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Die stille Revolution „von unten“

 

Die Leit-Prinzipien
Kein Zweifel, das Überleben der Menschheit steht auf des Messers Schneide – und sei es auch nur Leben auf einem Niveau, das nach Maßstäben unserer Generation gerade noch als menschenwürdig angesehen werden kann. Was sind die Voraussetzungen für ein Gelingen dieser Herausforderung? Natürlich muss an erster Stelle nicht nur das physischen Überleben der Menschheit sondern auch die dazu unumgängliche Sicherung der Regenerationsfähigkeit unseres geschundenen Planeten stehen; Umweltschutz und Friedenspolitik sind daher erste Prioritäten.
Darüber hinaus ist der Weg zunächst reichlich unklar, es führen ja auch viele Wege nach Rom. Aber meiner Überzeugung nach gibt es sehr wohl eine über allem stehende Aufgabe: die Überwindung der Trennung von Geist und Materie, wie sie am Anfang der westlichen Kultur im alten Griechenland von den Vor-Sokratikern eingeführt wurde. Wie schon ausgeführt, hat diese Idee bis in die Aufklärung hinein überwältigende Erfolge ermöglicht, ist aber heute dabei, an der Maßlosigkeit ihrer Anwendung zu scheitern. Freilich, als Rezept für ein Überleben der Menschheit ist diese Wiedervereinigung von Geist und Materie viel zu abstrakt und abgehoben, um schon für sich allein als politische Handlungsanweisung gelten zu können – als Ziel soll sie jedoch nicht aus den Augen verloren werden.

Schon viel konkreter ist da die Auflösung von drei Spannungsverhältnissen: Konkurrenz und Kooperation; dann Effizienz und Resilienz; sowie global und lokal. Wie ich gezeigt habe, wird heute Effizienz, Konkurrenz und das Globale überbewertet, ja sind es letztlich diese Ideen, die uns nach vielen großartigen Erfolgen an den Rand des Abgrunds geführt haben. Es muss daher nun darum gehen, im Verhältnis zu den jeweiligen Gegenideen das richtige Maß zu finden. Theoretisch sollte es schon in einer rein materialistischen Sicht gelingen, diese Spannungsverhältnisse aufzulösen; in der Praxis wird man aber rascher zu Erfolgen kommen, wenn wir daran arbeiten, der Menschheit nicht nur das Überleben sondern auch ein „Gutes Leben“ zu ermöglichen – etwas, was wiederum auf die anzustrebende Wiedervereinigung von Geist und Materie weist. Unsere Maxime sollte daher sein: alte Exzesse soweit abbauen, dass man auch kleine Schritte in Richtung neuer – auch spiritueller – Höhen setzen kann.

„Gutes Leben“ ist etwas, das nicht „von oben“ durch Politik oder andere Autoritäten zugeteilt werden kann; vielmehr muss es sich jeder Mensch selbst schaffen, ganz nach seinen individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen. „Gutes Leben“ kommt also „von unten“. Der Weg dorthin beginnt mit der Entscheidung, in sich selbst hineinzuschauen und nach dem Sinn des eigenen Lebens zu fragen; also mit dem zu beginnen, was im Englischen self-empowerment genannt wird.
Eine der ersten Konsequenzen wird es sein, nicht länger Diener des Mammon oder ähnlicher falscher Götter sein zu wollen. Es ist das eine revolutionäre Abkehr vom herrschenden Zeitgeist der letzten Jahrzehnte, und es ist ein individuell zu beschreitender Weg, auch wenn man – einmal unterwegs – erstaunlich viele Weggenossen finden wird. Daher kann man hier von einer stillen Revolution sprechen.

Nur durch Abkehr vom Mammonismus allein wird die stille Revolution allerdings kaum gelingen, es braucht dazu auch überzeugende Anreize, vor allem die Aussicht auf echte Verbesserungen der Lebenssituation. Das kann mit materiellen Mitteln allein nicht abgedeckt werden, es muss auch die geistige Ebene des Menschen angesprochen werden, ganz besonders seine individuelle Kreativität.

Konkret soll die Ur-Freude am Selbst-Geschaffenen als Kraftquelle dienen, aus der die Menschen Inspiration und Energie schöpfen. Sie ist es ja, die jene durch
Martin Nowak beschriebene Kooperations-Bereitschaft und Eisensteins „Geist der Verbundenheit“ entstehen lässt. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang der Gedanke, dass der Schenkende schon deshalb Freude am Schenken entwickelt, weil er merkt, dass er damit auch in seinem eigenen Inneren etwas zum Positiven verändern kann; kurz, Schenken ist wichtiger Teil des Self-empowerment.

Mit neuem Konsumverhalten selbst Politik machen
Robert und Edward Skidelsky haben mit ihrem Buch „How Much is Enough“ 76)  einen lesenswerten Anstoß zur Überprüfung unseres Konsumverhaltens gegeben. Die wichtigsten Schlussfolgerungen daraus sind zum einen die Aufforderung zur Wiederentdeckung schöpferischer Muße und zum anderen die Betonung von Self-empowerment. Zu diesem Thema hat auch Nico Paech im Buch „Befreiung vom Überfluss“ eine Reihe von Empfehlungen formuliert, die auf dem Wege in die Post-Wachstumsgesellschaft besonders hilfreich sein sollten: 77) Sie machen deutlich, dass sich unser Konsumverhalten radikal zu ändern hat, ohne dass man dabei auf Komfort verzichten muss, ja ganz im Gegenteil das immaterielle Wohlbefinden dadurch sogar erheblich gesteigert wird.
So soll man mit dem Subsistenz-Prinzip in die Wertschöpfungsketten der Marktwirtschaft eingreifen, und zwar durch Intensivierung der Nutzung von Gebrauchsgütern bei Gemeinschaftsnutzung (etwa in der Nachbarschaft), durch die Verlängerung ihrer Nutzungsdauer durch Pflege und Reparatur und schließlich auch durch weitgehende Eigenproduktion.

Mit dem Suffizienz-Prinzip hingegen kann man den Zusammenhang zwischen vielfältigstem Konsum-Angebot einerseits und schwindender Zeit für den Konsum andererseits erkennen: Der damit entstehende „Konsum-Stress“ führt zu einer schweren psychischen Belastung – also ein weiterer Aspekt der schon erwähnten „veloziferischen“ Bedrohung. Durch bewusste Einschränkung des Konsums kann man also die notwendige Zeit zum Genießen und damit höhere Lebenszufriedenheit schaffen; einmal mehr: „weniger IST mehr“.
Weitere Empfehlungen Paechs, die in folgenden Kapiteln noch ausgeführt werden sollen, sind u.a. Maßnahmen zur Verkürzung von Supply Chains, die Unterstützung und Teilnahme an Regionalwährungen, besondere Anforderungen an Produkt-Design, entsprechende Schulungen und – schon wegen der damit verbundenen Schaffensfreude – ein Höchstmaß an Eigenversorgung.


76) Robert Skidelsky und Edward Skidelsky, „How Much is Enough?: Money and the Good Life”, New York 2012, Other Press
77) Niko Paech, „Befreiung vom Überfluss – Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie“, München 2012, oekom Verlag


 

Die Zivilgesellschaft ist gefordert
Die meisten der weiteren Empfehlungen Paechs können nur in Zusammenarbeit ähnlich motivierter Menschen realisiert werden, sprechen also die Zivilgesellschaft an. Mit ihrer Betonung von Kooperation, Resilienz und lokalen bzw. überschaubaren Strukturen entspricht sie den heute noch immer unterschätzten Gegenideen der vorhin genannten drei Spannungsverhältnisse. Konkret wird vieles – aber nicht alles – von dem, was in einer „Wirtschaft im Maß“ von der Zivilgesellschaft geleistet werden soll, auf Grundprinzipien greifen, die der Mensch schon in vorgeschichtlicher Zeit entwickelt hat, etwa die von Eisenstein wiederentdeckte Schenk-Ökonomie.

An erster Stelle wären da Tauschkreise zu nennen; wo also die Teilnehmer in einer Gemeinschaft ihre Dienstleistungen und/oder Waren einbringen und dort Gleichwertiges beziehen. Wohl am leichtesten ist es, wenn sich diese Gleichwertigkeit auf Zeit-Einheiten stützt – einschließlich der Arbeitszeit für die Herstellung eingebrachter Waren. So können verschiedenartige Arbeitsleistungen mit Hilfe einer zentralen Vermittlung und Verrechnung je nach der erforderlichen Arbeitszeit direkt und ohne Ausgleichszahlung getauscht werden. Das kann ganz klein und fast formlos in einer Hausgemeinschaft beginnen, auf „dörfliche“ Strukturen erweitert werden und schließlich mit Hilfe des Internet auch größere Regionen erfassen. (Weiter unten wird skizziert, wie ein solches System auch im größeren Umfeld komplexe Probleme wie die Steuerung der Alten-Pflege lösen kann).

Sehr ähnlich funktioniert die aus dem Anglo-Amerikanischen kommende sharing economy. Damit ist das systematische Ausleihen von Gegenständen und gegenseitige Bereitstellen von Räumen und Flächen gemeint, insbesondere durch Private, Nachbarschaftsverbände und Interessengruppen. Nach der Idee der „Ökonomie des Teilens“ soll man als Kunde etwas nicht zum Eigentum machen, sondern nur vorübergehend und durchaus entgeltlich benutzen, bewohnen und bewirtschaften. Voraussetzung dafür ist freilich das Eigentum eines Anbieters, doch steht im Mittelpunkt der Gemeinschaftskonsum. Die Güter wechseln dabei – wie es ähnlich auch von Nico Paech angeregt wurde – den Besitzer, solange sie brauchbar bzw. verfügbar sind, die Instandsetzung ist in der Regel Sache des Eigentümers. Mit Hilfe von elektronischen Plattformen und sozialen Netzwerken erreicht man einen großen Interessentenkreis, kann kurzfristig agieren und reagieren und eine optimale Nutzung und Auslastung erzielen. Im Ansatz stammt diese Idee wohl von den Maschinenringen der Landwirtschaft, manche Plattformen sind nun auf das Teilen von Wohnungen und Land spezialisiert, andere wieder auf „Kleinigkeiten“ wie Bücher oder Schmuck 78).

Auch die klassischen Genossenschaften gehören grundsätzlich dazu, soferne sie nicht auf Gewinn angelegt sind. Allerdings wurden sie in jüngerer Zeit auffallend häufig „mammonistisch“ umfunktioniert, um – etwa über das Steuerrecht – Profit-Maximierungen zu erreichen. Nichts desto trotz sollte auch die klassische Genossenschafts-Idee wieder verstärkt zivilgesellschaftlich genutzt werden.

