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Was ist Gelungenes Leben?
Bisher habe ich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ein Gelungenes oder auch „Gutes Leben“ an Hand objektiv nachprüfbarer Argumente skizziert und vor allem auf zivilgesellschaftliches Engagement gesetzt. Ich bin mir dabei bewusst, dass ein solcher Rahmen auch nach dem geschilderten „Anpfiff zur zweiten Halbzeit“ nicht vom Himmel fällt. Entscheidend für den Erfolg und ein einigermaßen rechtzeitiges „Zünden“ des zivilgesellschaftlichen Engagements sollte vielmehr die subjektive Sicht der Dinge sein, wie sie in jedem einzelnen Menschen gelegen ist – und dem soll dieser letzte Teil des Buches dienen.

Gerne gebe ich zu, dass meine Vorstellungen über die gesellschaftlichen Voraussetzungen eines Guten Lebens dem Traum von der „dörflichen Idylle“ nachzuhängen scheinen, und wohl auch nicht frei von Birkenstock-Romantik sind. Daher hier eine klare Aussage: Kleine „dörfliche“ Gesellschaften sind alles eher als idyllisch, selbst wenn ein Komfort-Verzicht – wie ich gezeigt habe – weitgehend vermieden werden kann. Denn ein Paradies auf Erden wird es nie geben; und auch dem Guten Leben werden schreckliche Tiefen nicht erspart bleiben. Konkret werden wir große Kriege nur mit viel Glück vermeiden können, und mit Sicherheit werden uns noch auf Generationen drei große Übel begleiten, nämlich Umwelt-Katastrophen, Hunger und Durst als Folge von Umweltsünden früherer Generationen; dann blutiger Terror, meist ausgelöst durch religiösen Fundamentalismus; und schließlich große Wanderungs-Bewegungen als Folge extremer sozialer Ungleichheit. Dazu nur ganz kurz und nebenbei: wer meinen Überlegungen bis hierher gefolgt ist, wird verstehen, dass ich den vom früheren britischen Regierungschef Gordon Brown geprägten Satz „global problems need global solutions“ für eine gefährliche Drohung halte und vielmehr an local solutions for global problems glaube.

Gut oder auch gelungen ist Leben, wenn es angstfrei und maximal selbstbestimmt ist; wo man also von äußeren Zwängen frei ist. Dazu gehört zunächst die Freiheit von materieller Not, sei es physische Gewalt, Hunger und Durst oder Obdachlosigkeit; dann von sozialer Not – etwa totaler Vereinsamung oder Mobbing in seinen verschiedensten Formen. Schwerer wiegen allerdings Zwänge, die zwar von der Außenwelt ausgelöst werden, wo der eigentliche Eindruck des Zwanghaften sich aber im Inneren bildet. Es geht dabei vor allem darum, Ängstlichkeit und die Ohnmacht des Jammerns zu überwinden, um in die „Macht des Tuns“ zu kommen. Der Autor und Selbst-Findungs-Coach Jens Corssen meint dazu, dass man in Frieden mit den äußeren Gegebenheiten leben und daraus Kraft schöpfen soll 115).  Denn „wer gegen das Leben ist, wer klagt und sich beklagt, ist nicht in Frieden mit den Gesetzen des Lebens. Ein solcher Mensch zwingt durch diese Haltung seinen Körper, ständig Stresshormone auszuschütten.” Biologisch gesehen bewegt er sich im Kampfmodus, während es doch das Ziel des Menschen sein sollte, als „Selbstentwickler“ in „gehobene Gestimmtheit“ zu gelangen. Ähnlich sah das übrigens schon Leopold Kohr. Er zitierte oft seinen Vater, der als Landarzt seine Patienten aufforderte, etwa über ihre Masern-Erkrankung froh zu sein. Auf die Frage, warum man denn da froh sein sollte, antwortete er stets: „Weil Du, wenn Du nicht froh bist, trotzdem Masern hast!“

Und wie kommt man zu dieser Gelassenheit? Nun, wer oft und gerne „Mensch ärgere Dich nicht!“ spielt, ist schon auf dem richtigen Weg – wichtiger sind da aber wohl andere Faktoren:

