Eisensteins Elementen:
Eisensteins sieben Stränge der “heiligen Ökonomie” bilden zusammen ein Gewebe, eine organische Matrix, deren Entstehung wir schon heute miterleben. Wie kaum ein Aspekt dieser Ökonomie für sich allein stehen kann, so fördert auch jeder Teilbereich ganz natürlich die anderen. Die neue Wirtschaft wird seiner Meinung nach nicht durch einen völligen Neubeginn oder eine Revolution kommen, durch den alles Alte ausgelöscht wird, und wir bei null anfangen. Vielmehr wird es ein evolutionärer Phasenübergang sein – eine Metamorphose, die durchaus langfristig sein wird: bei einem jährlichen Rückgang des BNP um 2 Prozent – ein Satz, der über die steigende Lebensqualität leicht beherrschbar sein sollte – würde sich der Netto-Ressourcenverbrauch in jeder Generation halbieren, und da wäre in hundert Jahren die Heilung der unserem Planeten geschlagenen Wunden immerhin zu einem Teil abgeschlossen. Im Folgenden sei hier Eisensteins Zukunftsbild wiedergegeben:

Zu Geld, Zins und Steuern: Bei Einführung von Negativzinsen und Schrumpfgeld wird sich der alltägliche Umgang mit Geld nur für die Klasse der Investierenden ändern. Für die Wohlhabenderen wäre es immer noch möglich zu sparen, aber der Wert des Ersparten würde über die Zeit langsam abnehmen, außer bei Risikoinvestitionen. Ohne Risiko wird es also unmöglich sein, “das Geld für sich arbeiten” zu lassen.

Sogar für Staatsanleihen wird man 0% Zinsen oder weniger bekommen. Zur Finanzierung von großen Anschaffungen – privat oder geschäftlich – wird man, statt auf Spareinlagen zurückzugreifen, Kredite mit niedrigem Zinssatz oder ganz ohne Zinsen aufnehmen. Unternehmer werden natürlich weiter Zugang zu Investmentkapital haben, doch wird von ihnen nicht mehr verlangt, einen hohen Anteil ihrer zukünftigen Gewinne in den Dienst der Schuldenrückzahlung zu stellen. Das würde das heutige Wirtschaftsleben wesentlich erleichtern, da die Schuldzinsen die Unternehmer bisher zu ewigem Wachstum gedrängt haben (“wachse oder stirb!”)

Es wird immer dringender, den Schwerpunkt der Steuerlast weg von der Arbeit und hin zum Eigentum zu verschieben. Manche Staaten und Nationen sind daher dazu übergegangen eine Bodenwertsteuer zu verlangen, andere haben Öl- und Mineralien-Vorkommen verstaatlicht; Grundidee ist, dass Firmen nur mehr durch ihre Leistung, etwa durch Förderung und Vertrieb von Öl, nicht aber direkt durch den Besitz von Öl Geld verdienen. Mit einer Verlagerung der Steuern auf Eigentum und Ressourcen werden die Umsatz- und Einkommenssteuer verringert oder aufgehoben, und es wird ein starker wirtschaftlicher Anreiz zur Ressourcenschonung geschaffen.

Ökologie: Maßnahmen zur Kostenwahrheit und Internalisierung beenden den Widerspruch zwischen Ökologie und Ökonomie und führen dazu, dass die besten wirtschaftlichen Entscheidungen gleichzeitig die besten Entscheidungen in ökologischer Hinsicht sind. Ressourcenschonung und Reduzierung von Verschmutzung können dadurch zu besonders profitablen Unternehmenszielen werden, wie die hohen Rohstoffpreise auch kontinuierliche Fortschritte in der Miniaturisierung und Effizienzsteigerung erzwingen, billige Wegwerfprodukte somit nicht mehr rentabel sein werden. Die industrielle Güterherstellung wird dadurch zwar teurer, aber auch haltbarer und besser reparierbar – wir werden auf unsere Dinge besser aufpassen, sie gut warten und lange behalten. Große ressourcenintensive Güter hingegen, wie Autos, teure Maschinen und Werkzeuge werden wir in der Nachbarschaft oder innerhalb anderer Gemeinschaften teilen. Wohngebiete werden kompakter sein, die Häuser kleiner, und in größeren Häusern werden sich wieder Großfamilien oder andere Gemeinschaften jenseits der Kernfamilie finden.
Soziale Dividende: Mit dem Ende des Zins-getriebenen Hortungswahns wird nicht nur ein fairer Zugriff auf die natürlichen Ressourcen der Erde möglich, auch die Auszahlung einer sozialen Dividende kann nun daraus gedeckt werden. Obwohl es immer noch arme und reiche Menschen geben wird, wird Armut keine existentielle Bedrohung mehr darstellen. Wem es wichtig ist, etwas zu schaffen, das andere Menschen wollen und brauchen, der wird Geld verdienen. Und wer das einfache Leben in der Natur oder künstlerische Selbstverwirklichung bevorzugt, wird immer noch genug haben, um über die Runden zu kommen und seine Talente für das zu verwenden, was ihn wirklich inspiriert.