Zinsfreie und andere Alternativ-Finanzierungen
Dazu gehören vor allem die regionalen Parallel-Währungen. In der Form von Gutscheinen (etwa „Chiemgauer“, Sterntaler“, „Waldviertler“) dienen sie der Bezahlung von Waren und Dienstleistungen einer Region, entsprechen dem Wert der offiziellen Währung und sind zwecks Beschleunigung des Umlaufs meist befristet, sind also „Schrumpfgeld“ wie von Silvio Gesell und Charles Eisenstein angeregt. Mit einem kleinen Abschlag können sie auch in die offizielle Währung zurückgetauscht werden. Mit diesem Regionalgeld bestehen gute Aussichten, die regionalen Wirtschafts-Kreisläufe deutlich zu stärken und damit auch der Marktwirtschaft überdurchschnittliche Impulse zu geben.

Ein ähnliches System bilden Clearing-Stellen nach Muster der Schweizer WIR-Bank. Diese wurde 1934 als Genossenschaft gegründet und konnte 2013 – bei steigender Tendenz – auf eine Bilanzsumme von über 4 Milliarden Schweizer Franken verweisen 79) . Nach diesem Muster wurden auch außerhalb der Schweiz Banken gegründet, etwa – mit ähnlichem Erfolg –


78) http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/sharing-economy.html, Stand 23.6.2013
79) http://www.wir.ch/de/die-wir-bank/zahlen-fakten/


 

in Sardinien. Sie funktionieren ähnlich wie die Parallel-Währungen, nur werden die jeweiligen Leistungen nicht mit realen Gutscheinen bezahlt sondern mit einem an der Clearingstelle verrechneten Buchgeld.

Ein besonderer Vorteil dieser alternativen Zahlungs-Systeme ist ihre Unabhängigkeit von der Liquidität des Finanzmarktes – fallen doch darin keine Zinsen an. Dazu gibt es im Übrigen reichlich Literatur; eine besonders gelungene Zusammenstellung ist dabei Bernard Litaer, Margrit Kennedy und John Rogers im Buch „People Money: The Promise of Regional Currencies“ gelungen 80). Weiters sei auf die praxisnahe Forschung des Unterguggenberger Instituts verwiesen, dass nach dem Begründer des ersten alternativen Zahlungssystems 1932/33, dem Bürgermeister von Wörgl, Michael Unterguggenberger, benannt ist 81) .

Zivilgesellschaftlich interessant können auch alternative Finanzierung-ssysteme sein, die nicht zinsfrei sind. Das trifft auf das Geschäftsmodell der Mikro-Kreditbanken nach dem Muster der von Muhammad Yunis 1983 gegründeten Grameen Bank zu; sie arbeitet ohne klassische Sicherheiten, nur durch Gruppendruck des jeweiligen sozialen Umfelds, wo es Mikrokredite an Menschen ohne Einkommens-Sicherheiten vergibt und damit die Armut der Bevölkerung zu lindern sucht 82). Auch wenn dieses Modell in Entwicklungsländern entstanden ist, sollte es grundsätzlich auch zur Finanzierung von „Aussteiger-Projekten“ in (vormals?) reichen Gesell-schaften dienen.

Ähnlich auch das crowd funding: Wie die sharing economy erfreut es sich eines rapid wachsenden Zuspruchs, kann man doch mit dieser Methode der Geldbeschaffung das nötige Eigenkapital für Geschäfts- und andere Ideen auftreiben, indem – vorwiegend über das Internet – kleine stille Beteiligungen bzw. Kleinst-Spenden gesammelt werden. Bekannt wurde das System, als Barak Obama seine (erste) Wahl zum US-Präsidenten mit zahllosen Kleinst-Spenden junger Amerikaner finanziert hat, und seine Eignung für die Finanzierung


80) Bernard Litaer, Margrit Kennedy und John Rogers, „People Money: The Promise of Regional Currencies“, Axminster 2012, Triarchy Press
81) www.unterguggenberger.org/page.php?id=9&navigation=MV8y
82) Wikipedia, Grameen Bank, Stand April 2013


 

regionaler Projekte liegt wohl auf der Hand. Nicht nur in Österreich ist dieses System durch Heini Staudinger bekannt geworden, der seine „Waldviertler“ Schuhproduktion damit erfolgreich ausbauen konnte, dabei aber auf heftigen, offenbar „mammonistischen“ Widerstand der Finanzaufsicht stieß (juristischer Ausweg für die angemahnte Besicherung von Darlehen über crowd funding könnten Nachrangerklärungen sein) 83) .

Interessant ist weiters das Modell der GLS-Bank (Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken, Zentrale in Bochum). 2010, 2011, 2012 und 2013 zur Bank des Jahres gewählt, verzichtet sie zwar nicht auf (Kredit-) Zinsen, sie macht sich jedoch Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit in der konkreten Kundenbeziehung zum Geschäftsprinzip, sucht also dem Übel überzogener Anonymität zu entgehen; so werden u.a. alle an Unternehmen vergebenen Kredite in der Kundenzeitschrift veröffentlicht 84) .

Auch für Kommerz-Banken – soweit sie sich noch oder wieder als Teil der Zivilgesellschaft verstehen – eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten, die sowohl sozialverträglich als auch gewinnbringend sind. So können sie in Anlehnung an die alten (zinsfreien) Modelle des Islam den Kauf von Real-Besitz finanzieren, indem Käufer und Bank in einer Partnerschaftsvereinbarung gemeinsam Besitz erwerben. Der Käufer kann dabei in das Objekt als Mieter einziehen, kann es auch an Dritte weitervermieten, und kann nach und nach zum Marktpreis Besitzanteile von der Bank erwerben. Je nach Besitzanteil teilen die Partner Gewinn und Verlust aus diesem Verhältnis 85) . Der Käufer hat dabei keine Schulden, ist auch nicht zum Erwerb weiterer Anteile verpflichtet; die Bank wiederum hat ihr Geld wertbeständig angelegt und zieht daraus den jeweils marktgerechten Gewinn; beide Seiten ersparen sich sowohl den teuren Extra-Aufwand für Immobilienpfändungen als auch das Trauma eines „Negativen Eigenkapitalwerts“– wie es etwa in Irland zum nationalen Syndrom gewordenen ist 86) .


83) http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Staudinger
84) Nach Wikipedia, GLS Gemeinschaftsbank, Stand April 2013
85) Tarek El Diwany, „Meine Konversion zur islamischen Ökonomie, a.a.O.
86) David Williams „The Good Room” – Why we ended up in A Debtor’s Prison – and how we can break free, Penguin Ireland, 2012


 

Die bisher diskutierten Elemente einer Revolution „von unten“ berühren das Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Resilienz. Tatsächlich ist es dieses Thema, das im produzierenden Teil der Wirtschaft im Vordergrund stehen muss, insbesondere bei der Frage der Nachhaltigkeit in der Abdeckung menschlicher Grundbedürfnisse. Gegen alle Grundsätze der Nachhaltigkeit wurde bisher insbesondere in zwei Bereichen verstoßen: Ernährung und Energie.
Die neue Landwirtschaft

Schon seit Generationen hat die Landwirtschaft in den meisten Ländern eine immer geringere Rolle gespielt. Das gilt besonders für die reichen Länder, wo der für Lebensmittel ausgegebene Anteil der Haushaltseinkommen auf ein bedenklich niedriges Niveau gesunken ist. Möglich wurde das, weil einerseits die marktwirtschaftlichen Zwänge die Arbeitseinkommen in der Landwirtschaft (zumindest relativ zu anderen Bereichen) zurückfallen ließen, was zu Landflucht geführt hat. Zum anderen hat die mit riesigem Einsatz von Maschinen und Chemie operierende Agro-Industrie so hohe Erträge abgeworfen, dass auf man den Verlust der Arbeitskräfte überkompensieren konnte. Diese kapitalintensive Landwirtschaft wird aber eine ausreichende Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln schon aus ökologischen Gründen immer weniger gewährleisten können (Stichworte: Boden-Erosion und –Vergiftung, Energie- und Wasserverbrauch). Langfristig wird sie gegenüber der nach biologischen Grundsätzen operierenden Landwirtschaft nicht bestehen können. Das gilt nicht nur für die Qualität der Lebensmittel sondern auch quantitativ für die Hektar-Erträge – dies allerdings nur bei wesentlich erhöhtem Arbeitseinsatz, der auch über entsprechendes Fachwissen verfügen muss. Zu berücksichtigen ist dabei, dass in der Zeit zwischen 1988 und 2008 in 16 der 20 wichtigsten landwirtschaftlichen Ressourcen der Gipfelpunkt in der weltweiten Produktion bereits überschritten wurde und ein Ausweichen auf andere Lebensmittel kaum möglich ist 87). „Peak food“ ist schließlich viel schlimmer als „peak oil“!


87) Wissenschaftsmagazin „Ecology and Society“, zitiert in ttp://orf.at/stories/2263177/2263147/


 

Der Wandel zur biologischen Landwirtschaft hängt also davon ab, dass wieder mehr Menschen bereit sind, dort tätig zu sein. Diese Voraussetzung wird heute von drei Seiten immer besser erfüllt:

• Die Bereitschaft, für gesunde und wohlschmeckende Lebensmittel mehr zu zahlen, nimmt deutlich zu.
• Die globale Finanzkrise von 2008 – und nicht zuletzt auch die new economy 88) – hat ein riesiges Heer von Arbeitslosen geschaffen. Diese Menschen sind gezwungen, ihr Fortkommen außerhalb marktwirtschaftlich entlohnter Arbeitsverhältnisse zu suchen. Vor allem in süd- und osteuropäischen Ländern trifft das Menschen, die erst vor kurzem vom Land in die Stadt gezogen sind; sie sehen sich nun gezwungen, zurück auf das Land zu ziehen und dort in den kleinen landwirtschaftlichen Betrieben ihrer Eltern oder Großeltern zu arbeiten.
• Es finden sich immer mehr Aussteiger, die dem Druck des mammonistischen Systems entgehen wollen, und die sehr wohl bereit sind, für ein Mehr an Schaffensfreude Einbußen bei ihrem finanziellen Einkommen hinzunehmen.

Damit sollte es zur Umkehrung des gewohnten Trends von klein- zu großflächigen Agrarbetrieben kommen. Die Aussicht auf mehr gärtnerische als groß-bäuerliche Betriebe wird nicht zuletzt durch den unvermeidlichen Rückbau der intensiven Viehzucht verstärkt: Weil man für Fleisch-Proteine bis zu zehn Mal mehr Pflanzen-Proteine benötigt, wird Fleisch-Konsum angesichts einer weiter steigenden Weltbevölkerung mehr und mehr zum puren Luxus.
Die Schaffensfreude als treibende Kraft der neuen Landwirtschaft bleibt nicht auf die Erzeugung von Lebensmitteln und Natur-Fasern beschränkt; hier bieten sich vielmehr die besten Anwendungsmöglichkeiten für die Erzeugung alternativer Energien.