• Überschaubarkeit: Wo diese Eigenschaft fehlt, wird man sich mit ganzheitlichem Denken und in der Folge auch mit dem Menschlichen Maß schwer tun; wo sie gegeben ist, führt sie zu überlebensnotwendiger Flexibilität. Das Streben nach Überschaubarkeit hilft nicht nur Unmaß zu vermeiden und die eigenen Kräfte bestmöglich einzusetzen; es bekämpft auch die Angst, von „unwägbaren Dingen“ abhängig zu sein. Wie sehr da ein starker Orts-Bezug hilfreich sein kann, wurde ja schon ausgeführt.
• Zeit-Management: Hier ist in erster Linie die Fähigkeit zur Muße gemeint; also die Zeit, die eine Person nach eigenem Wunsch nutzen kann. Das ist nicht mit Freizeit gleichzusetzen, da ja viele Freizeitaktivitäten von Fremdinteressen bestimmt werden. Die Stressfreiheit im scheinbaren Leerlauf der Muße ist jedoch die beste Gelegenheit, kreativ über konkrete Zugänge zu einem Gelungenen Leben nachzudenken 116). Wie sehr diesem Ziel durch Exzesse des Vernunft-Denkens geschadet wird, konnte schon unter dem Begriff des „Veloziferischen“ gezeigt werden. Zum Zeit-Management gehört freilich auch der Schutz der Neugier: Diese ist für Kreativität unersetzlich, braucht viel Zeit, um sich zu regenerieren, und darf daher nicht an Nichtigkeiten wie Werbung, Trash-Kultur etc.


115) Jens Corssen „Deine Gedanken werden zu deinem Schicksal“, Interview, Salzburger Nachrichten, 10.9.2013
116) Robert Skidelsky und Edward Skidelsky, „How Much is Enough?: Money and the Good Life“, a.a.O.


 

vergeudet werden. Andernfalls – also bei Erschöpfung der Neugier – droht, wie schon ausgeführt, ein Kollaps unserer Fähigkeit zu bewusster Reflexion und Vernunft. Ernste Symptome dafür sieht man ja in der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit.

Uneigennützige Kooperationsbereitschaft
Sie bringt einen radikalen Paradigmen-Wechsel im gängigen Verhältnis zwischen dem Ich und der Außenwelt mit sich: Die pessimistische Sorge, dass die Umwelt mir in Wettbewerbssituationen keinen Vorteil gönnt, wandelt sich bei einer vorwiegend kooperativen Einstellung in ihr optimistisches Gegenteil – und plötzlich öffnen sich viele neue Entfaltungsmöglichkeiten. Zu dieser Arbeit gehört es auch, viel mit Freunden zu reden: Nicht nur Leopold Kohr hält sowohl die Überraschungsfähigkeit als auch die Irrtumsanfälligkeit des Menschen für grenzenlos. Nach dem Motto „vier Augen sehen mehr als zwei“ können da auf Augenhöhe gegebene Tipps von Freunden große Hilfe bringen, sei es im Positiven durch Eröffnung neuer Chancen oder im Negativen durch Warnung vor bisher verborgen gebliebenen Gefahren.

Mit dieser Gelassenheit gelingt es, dem Mammon eines seiner wichtigsten Lockmittel aus der Hand zu schlagen, nämlich die ziemlich bewusste Verwechslung von Freude und Spaß durch ständiges Anheizen des Konsumrausches. Schon eine einfache Google-Recherche zeigt, wo da der Hase im Pfeffer liegt: Freude hat etwas mit dem Inneren des Menschen zu tun hat, während Spaß mehr an der Oberfläche bleibt. Ganz gut gefällt mir dabei die Aussage: Spaß kommt in erster Linie von außen, z.B. durch die Unterhaltungsindustrie – Freude kommt von innen, indem wir unseren Werten und ethischen Überzeugungen folgen. Spaß erzeugt Leere und macht deshalb SÜCHTIG – Freude erzeugt Fülle und macht FREI. 117)

Ein wenig tiefer schürfend lässt sich für mich der Kern dieser zwei Dinge etwa so beschreiben: Spaß ist offensichtlich eine hochwertige Form der Entspannung, genauer gesagt: der spielerische Umgang mit dem Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung. Freude hingegen hat man dort, wo man im tiefsten Inneren Übereinstimmung zwischen äußerem Erleben und dem Ich erlebt, was dort auch „eine Saite zum Klingen“ bringt. Die tiefste Schicht dieses Ichs ist zweifellos das Sinnstreben, wie es bahnbrechend von Viktor Frankl beschrieben wurde 118) – also


117) http://www.stollreiter-academy.com/index.php?article_id=405&clang=0
118) Viktor E. Frankl, „Der Wille zum Sinn“, Bern 1972, Verlag Hans Huber


 

der wohl in jedem Menschen anzutreffende Drang, in etwas Größerem Erfüllung zu finden, das über das eigene Ich hinaus reicht. Das sollte sich – jedenfalls beim gesunden Menschen – im Bestreben äußern, letztlich lieber kooperativ sein zu wollen als sich im Wettbewerb ständig selbst neu beweisen zu müssen. Freude ist also die Bestätigung dafür, auf dem richtigen Weg zu sein, und wer in einer freudigen Grundstimmung lebt, dem kann man somit auch glauben, ein gutes Leben zu führen.