Regionalisierung: Alle diese Elemente stehen in einer synergetischen Beziehung zur Regionalisierung. Die Internalisierung der Kosten wird die angebliche Wirtschaftlichkeit von Massenproduktion mit langen Transportwegen in vielen Fällen als reine Illusion entlarven. Die Abschaffung der ökonomischen Renten wird die obszönen Einkommens-Unterschiede verringern, die jetzt zwischen reichen und armen Ländern bestehen. Diese beiden Faktoren werden eine teilweise Umkehrung der wirtschaftlichen Globalisierung herbeiführen, die in den letzten zweihundert Jahren stattgefunden hat.

Inzwischen wird ein Geldsystem, das von den Commons gedeckt ist, auf natürliche Weise die politische und wirtschaftliche Souveränität der Regionen stärken, weil ja viele der natürlichen, sozialen und kulturellen Commons von Natur aus lokal oder bioregional sind. Die jüngsten Finanzkrisen zeigten, dass lokale Regierungen schnell einspringen und ihre eigene Währung erzeugen, sobald nationale Währungen nicht mehr funktionieren (2002 in Argentinien, beinahe 2009 in Kalifornien, “Plan B” für den Euro). Während sich die globale Finanzkrise weiter verschärft, werden lokale Regierungen und kleinere Nationen die Chance haben, ihre wirtschaftliche Souveränität zurückzuerlangen, indem sie selbst offizielle oder “alternative” Währungen herausgeben und sie durch Maßnahmen wie Kapitalverkehrskontrollen und Steuern auf Devisengeschäfte vor den globalen Finanzmärkten schützen.

Während viele Hightech-Produkte und Leistungen von Natur aus global sind und es immer bleiben werden, haben versteckte Subventionen und der politische Kurs viele Dinge, die regional sein können und sollen, über Jahrzehnte in die globale Warenwirtschaft gedrängt. In Zukunft werden diese wieder zurück in den Bereich der lokalen Produktion übergehen. Die meisten Nahrungsmittel, die wir essen, werden in den Bio-Regionen unserer direkten Umgebung wachsen. Häuser und viele andere Produkte werden aus lokal vorhandenen Materialien bestehen, man wird sie oft wiederverwenden und im kleineren Maßstab erzeugen. All das lässt das BNP schrumpfen, erhöht jedoch das individuelle Wohlbefinden; den unteren und mittleren Klassen wird es besser gehen, so, als würde die Wirtschaft wachsen: ihre Einkommen werden steigen, und es wird Arbeitsplätze geben.

Gutes Leben: Insgesamt werden die Menschen in dieser Post-Wachstumswirtschaft immer mehr Zeit und Energie für nicht-wirtschaftliche Aktivitäten verwenden, sobald der Einfluss des Geldes zurückgeht, und die Bedeutung von Geschenken, Freiwilligenarbeit, Freizeit und des Nicht-Messbaren wächst. Der heute schon im Internet beobachtete Trend zur kostenlosen Verfügbarkeit von Digitalbildern, Musik, Videos, Neuigkeiten, Büchern etc. wird sich fortsetzen. Ressourcenbasierte Produktion wird hingegen sehr viel teurer, dafür aber effizienter sein. Die kontinuierliche technologische Entwicklung wird in vielen Hightech-Sparten mit immer weniger Aufwand immer mehr erreichen. Die Menschen werden auch mehr teilen und weniger konsumieren, eher borgen als vermieten, mehr geben und weniger verkaufen. Sie werden auf verschiedensten Wegen ihren Bedarf an Gütern, Dienstleistungen oder Geld decken. Geschenkkreise von Angesicht zu Angesicht oder die Koordination von Fähigkeiten und Bedürfnissen über das Internet werden es ermöglichen, viele Bedürfnisse ohne Geld zu stillen. Menschen werden viel eher das Gefühl haben, vollberechtigt Teil jener Gemeinschaft zu sein, von der sie abhängig sind. Ergänzend werden direkte Kreditsysteme in Kombination mit internetbasierten Leihsystemen (P2P) einige der traditionellen Bankgeschäfte überflüssig machen. Sowohl auf der regionalen als auch auf der globalen Ebene werden neue, nicht-quantifizierbare “Währungen” der Anerkennung und Dankbarkeit entstehen, die Verbindung schaffen und wertvolle Beiträge für die Gesellschaft und den Planeten belohnen.