„Angepasste Technologie“ ist humane Technologie
Zum Self-empowerment gehört auch die Eigenversorgung. Das wirft die Frage auf, wie weit dies heute ohne Zugriff auf Hochtechnologie überhaupt möglich ist. Die Antwort auf diese Fragen gibt die „Angepasste Technologie“ (AP); sie ist eine weiterentwickelte Form


88) Richard Sennett: “Es gibt in Europa nicht ausreichend Arbeit” Interview, in Der Standard, Wien, 30. August 2014,


 

der „Zwischentechnologie“ (engl. intermediate technology), ein Konzept, das E.F. Schumacher in den 1960er Jahren für die Ökonomien der Entwicklungsländer entworfen und später, 1973, in seinem berühmten “Small is beautiful” überarbeitet hat. Schumacher kritisierte, dass mit den damals durchgeführten Entwicklungshilfe-Projekten die großen Probleme der Entwicklungsländer (Armut, Unterbeschäftigung, Landflucht) nicht gelöst werden konnten und diesen Ländern überdies mit kapitalintensiven Technologien hohe Devisen-Verluste und große Umweltprobleme aufgebürdet wurden. Schumacher forderte daher eine “intermediate technology”, also diese Zwischentechnologie, die der traditionellen Technologie weit überlegen, zugleich aber einfacher, billiger und freier als die Hochtechnologie der Industriestaaten sein sollte. Wo die Hochtechnologie etwa 100 Mal effektiver als die traditionelle Technologie ist, sollte die Zwischentechnologie sich mit dem Faktor 10 begnügen. Diese neue Technologie sollte auch besonders arbeitsintensiv sein und humane Züge tragen; konkret sollte sie zwischen Hacke und Traktor, zwischen Buschmesser und Mähdrescher liegen. Die Kerninhalte seines Konzepts sind in vier Technologiemerkmalen zusammengefasst worden:

• Geringe Größe (smallness)
• Einfachheit (simplicity)
• Niedrige Kapitalkosten (capital-cheapness)
• Sanftheit (non-violence).

Die von Schumacher angestoßene Debatte wurde von den Entwicklungsländern zunächst nicht angenommen, weil sie sich nicht mit einer “zweitrangigen Technologie” abfinden wollten. Unter Vermittlung der Vereinten Nationen einigte man sich schließlich Anfang der 1970er Jahre auf den Begriff “appropriate technology” (Angepasste Technologie), den dann schließlich auch Schumacher selbst übernahm. Dies führte zu weiteren Definitionen und Kriterienkatalogen, die das ursprüngliche Konzept Schumachers weiter ausgebaut haben.
So hat das Brace Research Institute in Kanada 89) einen ausführlichen Kriterienkatalog für Angepasste Technologie ausgearbeitet: Angepasste Technologie soll im Einklang mit örtlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen stehen und örtlich verfügbare


89) http://de.wikipedia.org/wiki/Angepasste_Technologie, Stand 4.6.2013


 

Ressourcen verwenden; ihre Maschinen und Produktionsprozesse sollen von der örtlichen Bevölkerung instand gehalten bzw. kontrolliert werden; über importierte Ressourcen und Technologien soll die Gemeinschaft eine gewisse Kontrolle darüber haben. Weiters soll AT, wo immer möglich, örtlich verfügbare Energiequellen benutzen, umweltfreundlich sein, die kulturelle Zerrüttungen minimieren. Jedenfalls soll sie so flexibel sein, dass die Gemeinschaft sich nicht selbst in Systeme hineinbegibt, die sich später als ineffektiv und unpassend herausstellen; auch Forschungs- und Leitungsaktivitäten sollen daher, wo immer möglich, integriert und am Ort ausgeführt werden.

Neuerungen zum ursprünglichen Konzept Schumachers suchen im Wesentlichen die Wechselwirkung mit anderen Teilen des Gesellschaftslebens, wie etwa mit den Banken der Entwicklungsländer und ihren speziellen Finanzprodukten (etwa Mikrokredite), des Weiteren mit den Forschungsaktivitäten der Institutionen. Zentral bleibt dabei das Konzept der klein- oder mittelbetrieblichen Produzierbarkeit sowie Organisationswissen, technische Ausbildung und Produktions-Erfahrung 90).

Heute wird zunehmend klar, dass sich dieses für Entwicklungsländer entwickelte Konzept der AP auch bestens für die Eigenwirtschaft in der hoch entwickelten Ersten Welt eignet; und dass hier vor allem den erneuerbaren Energien zentrale Bedeutung zukommt, weil damit eine Plattform für weiterführende zivilgesellschaftliche Initiativen gelegt werden kann.

Gutes Leben: Etwa am Beispiel selbst-bestimmter Altenpflege
Das zivilgesellschaftliche Engagement für eine stille Revolution „von unten“ läuft bereits und macht sich Gedanken, wie „ gutes Leben für alle“ möglich sein soll. So tagte unter diesem Titel im Februar 2015 ein Kongress an der Wiener Wirtschaftsuniversität. Dabei wurden Trends aufgezeigt, wie die Entwicklung von Dingen, die heute als zeitgemäß gelten mögen, weiter gehen sollte, etwa


90) http://de.wikipedia.org/wiki/Angepasste_Technologie, Stand 4.6.2013


 

. „von innovativen Kollektiverträgen mit Freizeitoption zu einer neuen Work-Life Balance
. von Reparaturcafés zu einer Cradle-to-Cradle Ökonomie
. von einer demokratischen Bank zu einem gemeinwohlorientierten Finanzwesen
. von Food Cooperatives zu lokalen biologischen Landwirtschafts- und Ernährungssystemen
. von einem Car-Sharing Projekt zu einer postfossilen Stadt
.von einem Integrationskindergarten zu einer Stadt der Vielfalt. 91)

Mit einer Wende zu gelungenem Leben sind keineswegs paradiesische Zustände zu erwarten – wohl aber ein hohes Maß an Stressfreiheit, Überschaubarkeit und Selbstbestimmung. Für einige der dafür notwendigen gesellschaftlichen Aufgaben eignet sich das Modell der auf Zeit-Einheiten aufbauenden Tauschkreise; dies soll am Beispiel eines Modells für ein hoch-komplexes Problem gezeigt werden, nämlich die Lastenverteilung in der Altenpflege: ein Modell, in dem sich der Gegensatz zwischen Kooperation und Wettbewerb auflöst – gewiss eine der schwierigsten Aufgaben unserer und der nächsten Zeit:

Konkret geht es darum, den Bedarf an Pflegestunden in der gesamten Bevölkerung einer Region festzustellen und das Ergebnis durch die Anzahl der Erwachsenen zu teilen – natürlich abzüglich der nachweislich kranken bzw. aus anderen Gründen nicht mehr pflegefähigen Menschen, aber einschließlich aller einigermaßen rüstigen Pensionisten. Demnach würden in Mitteleuropa bei Aufteilung des gesamten Pflegebedarfs auf jeden Einwohner einer Region theoretisch etwa 3 ½ Stunden pro Woche kommen, was umgerechnet auf die pflegefähige Bevölkerung dann etwa knapp 50 Minuten pro Tag ausmachen dürfte. In Anlehnung an den aus der Klima-Politik bekannten Handel mit Emissionsrechten sollte es dabei durchaus möglich sein, mit den täglichen Pflege-


91) http://www.guteslebenfueralle.org/index.php?id=1


 

Verpflichtungen Handel zu treiben; sie also zu bündeln, zu tauschen, oder gegen ein (im Vergleich zur „Zeit-Ersatzsteuer“) niedrigeres und steuerfreies Entgelt ablösen zu lassen.
Das Bestechende an diesem Modell ist nicht so sehr, dass die Überschaubarkeit hoch und der Verwaltungsaufwand niedrig bleiben, sondern dass bei allen Beteiligten ein Höchstmaß an individueller Selbstbestimmung erreicht wird – ganz besonders auch bei den pflegebedürftigen Menschen. Dies gelingt, indem mit Verordnung lediglich das Ausmaß der von jedem Erwachsenen zu leistenden Pflegestunden festgelegt wurde und das weitere behördliche Engagement auf zwei einfache Punkte beschränkt blieb: Den Gemeinde- oder Sozialämtern obliegt es, den bedürftigen Menschen den Bedarf an wöchentlichen Pflegestunden zu bestätigen; und die Finanzämter kontrollierten bei den Zeit-Steuerpflichtigen an Hand von Bestätigungen der gepflegten Personen (oder ihrer Angehöriger) lediglich, ob sie genug Pflegestunden abgeleistet haben – widrigenfalls sie eine „Zeit-Ersatzsteuer“ in alter Geldesform zu zahlen haben. Alles dazwischen, also die Zusammenführung von Pflegern und ihren Klienten, die Festlegung der konkreten Pflegedienste und ihre Abrechnung, müsste von den Betroffenen selbst erledigt werden – in der letztlich entscheidenden Frage, wer von wem gepflegt wird, würde also völlige Vertragsfreiheit und Selbstbestimmung bestehen.

Naturgemäß würde dieses System zu einem neuen Verständnis der Gesellschaft führen, ganz im Sinne von gelungenem Leben. Denn ein solches Pflegesystem hat natürliche Vorwirkungen: Menschen, die das Näherrücken ihrer Pflegebedürftigkeit spüren, werden sich bei Zeiten nicht nur nach potentiellen Pflegern umsehen, sondern werden diese konkreten Menschen auch nachhaltig in „bestmöglicher“ Weise zu behandeln wissen. So werden sie gerne Kinder betreuen, Schulwege sichern und sich im lokalen Verschönerungsverein engagieren. In ähnlicher Weise werden sich auch jüngere bzw. gesündere Menschen überlegen, wem in ihrem Umkreis als einem angenehmen Pflege-Kandidat der Vorzug zu geben wäre. Und die Vorwirkungen gehen noch weiter: Auch für die Frage, wo man denn „in die Jahre“ kommen will, spielt die spätere Pflege eine wichtige Rolle, da die Auswahl an Pflegern in typischen Pensionisten-Vierteln ja sehr beschränkt sein wird. Daraus sollte sich der Trend zu Wohngegenden mit ausgewogenem Generationen-Mix ergeben – was sich wiederum auf die Infrastruktur günstig auswirken sollte. Selbst die Volksgesundheit profitiert, denn wer täglich mit Pflegefällen zu tun hat, denkt mehr darüber nach, wie man länger fit bleiben kann.