Die spirituelle Dimension
Die freudige Grundstimmung echter Gelassenheit und die schon besprochene Ur-Freude an selbst Geschaffenem berühren zutiefst die spirituelle Dimension des Menschen. Nun habe ich in der Einleitung zu diesem Buch die zentrale Frage nach dem Glauben an das demokratische Ideal gestellt und Lesern, die nicht daran glauben können, empfohlen sich lieber einen schönen Tag zu machen. Ich wiederhole nun diese Einladung, bevor ich nun zu einer weiteren Glaubens-Frage komme:

Spiritualität und Religion waren in früheren Generationen eine Selbstverständlichkeit, sind aber im Zuge der Aufklärung als vernunftwidrig beiseitegelegt worden, als sich ein „wissenschaftlicher Atheismus“ breit gemacht hat. Seine Anhänger „vergöttern“ den Zufall und wollen nicht zugeben, dass sie damit vor der – unwiderlegbaren – Möglichkeit von Zusammenhängen einer höheren Dimension kapitulieren. In diese Richtung argumentiert sehr schön und überzeugend der Sozialphilosoph Norbert Leser im Buch „Gott lässt grüßen“ 119).

Dass die Leugnung der spirituellen Zusammenhänge zwischen Politik, Sinnfragen und überlieferter Religion ein grober Fehler war, wird heute von mehr und mehr namhaften Forschern und Politikern zugegeben. Sehr klar hat das für mich der tschechische Präsident Vaclav Havel ausgedrückt, als er bei der Eröffnung des Zukunfts-Kongresses „Forum 2000“ in der Prager Burg darauf hinwies, dass die heute beobachtete Krise im umfassenden Verantwortungsgefühl der Menschen im Wesentlichen auf den „Verlust von Gewissheiten“ zurückzuführen sind, wonach „das Universum, die Natur, das Sein und unser Leben das Werk einer Schöpfung sind, die von einer bestimmten Absicht geleitet ist, einen bestimmten Sinn hat und einem bestimmten Zweck folgt;


119) Norbert Leser, „Gott lässt grüßen – Wider die Anmaßung des Reduktionismus und Evolutionismus“, Wien 2013, Ibera Verlag


 

und dass uns mit diesem Verlust logischerweise auch jede Demut vor allem, was über uns hinaus reicht und uns umgibt, abhandengekommen ist“. Gleichzeitig haben wir damit auch das Gefühl dafür verloren, „dass unser gesamtes Tun der höheren Ordnung unterstellt werden muss, deren Teil wir sind, deren Autorität wir unterstehen, und unter deren Blick jeder von uns ständig steht 120) .“

Vom Ergebnis her entspricht das einer Einsicht, die schon 1973 von Konrad Lorenz geäußert wurde. Er meinte, dass in jeder Kultur ein so großer, durch Jahrhunderte lange Lernprozesse erworbener Schatz an Wissen und Erfahrung steckt, dass seine Zerstörung auch mit größten Anstrengungen nicht in kurzer Zeit wettgemacht werden kann. Er warnt daher: „Der Irrglaube, dass nur das rational Erfassbare oder gar nur das wissenschaftlich Nachweisbare zu dem festen Wissensbesitz der Menschheit gehöre, wirkt sich verderblich aus. Er führt die ‘wissenschaftlich aufgeklärte‘ Jugend dazu, den ungeheuren Schatz von Wissen und Weisheit über Bord zu werfen, der in den Traditionen jeder alten Kultur wie in den Lehren der großen Weltreligionen enthalten ist“ 121). Mit anderen Worten: Spiritualität und Religion sind Barrieren gegen vernunft-getriebene Maßlosigkeit. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil Lorenz als Begründer der Verhaltensforschung einer der ersten war, der den engen Spielraum des Vernunftdenkens mit wissenschaftlicher Präzision nachgewiesen hat, also mit Mitteln eben dieser Vernunft.