Fazit:
Eisensteins Analyse der aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Lage ist bestechend. Dem steht nicht entgegen, dass Eisensteins Argumentation in einigen Punkten ziemlich überzogen sein dürfte; so etwa in seiner Wachstums-Kritik: Ich bin überzeugt, dass in einigen Bereichen sehr wohl noch „grünes Wachstum“ möglich ist, also ein dem klassischen BNP zuzurechnendes Wirtschaftswachstum, das nicht auf Kosten anderer Menschen, der Allgemeinheit oder der Natur geht – wie etwa dort, wo durch Investitionen in bessere technische Effizienz der Verbrauch an Energie und anderen natürlichen Ressourcen reduziert werden kann (zum Beispiel beim Ersatz von elektrischen Glühlampen durch LED-Leuchten). So ein grünes Wachstum ist jedoch eher die Ausnahme, die an der grundsätzlichen Schädlichkeit von weiterem Wirtschaftswachstum nichts ändert.
Eisensteins Konzept einer „Ökonomie der Verbundenheit“ würde geradezu idealtypisch den Rahmen für das eingangs beschriebene Kooperations-Prinzip bilden und damit das in den letzten Jahrzehnten ins Unmaß gesteigerte Konkurrenz-Prinzip auf ein nachhaltiges Niveau zurückholen.
Die Frage, ob dieses Konzept Utopie bleiben muss, oder – bei aller offensichtlichen Romantik – realistische Aussichten auf eine Realisierung hat, wird im Wesentlichen von der Stärke der Zivilgesellschaft abhängen; dazu zählt auch ihre Entschlossenheit, sich mit der starken Gegnerschaft Mammons anzulegen. Die Aussichten für einen Erfolg – und sei es auch nur auf Raten – sind jedoch nicht schlecht:

– Im atmosphärisch wichtigsten Punkt, nämlich der Einführung von Negativ-Zinsen, kommt die Realität der Finanzkrise ohnehin Eisensteins Vorstellungen weit entgegen: Bestehen solche Zinsen für Ausländer in der Schweiz schon seit Jahren in der Form von „Kommissionen“, so verrechnet die Europäische Zentralbank seit Juni 2014 auch formell Negativzinsen für Bankeinlagen. Im Verein mit den nicht nur in Europa praktisch auf null gesunkenen Sparzinsen bewirkt das ein gewaltiges Umdenken im allgemeinen Verständnis von Geld, Zins und Sparen, ganz im Sinne Eisensteins.

– Unter den sieben Strängen Eisensteins ist staatliches Handeln im Wesentlichen nur in Steuerfragen unumgänglich. Die Soziale Dividende wird zwar auch aus staatlichen Steuergeldern fließen müssen, doch wird sie selbst nach Eisensteins Einschätzung erst nach Wirksamwerden der anderen Elemente bezahlt werden können.

– In den anderen Bereichen kann die Zivilgesellschaft von sich aus konkrete Umsetzungsschritte setzen; oder zunächst informell auf lokaler bzw. regionaler Basis soweit zu handeln beginnen, dass auch Behörden und politische Vertretungskörper nachziehen werden. Eine besondere Rolle spielt dabei die Regionalität schon deshalb, weil die lokal gegebene größere Überschaubarkeit die Überzeugungsarbeit wesentlich erleichtert. Einmal mehr zeigt sich dabei, dass große soziale Fortschritte eher „von unten nach oben“ erfolgen denn „top down“.

 

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