In der Praxis mag das neue Pflegesystem so aussehen:
– Als Herr A altersbedingt kränklich wurde und nicht mehr in er Lage war seinen Single-Haushalt selbstständig zu führen, bestätigte ihm das Sozialamt nach einer kurzen Untersuchung auf einer Pflegekarte den Anspruch auf zumindest 7 Pflegestunden pro Woche. Mit einem befreundeten Ehepaar B vereinbarte Herr A sodann die Übernahme dieser Pflegeleistungen, was für Frau B die Ableistung ihrer gesamten Pflegeverpflichtung bedeutete, während Herr B damit nur einen Teil seiner Verpflichtung erfüllen konnte; allerdings teilte sich dieser mit seiner Schwester die Pflege einer weiteren Person, sodass die Gesamtverpflichtung des Ehepaares B locker erfüllt wurde. Bürokratisch waren die Dinge sehr einfach: Herr A und das Ehepaar B bestätigten sich wechselseitig auf ihren Pflegekarten unter Angabe ihrer Sozialversicherungsnummern die geleisteten Pflegestunden – und fertig!

– Frau C wurde nach einem Schlaganfall die höchste Pflegestufe zuerkannt, also Tag und Nacht-Pflege mit besonderen Schwierigkeitsgraden. Dies wurde in der Weise erledigt, dass der mobile Sozialdienst mit seinen Berufspflegern (den es natürlich weiter geben muss) jeden Tag vorbei kam, um höher qualifizierte Arbeiten durchzuführen – etwa Injektionen, Massagen und Behinderten-Bäder – während die weniger anspruchsvollen Arbeiten von drei Personen im Rahmen ihrer Pflegeverpflichtung erbracht wurden (natürlich werden schon in der Schule die Grundlagen des Pflegedienstes gelernt). Zwei von diesen „Pflicht-Pflegern“ arbeiteten dabei länger als gesetzlich vorgeschrieben, weil sie die Möglichkeit der entgeltlichen Übernahme der Pflegeverpflichtungen anderer Personen genutzt hatten.

– Herr D ist ein viel beschäftigter Manager, der für Pflegedienste wirklich keine Zeit zu haben glaubt. Im ersten Jahr bezahlte er daher murrend die „Zeit-Ersatzsteuer“, die seinem Verdienst während der Stunden seiner Pflegeverpflichtung entsprach – also an die 10% seines Einkommens. Da ihm das zu viel war, bezahlte er in den nächsten Jahren lieber aus seiner Tasche etwas weniger dafür, dass jemand anderer seine ganze Pflege-Verpflichtung übernahm.

– Der Sohn des Ehepaares B und die Tochter von Herrn D können als 18jährige zwischen 6 Monaten Wehrdienst oder Sozialdienst wählen, sind aber danach 4 Jahre lang von der Pflegeverpflichtung befreit.

– Frau E ist allein erziehende Mutter zweier Kleinkinder und hat einen Halbtagsjob in Aussicht. Sie ist nicht nur von der gesetzlichen Pflegeverpflichtung befreit sondern auch berechtigt, den Pflegedienst zur Kinderbetreuung heranzuziehen. Allerdings werden für eine Stunde Kinderbetreuung nur 20 Minuten Pflegedienst anerkannt.

– Herr F ist Langzeit-Arbeitsloser und Frau G eine rüstige ältere Witwe mit Minimal-Pension; beide verdienen sich durch Übernahme von Pflegeverpflichtungen ein schönes Zubrot – und freuen sich obendrein riesig über das Gefühl „noch gebraucht zu werden“.

– Herr Z ist ein Sozial-Verweigerer, der im Gegensatz zu Herrn F ganz gerne vom Arbeitslosengeld und ähnlichen Unterstützungen lebt. So kommt er auch seiner Pflege-Verpflichtung so mangelhaft nach, dass ihm die Bestätigung der ordnungsgemäßen Leistung verweigert wird. Es macht ihm dann zwar zunächst nur wenig aus, dass ihm alle Sozialgelder bis auf das absolute Minimum gekürzt werden; schon bald leidet er aber noch viel stärker daran, sich aus einer offenbar recht fröhlichen Gemeinschaft selbst ausgeschlossen zu haben.

Kurz, aus ohnmächtig ausgeplünderten Steuerzahlern und um Almosen in Form von Pflege und Kinderbetreuung einkommenden Bittstellern werden in einer „Ökonomie der Verbundenheit“ wieder „Bürger“ mit echten Wahlmöglichkeiten; und das in der Globalisierung verlachte Prinzip der Überschaubarkeit kommt in Politik und Gesellschaft wieder zu neuen Ehren. Wenn das nicht gelungenes Leben ist, dann was?

 

Eigenwirtschaft ergänzt Marktwirtschaft

 

Gegenideen zur Marktwirtschaft
Wirtschaft ist in ganzheitlicher Betrachtung eine „Versorgungsökonomie“, die man vom Standpunkt des individuellen Menschen analysieren sollte. Demnach unternimmt der Mensch alles Wirtschaften, „um sich mit allen Gütern zu versorgen, die für seine Existenz, sein Wohlbefinden und sein soziales Leben unverzichtbar, nützlich und ökologisch vertretbar sind“ – eine offenbar neue Definition, die ich dem Vorsitzenden der „E.F. Schumacher Gesellschaft für Politische Ökologie“ in München, Lex Janssen danke 92).

Die Marktwirtschaft wiederum ist eine gute, ja unersetzliche Idee, die sich diesem Versorgungs-Gedanken unterordnen sollte, es heute aber offenbar nur sehr eingeschränkt tut. Ihre zentrale Voraussetzung ist der Wettbewerb, der dem eigennützigen Profitstreben Grenzen setzen soll; er folgt also dem schon diskutierten, tief mit unserer biologischen Evolution verbundenen Konkurrenz-Prinzip. Eigennutz und Wettbewerb heißt freilich, dass der Markt ein Selektions-Instrument ist, bei dem es auch Verlierer geben muss. Die moralische Rechtfertigung dieses Knock-out-Systems ist die Chance der Verlierer, beim nächsten Markthandel erfolgreicher zu sein. Aber was ist, wenn einige Marktteilnehmer so stark sind, dass sich die Chancen der Verlierer beim nächsten (und allem folgenden) Markthandel in die Luft weltfremder Theorie auflösen? Dann steigert sich Markt-Selektion, wie wir es heute im Zeichen Mammons erleben, zur gesellschaftlichen Polarisierung zwischen wirksamer und (dauernd) unwirksamer Nachfrage, also zwischen Starken und Schwachen – kurz, im heute maßgebenden wirtschaftstheoretischen Kalkül „finden Menschen ohne Geld nicht mehr statt“– und so werden heute viele hundert Millionen Menschen einfach totgeschwiegen, der allgemeine Versorgungs-Gedanke ist praktisch aufgegeben worden.


92) Eine Neudefinition von Lex Janssen, Vortrag vor dem Berliner Innovationskreis, 13. Juni 2014


 

Schon zu Adam Smiths Zeiten, im 18. Jahrhundert, konnte man nur mit Einschränkungen von der ordnenden und zu allgemeinem Wohlstand führenden, „unsichtbaren Hand“ des Marktes sprechen. Doch waren damals sowohl die immateriellen Lebensbereiche als auch die außerhalb des Marktes abgewickelte Güterversorgung noch so stark und die Produktivität der (hauptsächlich noch vor-industriellen) Wirtschaft so schwach, dass man sich der Marktwirtschaft wegen ihrer unschlagbaren Effizienz sehr gerne bedient hat. Im Exzess des Mammonismus läuft die Maximierung von Profit und Güterproduktion nun derart an wesentlichen Bedürfnissen des Menschen „vorbei“, dass man sie (mit E.F. Schumacher) als „Ort der Nicht-Verantwortlichkeit“ bezeichnen kann.

Wie schon im Kapitel „Kritischer Punkt, Idee und Gegen-Idee“ ausgeführt, können große Ideen manchmal so komplex sein, dass man ihnen mit einer Gegenidee allein nicht gerecht werden kann – und das trifft nicht nur beim Geld sondern auch auf die Marktwirtschaft zu. Ihre Aufgabe ist zwar eine möglichst effiziente „Versorgung“ des Menschen, doch geht sie an den immateriellen Bedürfnissen des Menschen vorbei.

Gerade diesem Aspekt kommt die Selbstversorgung entgegen, die somit als eine von mehreren Gegenideen zur Marktwirtschaft anzusehen ist. Abgesehen von den seltenen Fällen, wo man wie Robinson Crusoe ganz auf sich allein gestellt ist, findet sich in der Selbstversorgung ja eine Mehrzahl von Menschen zusammen, wie das eben in einem Familienbetrieb oder ähnlich organisierten kleinen Gemeinschaften der Fall ist. Sie tun das in der Regel unentgeltlich nach dem Kooperations-Prinzip. Lässt man die Frage nach der materiellen Qualität einer solchen Versorgung vorläufig bei Seite, so fällt auf, wie damit der Zugang zum Immateriellen erleichtert wird: Denn ist gedankentötender Hunger einmal gestillt, so ist es doch, wie schon ausgeführt, das kreative Element mit seiner Ur-Freude am Selbst-Geschaffenen, das den Menschen weit über das Gefühl einer vegetativen Sättigung hinaus hebt – und das wird auch bei bester Fremd-Versorgung durch die Marktwirtschaft nicht erreicht. Dabei sind es nicht nur die mit Selbst-Geschaffenem verbundenen Glücksgefühle, die hier wesentlich sind. Auch das Mühsame an der Selbstversorgung, der oft unausweichliche Komfort-Verzicht und selbst das Scheitern sind unverzichtbare Brücken: einerseits zu Selbst-Relativierung und andererseits zur Wertschätzung der Hilfe bringenden Gesellschaft. Kurz, Selbstversorgung ist auch ein Katalysator für die immateriellen Prozesse und Einsichten, die zu einem ganzheitlichen Menschenbild gehören.