Das Bekenntnis zur Spiritualität – und in der Folge auch zur Religion – läuft also auf eine Selbst-Relativierung des Menschen hinaus, legt ihm Grenzen und damit auch Maß-Halten auf. Das sollte schon auf der Ebene der Vernunft einleuchtend sein, doch wird diese Wirkung auf der emotionalen Ebene des Menschen noch wesentlich vertieft, die uns ja meist viel stärker steuert. Dazu passt das Wort eines Mannes, der als wohl größter Physiker der letzten 100 Jahre ganz dem Vernunft-Denken verpflichtet war, nämlich Albert Einstein. Er beschreibt in seinem letzten Aufsatz die Verbindung von Vernunft und Emotion in der Spiritualität: „Meine Religion besteht in


120) Zitiert aus „Address by the President of the Czech Republic V Havel; Forum 2000“, 4.September 1997, Presseabteilung der Tschechischen Präsidentschaftskanzlei
121) Konrad Lorenz, „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“, München 1973


 

meiner demütigen (!) Bewunderung einer unbegrenzten geistigen Macht, die sich selbst in den kleinsten Dingen zeigt, die wir mit unserem gebrechlichen und schwachen Verstand erfassen können. Diese tiefe, emotionelle (!) Überzeugung von der Anwesenheit einer geistigen Intelligenz, die sich im unbegreiflichen Universum eröffnet, bildet meine Vorstellung von Gott 122).“

Spiritualität überwindet das beängstigende Gefühl, einer bestenfalls teilnahmslosen Welt allein ausgeliefert zu sein. Sie führt zum einen zu Gelassenheit und Selbst-Relativierung, zum anderen stärkt sie den „Geist der Verbundenheit“, darf man mit ihr doch zuversichtlich sein, dass die eigenen Akte uneigennütziger Kooperation einem „irgendwie“ zurückgegeben werden. Diese Zuversicht wächst noch weiter unter dem Eindruck wohl verstandener Religion: Wo man also viel mehr auf den Kern ihrer Botschaft schaut als auf die vielen Fehler ihrer Umsetzung. Denn nur wirklich umfassende Verbundenheit kann gemeint sein, wenn die drei großen monotheistischen Religionen an einen Gott glauben, der nach der ältesten Lesart einen ewigen Bund mit seinem Volk beschlossen hat; und der nach jüngeren Lesarten als liebender Vater bzw. als „All-Erbarmer“ aller Menschen angesprochen werden will.

Wohl in allen Religionen gibt es Theologen, die ihre Offenbarungstexte insoweit „wohl verstehen“, als sie daraus auch für unsere Generation wertvolle Anleitungen gesellschaftspolitischer Art herauslesen können. Ich sehe das bestätigt, wenn ich mir die in diesem Buch wiedergegebenen Lehren Leopold Kohrs, Ernst Friedrich Schumachers, Martin Nowaks und Charles Eisensteins einerseits und die noch im 19. Jahrhundert formulierte katholische Soziallehre andererseits anschaue. Um mit letzterer zu beginnen:

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich die soziale Lage der arbeitenden Menschen unter dem Eindruck der industriellen Revolution und der Verstädterung so sehr verschärft, dass Papst Leo XIII 1891 mit der Enzyklika „Rerum novarum“ den Anstoß zu einer zeitgemäßen katholischen Soziallehre gegeben hat. Auf „göttlichem Naturrecht“ aufbauend strebt sie eine vernünftige Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens an. Je mehr und je nachhaltiger die äußere gesellschaftliche Ordnung an bestimmte “Tugenden” des


122) http://www.kardinalkoenig.at/wirken/gespraech/dialog5/0/articles/2012/09/04/a3792/


 

Zusammenlebens angenähert wird, umso mehr wird die politische und wirtschaftliche Realität dem durchaus erreichbaren Ideal sozialer Gerechtigkeit, ja einer “gottgewollten Ordnung” entsprechen. Zentrale “Tugenden” bzw. Prinzipien sind

• das Menschenbild der unantastbaren Würde eines jeden Menschen (Personalität);
• das Sozialprinzip des mitmenschlichen Zusammenhalts (Solidarität – also die Bereitschaft zu Leistung ohne unmittelbare Gegenleistung); und
• das Sozialprinzip der Verantwortlichkeit und Selbsthilfe der kleineren gesellschaftlichen Einheiten (Subsidiarität).