Eine andere Gegenidee zur Marktwirtschaft ist in der lokalen Versorgungsökonomie zu sehen. Ziemlich außerhalb der medialen Aufmerksamkeit stehend, dient sie dem Gemeinwohl, indem sie in einer konkret überschaubaren Gemeinschaft die Grundbedürfnisse abdeckt. Sie ist dabei weder auf Gewinn ausgerichtet, noch ist sie unentgeltliche Kooperation, vielmehr verlangt sie kostendeckende Gebühren. In der Regel agiert sie über halböffentliche oder privatrechtliche Institutionen auf Gemeinde-Ebene, die Aufgaben wie Energie- und Wasser-Zuleitung, Entsorgung, „Öffis“ etc. erledigen. Sie hat gegenüber der Marktwirtschaft den Vorteil, dass sie auch die Menschen ohne Kaufkraft einschließt – freilich um den Preis, dass ihre Kosten meist etwas höher als der Marktpreis sind. Gegenüber dem kooperativen Modell der Selbstversorgung hat sie wiederum den Vorteil, dass die Mitgliedschaft in ihr rein objektiven Kriterien folgt und nicht manipuliert werden kann.

Eigenwirtschaft als übergreifende Gegenidee
Die Gegenideen der Selbstversorgung und der lokalen Versorgungsökonomie können zwar unabhängig voneinander bestehen und Exzesse der Marktwirtschaft eindämmen, im Verbund sind sie jedoch deutlich stärker und könnten unter dem Sammelbegriff der Eigenwirtschaft tatsächlich ein konstruktives Spannungsverhältnis zur Marktwirtschaft entwickeln: Im Gegensatz zur Marktwirtschaft, die die Effizienz der Güterproduktion zum zentralen Anliegen gemacht hat (und dafür heute immer neue Bedürfnisse erfinden muss), wären das bei der Eigenwirtschaft die natürlichen (d.h. nicht manipulierten) Grund-Bedürfnisse des Menschen. Ein weiterer wesentlicher Unterschied liegt in der strengen Ortsbezogenheit und Kleinräumigkeit der Eigenwirtschaft – dies im Interesse der hier besonders wichtigen Überschaubarkeit, ist doch das Kontrollinstrument des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs hier viel zu grobschlächtig. Fehlende Überschaubarkeit erklärt im Übrigen auch das Scheitern überregionaler Gemeinwirtschaften in den 70er und 80er Jahren, sei es etwa die deutsche Wohnbaugenossenschaft „Neue Heimat“ oder der österreichische „Konsum“.

Im Gegenzug liegen auch die unschlagbaren Vorteile der modernen Marktwirtschaft in ihrer Globalisierungsfähigkeit, einschließlich der unbegrenzt möglichen Ausweitung arbeitsteiliger Verfahren. Um es auf den Punkt zu bringen: Auch der überzeugteste Eigenwirtschaftler, Bastler und Selbstversorger wird nicht selbst die Magnet-Spulen für seine Elektro-Motoren wickeln, sondern den fertigen Elektromotor möglichst billig kaufen, egal wo die Spulen gewickelt worden sind. Also hat die Marktwirtschaft nicht nur für Luxus-Produkte ihren Platz.

Eine überzeugende Darstellung der Eigenwirtschaft als Gegenidee zur Marktversorgung hat mein schon erwähnter Freund Lex Janssen ausgearbeitet. Sein Konzept ist praktisch deckungsgleich mit dem hier besprochenen, und ich bin sehr dankbar, hier aus seinen persönlichen Notizen zitieren zu dürfen. Zu Janssens Eigenversorgung zählt demnach sowohl die auf Haushaltsebene mögliche Selbstversorgung – zu der auch die Nachbarschaftshilfe gehört – als auch die „subsidiäre Versorgungsökonomie“, die gemeinsame Grundbedürfnisse der Haushalte einer Gemeinde, eines Stadtviertels oder einer kleinen Region (Landkreis, Bezirk etc.) abzudecken hat. Sie ermöglicht lokale Versorgungsstrukturen mit entgeltlichen Gütern und Dienstleistungen durch Gemeinwohl-Unternehmen, die private, halb-öffentliche oder öffentliche Organisationen sein können; sie haben sich dabei am Bedarfs-Deckungsprinzip zu orientieren und nicht am Gewinnprinzip. Janssen zählt auch die marktwirtschaftlich tätigen Kleinunternehmer zur Eigenversorgung, wo sie – wie etwa als Schulbus-Unternehmer – gemeinwirtschaftliche Teilfunktionen übernehmen.

Das psychologische Paradox
Janssen untersucht zunächst die aktuelle Bewusstseinslage. Das unbewusste Vorverständnis, das den Rahmen für bewusstes Denken und Diskutieren bildet 93) , hat seiner


93) Zum Vorverständnis: Vgl. Dieter Suhr, etwa in Peter Knauer, “Das philosophische Werk von Dieter Suhr”, Vortrag Erschienen in: Fragen der


 

Überzeugung nach zu einer paradoxen psychologischen Situation geführt: Eigenwirtschaft findet heute in der vom Markt diktierten Konsumgesellschaft kaum Beachtung: Die Masse der Menschen ist sich zwar bewusst, dass sie als Arbeitnehmer oder Klein-Unternehmer ein Arbeitseinkommen brauchen, um die eigene Existenz finanzieren zu können. Diese Abhängigkeit ist bei vielen auch die zentrale Ursache für Angst vor Arbeits- und Einkommensverlust, vor sozialem Abstieg und dem „Tag der Wahrheit“, wenn diese Situation eintritt. Kaum bewusst ist jedoch den Menschen, wie groß ihre Abhängigkeit von der permanenten Marktversorgung geworden ist: Wohnungen oder Häuser müssen abbezahlt werden; Strom und Wärme, die Lebensmittel, die, Bekleidung, die eigene Mobilität, die Kommunikation müssen gekauft werden, dazu der heute so wichtige Statuskonsum, die Ausbildung, die Freizeit, die kleinen und großen Vergnügungen – all das glaubt man käuflich erwerben zu müssen, was eben ein ausreichendes Einkommen voraussetzt.

Also träumt man zwar von Einkommen, vorzugsweise durch möglichst wenig Arbeit, aber man träumt nicht von einem einfachen Leben mit wenig Geldbedarf und dementsprechend wenig Arbeits- und Einkommensbedarf. Kurz, die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt wird gespürt, aber die Abhängigkeit von der Marktversorgung wird nicht hinterfragt; ja, die Nutzung unbegrenzter Konsumangebote wird als Inbegriff der freien Entfaltung der Person und als Maß der persönlichen Freiheit gesehen. Dass aber ganz im Gegenteil die Überwindung dieser Einkommensabhängigkeit eine Bedingung für Freiheit im Sinne einer höheren Selbstbestimmung ist, geht in diesem Kontext verloren; Forderungen nach persönlicher Selbstbestimmung muss der Markt-Mensch beiseiteschieben und sich damit begnügen, dass dies nur in einem immer kleiner werdenden Raum jenseits der Arbeitswelt realisiert werden kann. Und dieser Raum wird kleiner, weil nicht-materielle Wünsche und Bedürfnisse nach Selbstbestimmung, Liebe, Angstfreiheit, Zeitsouveränität etc. immer weniger thematisiert werden – kaum in der Presse, Familie, Schule oder gar in der Politik.

Auf gesellschaftlicher Ebene entspricht dieser Fixierung des Einzelnen auf mehr Konsummöglichkeiten wunderbar die kapitalistische Logik der unendlichen Gewinnmaximierung. Dem trägt auch die Steuergesetzgebung Rechnung, indem sie


Freiheit, Heft 211 Juli/August 1991, 40–54


 

Investitionen nur dort als Einkommen mindernd anerkennt, wo man damit Gewinne erzielen will – unsinnigerweise aber nicht für Investitionen, die spätere Ausgaben vermeiden sollen und damit mehr Kaufkraft für andere Ausgaben übrig lassen. In diesem Sinne sind ja auch Selbstversorger Unternehmer! So kann es auch nie ein „genug“ 94)  geben, und deshalb bleibt für Konsumenten und Produzenten die totale Abhängigkeit vom Markt – der Mensch ist aus dem Zentrum aller Überlegungen hinausgeschmissen worden.
Bei der Eigenwirtschaft geht es also um die „Überwindung des Radikalen Monopols“ (Ivan Illich) des großen Marktes, der alle Möglichkeiten der Selbstversorgung verödet und sich als Wachstumsökonomie zum Entfaltungsherren der aktuellen Menschheitsgeschichte gemacht hat; und der uns alle tatsächlich zu Entfaltungsdienern des Großen Marktes degradiert hat, wo wir nur als durchkonditionierte Arbeitnehmer und süchtige Verbraucher Existenzberechtigung haben.

Grundbedürfnisse und ihre Abgrenzung
Lex Janssen – und ähnlich auch der schon erwähnte Nico Paech – weisen der Eigenwirtschaft die Abdeckung der menschlichen Grundbedürfnisse zu; was darüber hinausgeht, wäre Sache der Marktversorgung. Damit stellt sich sogleich die politisch heikle Frage nach der Unterscheidung zwischen Grundbedürfnissen und darüber hinaus gehenden Bedürfnissen; man könnte auch sagen zwischen unverzichtbaren, nicht-elastischen Bedürfnissen und elastischen Bedürfnissen, ja Luxusbedürfnissen. Dies immer unter der (noch zu diskutierenden) Voraussetzung, dass diese Grundbedürfnisse unter technischen Gesichtspunkten überhaupt in Eigen- bzw. Selbstversorgung übernommen werden können und damit kein unzumutbarer Komfort-Verzicht verbunden ist.
Zu den Grundbedürfnissen zählt Janssen: die „Behausung“ samt Wärme- und Strombedürfnis; die Bekleidung, Wasser und Lebensmittel; dann das Bedürfnis nach kommunikativer Handlungsfähigkeit durch Telefon, Radio, TV und Internet; weiters nach


94) Vergl. Robert Skidelsky und Edward Skidelsky, How Much is Enough?, a.a.O.


 

lokaler Mobilität für Einkommenserwerb, Güterbeschaffung und Sozialkontakte. Ich würde dazu auch das Bedürfnis nach schulischer und gesundheitlicher Grundversorgung zählen.
Freilich, die hier skizzierte Beschreibung der Grundbedürfnisse und die Trennung zwischen Markt- und Eigenwirtschaft kann nicht mehr als eine Faustregel sein, ohne Anspruch auf dogmatische Festlegungen. Diese sind schon deshalb entbehrlich, weil der Markt aus sich selbst heraus keine Grenzen respektiert und dem Menschen selbst in die intimsten Lebensbereiche folgen will. Dieser lebt dann – wie wir das gelegentlich im Urlaub erleben, als der teuersten Form der freien Entfaltung der Persönlichkeit – wie im Hotel, isst also im Restaurant, fährt nur mit dem Taxi, zahlt für jede gewaschene Unterhose und auch für das Telefon pro Einheit nach Hoteltarif, entspannt sich in der Wellness-Zone des Hotels und für die Nacht kann er kostenpflichtige Liebesdienste bestellen. Im Umkehrschluss sieht man da, wie „wertvoll“ in einem durchschnittlichen Haushalt die noch verbliebenen Restbestände der Eigenversorgung sind! Nein, die hier skizzierte Trennung zwischen Markt- und Eigenwirtschaft soll nur Hinweise geben, wo der einzelne Mensch und seine Zivilgesellschaft die besten Chancen haben, in freiwilligen Zusammenschlüssen die Marktversorgung hinter sich zu lassen, um eine höhere Lebensqualität zu erreichen. Daher spielt es auch keine Rolle, wenn die Marktwirtschaft in viele Bereiche der Grundbedürfnisse hinein reicht:

• So ist etwa bei dem Bedürfnis von Wohnraum, Bekleidung und Mobilität offensichtlich, dass die Grenzen zwischen unabweisbarem Grundbedürfnis und Luxus schwer zu definieren, also fließend sind.