Was nun die genannten vier Autoren angeht, so ist es doch recht erstaunlich, dass sie in völliger Unabhängigkeit von Kirche und Religion viele Jahrzehnte später Theorien entwickelt haben, die auf rein säkularer Basis die Unverzichtbarkeit dieser drei Prinzipien erhärten. Interessant ist, dass sie zwar in unterschiedlicher Weise bei einem der drei Prinzipien ansetzen, im Ergebnis jedoch alle drei berücksichtigen, und letztlich zu einer vom „Geist der Verbundenheit“ geprägten Gesellschaft gelangen. Wie schade, dass die katholische Kirche praktisch bis heute darauf verzichtet hat, diesen Gleichklang der Ideen synergetisch zu nutzen.

Auf dem Weg zum Homo Empathicus
Wie gesagt mag ein selbstbestimmtes Gutes Leben in Reichweite sein, es wird aber schon aus ökologischen Gründen kaum sorgenfrei sein; ja schon das bloße Überleben des Menschen ist heute in Gefahr. Wir brauchen daher dringend ein neues Selbstverständnis, das uns rational wie emotional überzeugt, und das daher auch auf Spiritualität wird setzen müssen. Dazu passt, dass ich schon im Zusammenhang mit Konrad Lorenz’ „Fulguration“ den französischen Denker Pierre Bertaux erwähnt habe, der von einer „Mutation der Menschheit“ unter äußerem Druck gesprochen hat. Eine solche Mutation wäre es wohl, wenn wir den „Geist der Verbundenheit“ ganz in uns aufnehmen. Was aber wäre der äußere Druck? Der erwähnte small bang wird dazu wohl kaum laut genug sein…

Christian Felber, der Vorkämpfer der sozial- und wirtschaftspolitischen Bewegung Attac und Gründer der „Gemeinwohl-Ökonomie“, sieht die Situation ähnlich, wenn er zu einer „ökologischen Spiritualität“ aufruft; sie soll sich auf eine Verbundenheit zwischen der bedrängten Natur und dem Menschen, aber auch zwischen den Menschen stützen: „Die Natur ist ein Zugang zur Spiritualität, leidet aber… große Not. Wir sehen die Natur nur als Ressource und sind zu wenig mit ihr verbunden: körperlich, emotional, intuitiv, geistig.“ Felber hält zwar die Freiheit auf der individuellen Ebene für sehr wichtig, betont aber, dass jeder Einzelne sich auch mit dem größeren Ganzen verbunden sehen sollte: „Dieses Ganze ist nicht nur die gesamte lebendige Welt, sondern alles, wie immer man das benennt: Schöpfung, Geist, Gott, Liebe Licht.“ Sorge um die Natur sowie Freiheit und Gemeinschaft müssten daher kein Widerspruch sein. „Es sind sogar zwei Freiheiten: die individuelle, die durch die Verbundenheit nie auf Kosten anderer geht, und die kollektive, die die Spielregeln des Zusammenlebens gemeinsam erschafft, als Höchstform der Demokratie.“ Der Schlüssel dafür, Spiritualität auf beiden Ebenen zu kultivieren, sei die Verbundenheit: „Wenn ich verbunden bin, weiß ich nicht nur um die anderen, sondern ich fühle die anderen mit. Das Gemeinwohl, das Wohl aller, wird zu einem Anliegen, das von innen kommt und nicht durch Normen von außen eingefordert werden muss .“ 123)

Diesen Gedanken sehe ich bei dem US-amerikanischen Soziologen Jeremy Rifkin bestätigt, wenn er von der kommenden „empathischen Zivilisation“ spricht 124). Rifkin sieht eine zivilisatorische Evolution zu einem steigenden empathischen Bewusstsein kommen, das durch die Entwicklung immer komplexerer Formen des menschlichen Zusammenlebens erzwungen wird. Als Katalysator für diese Entwicklung erweist sich in der Moderne vor allem die Psychologie, da sie ein therapeutisches Bewusstsein geschaffen hat, welches das Verständnis für die eigenen Gedanken und Gefühle schärft. Rifkin argumentiert daher, dass mit dem Einsetzen dieser Entwicklung vor ungefähr 100 Jahren ein neues “Zeitalter der Empathie” begann, welches sich anschickt, das Zeitalter der Vernunft abzulösen. Seine zentrale Hypothese ist der Zusammenhang vom zunehmender Empathie und der sich verschärfenden ökologischen und sozialen Krise (Entropie).


123) Vortrag Goldegger Dialoge 2013, https://www.youtube.com/watch?v=yqFsbJyPVEo&feature=youtu.be
124) Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Frankfurt/New York 2010, Campus Verlag


 

So liegt nach seiner Ansicht die Tragik dieser zivilisatorischen Entwicklung darin, “dass sich unser wachsendes empathisches Bewusstsein überhaupt erst durch die immer größere Ausbeutung der irdischen Energiequellen und anderer verfügbarer Ressourcen und auf Kosten der Gesundheit unseres Planeten hat herausbilden können.” Dabei kam es zu stets komplexeren Formen des Zusammenlebens, die immer auch mit dem „entropischen Verfall“ von regionalen Ordnungen und großen Kulturen einhergingen. Die Kultur steht folglich vor der Herausforderung, diesen Verfall zu kompensieren, indem sie größere – oder zumindest andere – Formen des Gemeinwesens entwickelt.

Die spezifische Situation der Spätmoderne ist jedoch, dass erstmals in der Geschichte die ganze Menschheit davon betroffen ist, worin Rifkin sowohl eine Gefahr als auch eine Chance sieht. Die Gefährdung liegt darin, dass es diesmal keine Möglichkeiten gibt, den entropischen Verfall nach außen zu verlagern. Das bietet jedoch andererseits die Chance zur Entwicklung eines “global-biosphärischen Bewusstseins” mit dem Ziel, die Empathie auf den ganzen Planeten auszudehnen. Eine 3. industrielle Revolution wird die 2. industrielle Revolution ablösen, die überwiegend auf der Ausbeutung der Rohstoff-Ressourcen des Planeten Erde beruht. So ist nach Rifkin die Homo Oeconomicus-Ära im Sterben, führt doch aufgrund von Klimawandel und -Erwärmung eine weitere Ausbeutung nicht nur zum peak oil, sondern ist die Lebensqualität der Menschheit schon heute deutlich reduziert.

Die 3. industrielle Revolution geht auch nach Rifkin mit der Nutzung von Erneuerbaren Energiequellen einher, insbesondere der direkten Sonneneinstrahlung. Energie kann damit in den Gebäuden produziert werden, die am meisten davon verbrauchen. Die technischen Voraussetzungen für eine solare Zukunft hat Deutschland vor allen anderen Nationen erforscht und geprüft, betont Rifkin. Die Organisation dieser globalen Energiewende ist möglich mit Hilfe des Internet – ein energy-internet worldwide wird eine friedliche Energiewende schaffen und die zerstörerische und kriegsbelastete fossile Weltwirtschaft ablösen, konstatiert Rifkin. In Entwicklungsländern wird das noch schneller gehen als in den entwickelten Ländern, vor allem durch die Markt-Entwicklung über Mobil-Telefone. Er weist darauf hin, dass die Internet-Generation bereits gut informiert ist. So fragen heute schon Kinder nach dem ökologisch- sozialen footprint der Produkte, und überhaupt werden uns die nächsten Generationen daran messen, was wir ihnen an Lebensqualität hinterlassen. Rifkin verschreibt somit der bisherigen Entwicklungsgeschichte einen gänzlich neuen Sinn, den er in der Verwirklichung des menschlichen Potentials zu Empathie sieht 125).

Ausblick
Wir erleben heute gewaltige Kulturbrüche, die aus mehreren Richtungen auf uns einstürzen und in unserer Gesellschaft kaum einen Stein auf dem anderen lassen – die Umweltkatastrophen, den fundamentalistischen Terror und die enormen Wanderungs-bewegungen mit ihren Integrationsproblemen habe ich schon genannt, auch die nur mit viel Glück zu meisternde Kriegsgefahr. Ein radikaler Kulturbruch zeichnet sich auch in der Wirtschaft ab, wo verschiedene Formen einer wahnwitzigen Geldschöpfung die ins Negative stürzende Zinsentwicklung praktisch ad absurdum geführt hat. Noch können wir nicht abschätzen, was es bedeutet, die seit vielen Generationen gewohnte Alters- und Krisenvorsorge in der Form des Geld-Sparens aufzugeben, wurde doch eine so fundamentale Veränderung des Finanzsystems “nicht einmal von Marx und Lenin auf den Weg gebracht” 126).