Hilfreich in diesem Zusammenhang ist die schon von Leopold Kohr getroffene Unterscheidung der Grundbedürfnisse zwischen Ausgaben für biologische Bedarfsgüter, wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft, die für ein physisches Überleben absolut notwendig sind und für kulturelle Bedarfsgüter, zu denen uns unsere soziale Umwelt verpflichtet; also Mehrkosten durch die Art und Weise, wie der Einzelne seinen biologische Bedarf erfüllen soll, um nicht gesellschaftlich geächtet zu werden 95)  (etwa bei männlichen Bank-Bediensteten die Kosten für Krawatte und möglichst täglichen


95) Leopold Kohr, Die überentwickelten Nationen, Salzburg 2003, Otto Müller Verlag


 

Hemdenwechsel); vor allem die biologischen Bedarfsgüter sollten unter die Eigenwirtschaft fallen.
• Weiters geht es bei der Selbstversorgungsfunktion des Haushaltes auch um die nachhaltige Unabhängigkeit vom Markt – sie schließt also, wie schon angedeutet, Leistungen nicht aus, die zwar marktwirtschaftlich sind, aber dem höheren Ziel der Markt-Unabhängigkeit dienen. Beispielsweise werden auch radikale Selbstversorger, die sich der Angepassten Technologie bedienen, ihren Bedarf an Werkzeugen im Baumarkt stillen, und sie werden den marktwirtschaftlichen Erwerb einer Photovoltaikanlage als nachhaltige Selbstversorgung ihres Hauses beim Strom- und Wärmebedarf sehen – schon weil sie damit ihre Abhängigkeit von marktwirtschaftlichen Arbeitseinkommen reduzieren.

Markt- und Eigenwirtschaft im Gleichgewicht
Was das quantitative Verhältnis der Markt- zur Eigenwirtschaft anbelangt, so meinen sowohl Lex Janssen als auch Nico Paech, dass die Arbeitszeit tunlichst je zur Hälfte zwischen Markt- und Eigenversorgung aufgeteilt werden sollte. Auch dies kann wohl nur als Faustregel mit großem Interpretationsspielraum verstanden werden: Hälfte-Hälfte kann sich ja auf die Gestaltung eines Tages, eines Jahres oder eines ganzen Lebensabschnitts beziehen, aber auch auf die Arbeitsteilung in einer Familie. Unter dem Strich muss aber bleiben, dass das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Versorgungs-Systemen ausgewogen sein muss – kurz: es hat im Menschlichen Maß zu bleiben.

Natürlich hätte das Absinken der Gesamt-Arbeitszeit in der Marktwirtschaft enorme Folgen: Sie würde deutlich weniger produzieren, konsumieren und profitieren. Für einen sehr großen Teil der Unternehmen wäre das zunächst ein schwerer Schlag. Nun zeichnet die Marktwirtschaft ja ihre unschlagbare Effizienz aus; hat sie ein Mindestmaß an Planungssicherheit, so zeigt die Erfahrung, dass es praktisch kein Problem gibt, zu dem nicht ein findiger Unternehmer eine praktikable Lösung anbieten kann. Und gerade wegen dieser Planungssicherheit bezweifle ich, dass die Marktwirtschaft mittel- und langfristig im scharfen Wettbewerb mit der Eigenwirtschaft mehr Erfolg haben wird als in der Entwicklung einer Partnerschaft mit diesem Teil der Wirtschaft.
Das gilt auch für große Industrie-Konzerne. So sollte es etwa der Auto-Industrie durchaus möglich sein, ihre Gewinne trotz sinkender Anzahl produzierter Fahrzeuge stabil zu halten, wenn sie die Grund-Idee ihres Geschäfts überdenkt, nämlich die optimale Förderung individueller Mobilität. So wie es ansatzweise ohnehin schon geschieht, könnte die Auto-Industrie sich verstärkt dem Car-sharing-Geschäft widmen und im Ausloten individueller Mobilitäts-Wünsche mehr Potenzial sehen als in der klassischen industriellen Produktion von Autos. Kurz, der schrittweise Aufbau der Eigenwirtschaft würde die Marktwirtschaft zwingen, ihr Augenmerk von der Güter-Produktion verstärkt zu den Dienstleistungen zu verlagern.

Damit wären wir auch bei den politischen Konsequenzen von mehr Eigenwirtschaft: Es käme zu einer deutlichen Entschärfung der Umwelt-Problematik, Arbeitslosigkeit wäre kaum mehr ein Problem, und der auf allen Regierungen lastende Druck, in einer ohnehin mit Konsumgütern überschwemmten Welt für ständig wachsende Industrie-Exporte zu sorgen, könnte endlich entkrampft werden (wie rasch ist aus dem schönen Image des Export-Weltmeisters ein Feindbild mit Hitler-Schnurbart geworden!).
Die Wiederentdeckung der überschaubaren Region

Wie schon mehrfach gesagt, ist Überschaubarkeit die Voraussetzung für nachhaltig vernünftiges Handeln und damit auch für Verantwortung und Demokratie. Das hat biologische Gründe – im Wesentlichen das Ceteris-paribus-Syndrom – und deshalb wohl haben Ethik und Politik das Subsidiaritätsprinzip entwickelt. Überschaubarkeit beginnt „unten“ bei der kleinsten Gemeinschaft und erschöpft sich bald, wo der Ortsbezug fehlt und die Gemeinschaft größer wird bzw. an Komplexität zunimmt. Der Großteil gesellschaftlicher Tätigkeit soll daher in Familie, Gemeinde und Region erfolgen, ganz nach dem Motto „all politics is local“. Bei allem was darüber hinausgeht, muss der einzelne Mensch die Überschaubarkeit durch das höchst zerbrechliche Gut des Vertrauens in seine Vertreter ersetzen. Der Mainstream von Medien und Politik vermittelt jedoch ein anderes Bild: Zielvorstellung ist Einheitlichkeit im Interesse der Effizienz; sie soll Überschaubarkeit leichter machen oder gar ersetzen. Der Haken daran ist jedoch, dass Einheitlichkeit in der Regel „von oben“ durchgesetzt wird und damit das „unten“ vorherrschende Verständnis für Ganzheitlichkeit und Resilienz verletzt wird.

Es bleibt also dabei: Obere Hierarchie-Ebenen sollten dauernd die Beweislast für die Angemessenheit ihrer Zuständigkeiten tragen; lokal hat Vorrang vor national, kontinental oder global. Im Folgenden soll eine Hierarchie-Ebene besonders beleuchtet werden, die im erwähnten Mainstream eindeutig zu kurz gekommen ist, nämlich:

Die zivilgesellschaftliche Region
Wesentlich an der Region ist, dass dort alle Bedürfnisse abgedeckt werden können, die die Bewohner eines Gebiets regelmäßig an ihre Gemeinschaft herantragen. Das geht weit darüber hinaus, die Dinge des täglichen Lebens dort zu produzieren oder zu kaufen; gehören doch auch die entsprechende Dienstleistungen dazu, weiters Einrichtungen des geselligen Beisammenseins (etwa für Sport, Kultur), der Schule und Berufsausbildung, der Gesundheit, der öffentlichen Sicherheit und der Justiz (zumindest auf dem Niveau von Amts- oder Bezirksgericht). Ist das der Fall und stehen alle wichtigen Institutionen in unmittelbarer Reichweite, so wird die Entwicklung eines ganzheitlichen Verständnisses ihrer jeweiligen Bedeutung für die Region erleichtert, einschließlich ihrer besonderen Mängel und Meriten; kurz: die zivilgesellschaftliche Region hat den Vorteil voll überschaubar zu sein.
Nach diesen Kriterien wäre etwa der Lungau – mit seinen 20.000 Einwohnern der kleinste politische Bezirk im Bundesland Salzburg – eine vollwertige Region, da es dort Gymnasium, Spital, Gericht und auch sonst alle genannten Einrichtungen gibt und seine Einwohner (schon wegen der Gebirgslage) kaum zur Arbeit auspendeln. Umgekehrt könnte man auch den Regierungsbezirk Oberbayern mit 1,6 Millionen Einwohnern als Region ansehen, da seine Hauptstadt München nicht nur über alle Einrichtungen verfügt, sondern über gute Verkehrsanbindungen auch viele Tagespendler aus seiner Peripherie anzieht – zum Teil über 100 km weit. Für die hier diskutierte Rolle der Regionen sollte jedoch ins Gewicht fallen, dass der Arbeitsplatz nur eine von vielen gesellschaftlichen Aktivitäten abdeckt und die Bewohner der oberbayrischen Peripherie den Großteil ihrer Bedürfnisse doch innerhalb ihrer Wohnsitz-Landkreise erfüllen. Einer Region im hier erörterten zivilgesellschaftlichen Sinn entsprechen somit am besten die Landkreise Deutschlands, die Bezirke Österreichs, in der Schweiz die kleineren Kantone.

Klar, mit den gewachsenen politischen Strukturen in der Form autonomer Gebietskörperschaften ist dieses Regionen-Verständnis nur schwer vereinbar: Die meisten Gemeinden sind kleiner, die deutschen und österreichischen Bundesländer mit wenigen Ausnahmen zu groß, und gleiches wird wohl auch für die großen Kantone der Schweiz gelten. Auch sind Landkreise und politische Bezirke nur Institutionen der Verwaltung, haben also keine gewählten Volksvertreter. Ein Spannungsverhältnis zwischen politischer und zivilgesellschaftlicher Region muss jedoch kein Nachteil sein: So werden nicht nur die Institutionen der politischen Region gut daran tun, sich den Bedürfnissen der wesentlich volksnäheren zivilgesellschaftlichen Region anzupassen – und etwa als ersten Schritt entsprechende Gemeinde-Verbände stärken. Umgekehrt kann (und soll!) sich in zivilgesellschaftlichen Regionen Überschaubarkeit und Solidarität weiter entwickeln, sodass sie ihr ganzheitliches Verständnis und ihre Tätigkeit auch auf die größere politische Region ausdehnen können (auf das Verhältnis der zivilgesellschaftlichen Region zu den politischen Strukturen des Nationalstaats und internationaler Zusammenarbeit möchte ich noch später zurückkommen).