Die Chancen, dass diese Kulturbrüche nur mit Politik und Marktwirtschaft bewältigt werden, sind äußerst gering. Ganz anders jedoch, wo man sich auf ein dichtes Netz freundschaftlicher Beziehungen verlassen kann, in dem die beschriebene Bereitschaft zu uneigennütziger Kooperation gegeben ist. Das lässt sich gerade auf unterster sozialer Basis belegen: Studien der UN-Organisation HABITAT zeigen, dass in den Slums der Megastädte Indiens, Afrikas und Lateinamerikas, wo Armut und die Abwesenheit politischer Unterstützung notorisch sind, spontan höchst effiziente Netzwerke mit höchsten „menschlichen“ Qualitäten entstehen, sobald eine Zivilgesellschaft über ein Minimum an Autonomie und Planungssicherheit verfügt. Für die ungeheure kreative Kraft der informellen Siedler gibt es weltweit genug Beispiele. Die Favela da Roçinha in Rio de Janeiro oder Dharavi in Mumbai etwa, das mit knapp 600.000 Einwohnern als größtes Slum Asiens gilt – das sind kleinteilige, funktionierende Mega-Organismen mit Tausenden florierenden Betrieben und Geschäften. Denn “wer die Gewissheit hat, nicht vertrieben zu werden, der investiert. Wer täglich mit der Abrissbirne rechnet, haust weiter unter Planen.(…) Als im Juli 2005 die schwersten je dagewesenen Monsunregenfälle Mumbai überschwemmten, zeigte sich die Stadt von ihrer fürchterlichsten und von ihrer besten Seite:


125) Zusammenfassung nach Renee Schulz in „Infobrief der E.F.Schumacher Gesellschaft für politische Ökologie“, Jahrgang 12 Ausgabe 3
126) Antje Hermenau, “Unerhört oder unverstanden – Anmerkungen zum Phänomen Pegida“, a.a.O.


 

Hunderte Menschen ertranken. Doch Hunderttausende halfen einander. Es gab keine Plünderungen. Es gab keine Panik. Menschen wateten durch die Wassermassen und versorgten ungefragt die 150.000 in den Zügen und Zugstationen Festsitzenden mit Nahrung. Menschenketten wurden gebildet, um in den Fluten Gefangene zu befreien. Das offizielle Mumbai versagte total. Doch die Mumbaikans halfen einander, weil sie sowieso jeden Glauben an offizielle Hilfe verloren hatten. (…) Auf diesem Planeten der Stadtsiedler werden im 21. Jahrhundert die meisten Menschen genau so leben und mit ihren Lebensumständen fertig werden.“ 127)

Zugegeben, nicht nur für die meisten Europäer wäre es eine arge Zumutung, auf das Komfort-Niveau indischer oder brasilianischer Slums herabsteigen zu müssen, nur um an den hier geschilderten menschlichen Qualitäten teilhaben zu können. Im Wesentlichen geht es aber darum, den Geist der Verbundenheit, wie er in tropischen Slums – und ansatzmäßig auch im Süden Europas – bereits gegeben ist, mit so viel materieller Raffinesse zu verbinden, dass der befürchtete Komfort-Verlust erst gar nicht eintritt. Das braucht Hard- und Software, die den Gegensatz zwischen lokaler, über uneigennützige Kooperationen laufender Versorgung mit Grundbedürfnissen einerseits und der Erfüllung über-regionaler, über die Marktwirtschaft abzudeckender Luxus-Wünsche andererseits überbrücken kann.

Viel von dem, was diese Raffinesse ausmacht, existiert bereits und muss nur mehr allgemein zugänglich gemacht werden; vieles aber muss erst erfunden werden. Gegenüber anderen Weltgegenden haben da die Europäer die viel besseren Karten in der Hand. Zum einen lastet auf ihnen der höchste Veränderungsdruck: Im globalisierten Wettlauf der Kontinente und Sub-Kontinente zu einem immer billigeren und immer anonymeren Einheitsbrei, wie wir ihn heute beobachten müssen, ist Europa wegen fehlender Rohstoffe, teurer Arbeitskräfte und (auch politisch) extrem exponierter Lage am schlechtesten gerüstet. Zum anderen gibt es hier auf kleinem Raum und ausgehend von selbstbewussten, historisch gewachsenen Regionen die kulturelle Vielfalt, die Europa die höchste Kreativität verleiht – nicht zufällig ist europäisches Design weltweit führend. Überhaupt ist Europa ein „Musterbuch“ von politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Modellen mit durchaus herzeigbaren Erfolgen. Kurz, Europa kann es schaffen, der ganzen Welt zu zeigen, wie man weltweite Offenheit mit lokaler Zentrierung verbindet, und wie man die gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein gelungenes Leben schafft, indem man sowohl den materiellen Bedürfnissen unserer Zeit als auch den Prägungen unserer biologischen Evolution gerecht wird (Stichwort: Ceteris-paribus-Syndrom).


127) zitiert nach Ute Woltron, Spectrum in “Die Presse” vom 4.6.2011


 

Fazit:

Wenn Felber von Verbundenheit und Rifkin vom globaler Empathie sprechen, so habe ich das im Buch „Groß ist ungeschickt“ 128) die „soziale Spiritualität“ genannt und als vielleicht wichtigsten Mega-Trend der Zukunft bezeichnet. Mehr und mehr Menschen versuchen ja das Vakuum des Materialismus mit einer Spiritualität zu füllen, die höchstpersönliche „Selbst-Verwirklichung“ in aktiver Nächstenliebe findet. Ob Verbundenheit, Empathie, soziale Spiritualität oder Nächstenliebe, diese Gaben sind für unsere Spezies überlebenswichtig; denn nur sie machen die jeden Einzelnen treffende Verantwortung für seine soziale und ökologische Umwelt möglich. Wo dieser „Geist der Verbundenheit“ weht, verliert Mammon seine Macht, weil menschliches Maß zur Selbstverständlichkeit wird und die in der Aufklärung entwickelten großen Ideen damit vor Exzessen bewahrt werden. Dieser Geist wird aus den vielfach aufgezeigten Gründen in unserem jeweiligen „Gesichtskreis“ am stärksten sein. Aber: je besser es dort läuft, desto mehr geistige Energie bleibt über, um unser Verantwortungsbewusstsein auch über die Grenzen des überschaubaren Raumes hinaus zu entwickeln. Ein wirklich demokratischer Zentralismus bekommt damit über blühende Regionen hinaus sowohl in Nationalstaaten als auch in kontinentalen und globalen Zusammenschlüssen mehr Luft für seine besonderen Aufgaben.

Und so soll der zweite Teil der Aufklärung reparieren, was ihr erster Teil durch Verzicht auf Maß und Überschaubarkeit ruiniert hat. In einem Verständnis der Verbundenheit soll sie den Mammon überwinden und die ökologische Katastrophe abwenden. Auch für Klammern zwischen Idee und Gegenidee soll sie sorgen und damit zur Richtschnur für Gelungenes Leben werden. Schließlich sollte ihr gelingen, dass sich – vielleicht auch mit Hilfe „von ganz oben“ – der Homo sapiens tatsächlich zum Homo empathicus weiterentwickelt.

Entscheidend ist aber, dass die jeweils nächstmöglichen Schritte tatsächlich gesetzt werden – von Dir, mir und unseren Nachbarn. Wie schon Erich Kästner festgestellt hat:
Es gibt nichts Gutes – außer man tut es.


128) Michael Breisky, „Groß ist ungeschickt – Leopold Kohr im Zeitalter der Post-Globalisierung“, Wien 2010, Passagenverlag


 

 Schlussbemerkung: ein Geschenk

 

Wenn dieses Buch vom „Geist der Verbundenheit“ spricht, so haben Manfred Höfle und Lex Janssen daran großen Anteil gehabt – ohne ihre gut fundierten Ideen und Ratschläge hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können – hier mein herzliches „Vergelt’s Gott!“

So wie Charles Eisenstein habe ich dieses Buch unentgeltlich ins Internet gestellt, um ganz besonders Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, in diesem „Geist der Verbundenheit“ ein persönliches kleines Geschenk zu machen. Sie können vom Inhalt dieses Buches nach den Grundsätzen der Creative Commons gerne freien Gebrauch machen. Dazu: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/).

Ich hoffe nun sehr, dass Ihnen dieses Buch Erkenntnis-Gewinn und Freude gebracht hat. Wenn das der Fall ist und Sie obendrein Lust haben sollten, nun auch Ihrerseits mir oder meinen Enkeln ein kleines Gegengeschenk zu machen, so würde ich mich darüber natürlich SEHR freuen und Sie können das durchaus in der Form einer Überweisung tun; ich unterhalte bei der Bank Austria ein Konto, IBAN Nummer ist AT44 1100 0069 5422 8000, BIC Code ist BKAUATWW

Je nach Eingang solcher Gegengeschenke werde ich auch eine Übersetzung des Buches ins Englische veranlassen bzw. finanzieren. Dazu ist bereits die Web-Adresse „human-scale.com“ registriert.
Meiner lieben Frau, die lange genug „Autoren-Witwe“ war, habe ich zwar versprochen, keine weiteren Bücher zu schreiben; ich werde aber in unregelmäßigen Abständen kürzere Artikel zum besten geben und Ihnen diese gerne zusenden, wenn Sie mir Ihre Email-Adresse an michael@breisky.at mailen oder im Falle eines Geschenkes auf dem Überweisungsformular als Zahlungsgrund angeben.

 

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