Die zentrale Rolle erneuerbarer Energien
In der Regel assoziiert man eine Region mit ihrem Hauptort und beachtet kaum das umgebende Land – touristisch attraktive Landschaften sind da nur die seltene Ausnahme. Der weltweite Trend zu immer größeren Städten bei gleichzeitiger Verödung dörflicher Strukturen „auf dem flachen Land“ bestätigt diese Regel. Mit anderen Worten und etwas überspitzt: Angesichts der Annehmlichkeiten des Stadtlebens beschränkt sich das Verständnis für die Reize des Landlebens auf Besuche im Wochenend-Häuschen. Vergessen wird dabei, dass die meisten Annehmlichkeiten der Stadt zu einem erheblichen Teil auf Leistungen beruhen, die vom flachen Land stammen – zugegeben, heute nur zum geringeren Teil aus dem jeweiligen Umland der Stadt und viel öfter vom flachen Land ganz anderer Länder und Kontinente, aber eben doch vom „flachen Land“: sei es Nahrung, natürliche Textilfasern, Baustoffe, erneuerbare Energie und nicht zuletzt Wasser und saubere Luft.

Dieses Vergessen ist die Folge der Marktwirtschaft und des Zugriffs auf billige Energie für Produktion und Transport – denn nur so kann die Stadt auf Leistungen aus dem weit entfernten flachen Land zugreifen. Nun habe ich ja die Grenzen der Marktwirtschaft aufgezeigt, und trotz Fracking-Boom und dem 2014 beobachteten Preissturz bei Erdöl vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über das Ende billiger Energie zu lesen ist; bauen wir ja noch immer auf fossile Brennstoffe, deren Vorkommen sich erschöpft und deren Verbrauch die Hauptschuld an der Klima-Krise trägt. Und weil die Gegenidee zur Marktwirtschaft die Eigenwirtschaft und jene zu den fossilen Brennstoffen die erneuerbare Energie ist, kommen wir wieder zu dem, was ich schon angerissen habe: die Produktion erneuerbarer Energien mit angepasster Technologie. Dies muss ja hauptsächlich auf dem flachen Lande geschehen, und weil die dort produzierte Energie mangels teurer Übertragungsnetze meist nur bis in die nächstgelegene Stadt geliefert werden kann, ist damit auch das ökonomische Rückgrat der zivilgesellschaftlichen Region umschrieben.

Konkret können – und sollen – dörfliche Nachbarschaftsverbände Photovoltaik-Anlagen und kleine Windräder sowohl im Kleinen für private Haushalte als auch für regionale Genossenschaften errichten, auf eigene oder auch fremde Rechnung betreiben und warten. Die nicht im Dorf genutzte Energie wird an die nächste Stadt geliefert – schon weil deren Bewohner ihre PV-Bürgeranlagen in den Dörfern bauen lassen. Weiters können im Dorf pflanzliche und tierische Abfälle aus seiner intensiv betriebenen Landwirtschaft zu Biogas und/oder mit Hilfe von überschüssigem Spitzenstrom der PV-Anlagen zu Methan verarbeitet werden, wie das beispielsweise im führenden „Energiedorf“ Wildpoldsried praktiziert wird 96). Ähnliches paraktiziert auch die direkte Methanisierung von Überschuss-Strom in den von Etogas entwickelten Anlagen, die (unter Berücksichtigung von Kraft/Wärme-Kopplung) einen Wirkungsgrad von über 80% erreichen können; sie dürften für das Problem der Speicherung von Überschussenergie den endgültigen Durchbruch schaffen 97).

Zugegeben, bei der Umwandlung von Sonnenlicht in elektrische Energie durch Photo-Voltaik (PV) ist vieles noch im Fluss, wobei durchwegs Fortschritte zu erkennen sind – nicht nur bei Preisen sondern auch bei Ästhetik und Raumbedarf. Entscheidend ist jedoch, dass Wirkungsgrad und Gestehungskosten der PV sich laufend verbessern und ihr Einsatz selbst in den weniger sonnigen Ländern Mitteleuropas sinnvoll ist. So lagen schon 2011 die echten Stromgestehungskosten von PV-Anlagen in Deutschland laut einer Studie der Universität Stuttgart (Institut für Energiewirtschaft und rationelle Energieanwendung) unterhalb des Haushaltsstrompreises und bewegen sich in etwa auf dem deutlich niedrigeren Preisniveau für Industriekunden.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Erneuerbare Energien, die dezentral gewonnen werden, und insbesondere die PV, erfüllen bestens die erwähnten Technologiemerkmale Schuhmachers: smallness und non-violence. Was die Merkmale simplicity und capital-cheapness anbelangt, so werden sie insbesondere dort erfüllt, wo nur die PV-Paneele auf dem Markt angeschafft und Errichtung und Wartung der Anlage durch Nachbarschaftshilfe besorgt wird. So ermittelte auch eine Wertschöpfungsstudie der deutschen Agentur für


96) http://de.wikipedia.org/wiki/Wildpoldsried
97) www.etogas.com


 

Erneuerbare Energien, dass die regionale Wertschöpfung nicht nur durch die Modulherstellung, sondern vor allem durch Planung, Installation, Betrieb und Wartung profitiert 98), also insgesamt gewinnbringend ist. Auch dem sozio-kulturellen Kriterienkatalog des Brace Research Institute wird damit voll Rechnung getragen, wie diese Kriterien ja überhaupt einen Fingerzeig zur Eigenversorgung darstellen.

Neben der Erzeugung und ersten Bearbeitung von Nahrungsmitteln, Energie und Holz gibt es selbstverständlich auch andere Gründe, die ein Leben auf dem flachen Lande wirtschaftlich sinnvoll erscheinen lassen und das Absterben der Dörfer in ihre Revitalisierung umkehren sollte. Träger dieses Prozesses müsste eine Partnerschaft zwischen den Städten und ihren jeweiligen Regionen sein. Ein Ansatzpunkt ergibt sich schon daraus, dass auch die meisten Städte „ländlicher“ werden dürften, indem sie zunehmend ihre Hinterhöfe, Balkons und Dachflächen für „urban farming“ und Photovoltaik nutzen; hier sollte wiederum Know-how vom flachen Land gefragt sein.

Zivilgesellschaft, Staat und Steuer auf Zeit
Im Großen und Ganzen können die hier skizzierten Elemente einer neuen Regionalität mit zivilgesellschaftlichen Mitteln umgesetzt werden, müssen also nicht auf staatliche Unterstützung warten – es liegt also an Ihnen und Ihrem Freundeskreis, werter Leser, um vom „Baum regionaler Erkenntnis“ die am niedrigsten hängenden Früchte zu pflücken und neu zu setzen.
Wie schon gesagt, wird sich der Staat höchstwahrscheinlich zunächst abwartend verhalten, wird dann aber gerne auf den anfahrenden Zug aufspringen wollen. Er hätte es dann in der Hand, vieles zu Gunsten eines neuen Vertrauens-Verhältnisses zwischen Bürger und Staat zu bewegen. Das müsste ihm auch nicht viel kosten, bzw. wäre der Verweis auf leere Staatskassen eine leere Ausrede: Es gibt nämlich auch für den Staat alternative Finanzierungsmodelle.


98) http://de.wikipedia.org/wiki/Photovoltaik, Stand 4.6.2013


 

Vor allem in Europa sind die Staatsfinanzen von einer bösen Scherenentwicklung betroffen: Durch die demographische Entwicklung und all das, was man als „collateral damage“ der exzessiven Marktwirtschaft bezeichnen mag, steigen einerseits und unaufhaltsam die staatlichen Ausgaben für die Sozialpolitik; andererseits sind die Staatskassen seit der Finanzkrise von 2008 besonders leer, und bei einer Sozialquote um die 50 % ist auch eine weitere Erhöhung der Steuerbelastung politisch nicht machbar. Früher oder später sollten da die Finanzminister eine erstaunliche Entdeckung machen: Es gibt tatsächlich noch eine höchst ergiebige Ressource, die bis heute noch völlig unbesteuert geblieben ist, und die noch dazu – welch soziales Glück! – über die gesamte Bevölkerung in ziemlich gleicher Weise verteilt anzutreffen ist – und das ist die Zeit. Mit anderen Worten, in Anlehnung an den alten Flur- und Deichzwang („Willst du nicht deichen, musst du weichen“) oder die „Hand- und Spanndienste“, zu denen Bürgermeister ihre Bürger verpflichten konnten, dürfte es unter dem Diktat leerer Staatskassen bald wieder möglich sein, die Arbeitskraft der Bürger direkt und ohne jeden monetären Umweg zu besteuern. Wie das konkret aussehen könnte, habe ich bereits am Modell der Alten-Pflege skizziert.

Natürlich werden Staat und Gesellschaft aufpassen müssen, dass „Steuer-Arbeit“ nicht zu Zwangsarbeit wird. Das sollte unter drei Bedingungen vermieden werden, die hoheitsrechtlich festzuschreiben wären: Die demokratische Legitimation jeder Zeitsteuer sollte deutlich über den üblichen „50 Prozent plus eine Stimme“ liegen; die Sinnhaftigkeit des angeordneten Arbeitseinsatzes muss auch für schlichteste Gemüter voll nachvollziehbar sein (eine Bringschuld der Gesellschaft!); und abgesehen von objektiven Befreiungsgründen muss es auch möglich sein, sich durch eine monetäre Ersatz-Steuer von der Arbeitsleistung entbinden zu lassen.

 

Nationalstaat und Zivilgesellschaft zwischen lokal und global

 

Rückbau des Nationalstaates?
Wie hier schon mehrfach gesagt, muss der Einzelne in hoch-komplexen Situationen die fehlende Überschaubarkeit durch ganzheitliches Vertrauen in die tatsächlich entscheidenden bzw. handelnden Personen setzen. Freilich ist das keine Schwarz-Weiß-Frage, es gibt auch Bereiche, wo es genügen sollte, beschränkte Überschaubarkeit durch eingeschränktes Vertrauen zu kompensieren – eine Situation, die in der Politik ja besonders häufig auftritt. Leider wird heute die Lücke zwischen eingeschränkter Überschaubarkeit und notwendigem Vertrauen immer größer. Zum einen, weil die politischen Probleme immer komplexer werden, zum anderen, weil das öffentliche Bild der Politiker meist negativ gefärbt ist: sei es, dass die Medien übergenau über jede kleine Warze physischer wie psychischer Natur berichten und positive Meldungen in einer über-informierten und daher zu Zynismus neigenden Öffentlichkeit nicht „hängen bleiben“; oder sei es, dass heute schon die ganze Politik unter dem Generalverdacht der Bestechlichkeit zu stehen scheint – wenn schon nicht durch Geld und Geldeswert, so doch durch den Druck der nächsten Meinungs-Umfrage, die gefälliges statt richtigem Handeln einfordert. Kurz, der Trend zu immer unübersichtlicheren Situationen führt zu immer lauteren Rufen nach dem politischen Wunder-Wutzi, der alles weiß und alles kann (dagegen Leopold Kohr: „Auf die geringe Größe gebracht, die uns Gott nun mal gegeben hat, kann praktisch kein Problem das Genie der lokalen Führer oder die Ressourcen ihrer natürlichen Umwelt übersteigen“). Wie die Geschichte zeigt, sind es nicht immer die „guten“ Menschen, die sich diese wunderbaren Fähigkeiten zutrauen.

Das Selbstverständnis des (großen) Nationalstaats gerät nicht nur wegen fehlender Überschaubarkeit zusehends in die Krise. Der Schweizer Professor Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburger Instituts für Wirtschaftsforschung, hat dafür den Begriff der „Glokalisierung“ geprägt 99), womit er die Sandwichstellung des Nationalstaates zwischen einer Globalisierung der Wirtschaft und einer Lokalisierung der Probleme beschreibt.


99) Thomas Straubhaar, „Wird der Nationalstaat im 21. Jahrhundert überflüssig? – ‘Glokalisierung‘ als Resultat von Globalisierung und lokaler Standortattraktivität“ in „Neue Zürcher Zeitung“, 31.12.1999


 

Mit dem Aufbrechen von nationalen und territorialen Grenzen und Institutionen ist die Globalisierung für Straubhaar das „Verschwinden der Geographie aus der Ökonomie”, während Lokalisierung mehr mit sozialen Prozessen zu tun hat; ja sie ist der Anker, mit dessen Hilfe die Menschen versuchen, sich im Kleinen wieder neu zu organisieren, neue Bezugsgruppen zu schaffen, um in der riesigen Welle des Globalisierungsprozesses Halt zu finden. Denn man kann zwar sein Geld fast überall verdienen, beim Ausgeben lauten aber die strategischen Fragen: Wo schicke ich meine Kinder in die Schule? Wo verbringe ich meine Wochenenden? Wo möchte ich meinen Lebensabend verbringen? 100) Ähnlich lauten aber auch die Fragen der Gesellschaft: Wie schütze ich sie vor Steuerflucht und ähnlichen Formen des Missbrauchs durch Einzelne, die sich in der Anonymität verstecken? Tatsächlich setzen sich im globalen Wettbewerb um Standortattraktivität daher auch lokale Agglomerationen gegen nationalstaatliche Netze durch; sie fordern nun auch mehr lokale Selbstbestimmung ein – und zwar alle Rechte, die ihren Standort attraktiv machen können. So werden über privatrechtliche Konstruktionen – wie es die in den USA verbreiteten „privaten Kommunen“ der Reichen vorführen – sogar klassische staatliche Kompetenzen wie das Zuzugsrecht „lokalisiert“. Straubhaar weiter: „Wer im Dienstleistungszeitalter des 21. Jahrhunderts veraltete nationalstaatliche Strukturen aus der Anfangszeit der Industrialisierung zu bewahren versucht, wird durch die modernen Standort-ungebundenen wirtschaftlichen Aktivitäten links liegen gelassen“.

Überhaupt zeigt die aktuelle Entwicklung in den drei wichtigsten Problembereichen der Politik – nämlich den drei „A“: Arbeitsplatzsicherung, Altenbetreuung und Ausländer-Integration – dass die (noch immer unzureichenden) Erfolge trotz Unsummen von unproduktiv gebliebenen Steuergeldern fast ausschließlich von privaten Organisationen, NGOs, Bürgern und KMUs, nicht aber von (national-) staatlicher Seite erzielt wurden.

Nun kann man durchaus erwarten, dass die klassische Politik auf große Erfolge von Region und Zivilgesellschaft reagieren wird – zunächst wohl mit Abwehrmaßnahmen, bei nachhaltigem Erfolg der Zivilgesellschaft aber eben doch einigermaßen kooperativ. Denn auch die Massendemokratie wird unruhig werden, wenn ihr vor Augen geführt wird, wie


100) http://www.hwwi.de/fileadmin/hwwi/Mediencenter/Pressesartikel/2006-03-_glokalisierung_stadtblick13.pdf


 

wenig die Bürger des Nationalstaats für ihre hohen Steuerzahlungen zurückbekommen, während die Zivilgesellschaft im Wesentlichen ohne staatliche Hilfe die Regionen zum Blühen bringt und zahlreiche Probleme löst, an denen der Staat in den letzten Jahrzehnten gescheitert ist.

Nationalstaatliche Politik sollte also anerkennen, dass sie mit der heutigen Massen-Demokratie ins Unmaß geraten ist; und Komplexität muss so weit abgebaut werden, dass der von ihren Entscheidungsträgern geforderte Vertrauens-Vorschuss auf ein realistisches Niveau gesenkt werden kann. Weil aber Komplexität nun mal in kleinen Einheiten geringer ist, muss heute auch die saturierte Erste Welt den historischen Entwicklungsprozess wiederholen, den Kohr für die jungen Staaten der Dritten Welt empfohlen hat: Schritt-für-Schritt vom Dorf über die Region zum Nationalstaat und schließlich zur internationalen Zusammenarbeit. Wo aber die mühsam erarbeiteten sozio-politischen Standards auf nationaler Ebene verkümmert sind, sollte man daher auch, wie schon gesagt, den Schwerpunkt des politischen Geschehens wieder auf die regionale Ebene zurückführen; und abwarten, bis diese Standards sich auf regionaler Ebene so weit erholt haben, dass sie die nationale Ebene erneut tragen können.

Man wird ja sehen, ob aus der staatlichen Duldung einer neuen Regionalität der logische nächste Schritt tatsächlich erfolgt, nämlich der Rückbau national-staatlicher Kompetenzen auf ein Niveau, wie es etwa den Bundeskompetenzen der Schweiz entspricht. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches mag eine derartige „Devolution“ im Sinne des Subsidiaritäts-Prinzips so wahrscheinlich erscheinen, wie man noch im Jahr 1988 die Aussichten auf den Fall der Berliner Mauer beurteilt haben mag – also extrem unwahrscheinlich, obwohl der Prozess der Aushöhlung real-sozialistischer Macht damals schon längst im Gange war. Anstatt nun Spekulationen über Art und Zeitpunkt des Anlasses anzustellen, der zu dieser Kompetenzverschiebung führen könnte, ist es wohl sinnvoller zu skizzieren, wie denn die Zukunft des Nationalstaates und sein Verhältnis zur Zivilgesellschaft nach erfolgter Devolution aussehen könnte.
Der Blick darf da nicht nur „nach unten“ gerichtet sein: Wie schon in den Begriffen der Glokalisierung und der Sandwichstellung ausgedrückt, kommt der Nationalstaat ja auch „von oben“ unter Druck: Er ist für viele Problemlösungen zu klein, wie dies etwa Umweltprobleme und Klima-Krise, failed states und Terror, Steuerflucht und Drogen sowie Massen-Migration und organisierte Kriminalität nur allzu deutlich zeigen. Zwar werden auch hier die meisten Probleme dort, wo es „konkret“ wird, letztlich nur lokal gelöst werden können; doch sind auch Institutionen der internationalen Harmonisierung und Koordinierung, in einigen Bereichen auch der Exekutierung, unverzichtbar. Kurz, neben der lokalen bzw. regionalen Ebene, die wegen der besseren Überschaubarkeit Vorrang haben sollte, muss es auch eine globale bzw. kontinentale Ebene geben, wie es UNO und EU ja sein wollen – und zwischen diesen beiden weit auseinander klaffenden Ebenen muss es in beiden Richtungen eine Art von Transmission geben.

Die zwei Säulen der Politik
Es liegt auf der Hand, dass der Nationalstaat bei dieser Transmission eine große Rolle zu spielen hat; er wird sie aber nicht allein spielen können. Denn zur Zivilgesellschaft gehören nicht nur, was einer lokalen Bürger-Initiative entspringt und der Lösung lokaler Probleme dienen soll, sondern auch über-regionale, ja auch globale Zusammenschlüsse von Bürger-Initiativen – die schon erwähnten Non-Government-Organisationen (NGOs): Von Rotary über Amnesty International, Greenpeace, Klima-Allianz bis zu Ärzte-Ohne-Grenzen habe ich dazu ja schon Beispiele genannt. Unterstützt von sozialen Medien wie Facebook und Twitter, kann man ihnen die schon besprochene quasi-holistische Qualität attestieren, also ein hohes Maß an Überschaubarkeit innerhalb begrenzter Sachbereiche.

Ein politisches System, das diesen Anforderungen gerecht wird, müsste demnach eine Konstruktion auf zwei Säulen sein: einerseits die Zivilgesellschaft mit ihren NGOs, andererseits der klassische Staat – und in beiden Säulen mehrere hierarchische Ebenen. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Säulen ist das Hoheitsrecht: Nur der Staat hat Zugriff auf Zwangsgewalt zur Durchsetzung verbindlicher Normen. Weil das aber dem Staat größte Macht verleiht und damit auch der Macht-Missbrauch nicht weit weg ist, muss das staatliche Handeln an strikte Formerfordernisse gebunden bleiben – was andererseits den besonderen Vorteil der Zivilgesellschaft hervorhebt, nämlich ihre formfreie Flexibilität.
Säulen müssen auf festem Boden stehen. Diese Basis bilden in der Zivilgesellschaft die verschiedenen Vereine des „Sozialen Raums“ und der beschriebenen zivilgesellschaftlichen Region, im Staat die mit allgemeinen Vertretungskörpern versehenen Gebietskörperschaften der Gemeinde und der politischen Region – in Deutschland und Österreich also die Bundesländer, in der Schweiz die Kantone. Bei beiden Säulen muss diese Basis möglichst ganzheitlich organisiert sein, um dort, wo gesellschaftliches Handeln gefordert ist, den einzelnen Bürger bei seinen umfassenden Bedürfnissen abholen zu können. Das heißt, auch in den untersten Ebenen der staatlichen Säule sollten die hoheitsrechtlichen Kompetenzen möglichst weitreichend sein; das Schweizer Modell der Aufgabenteilung zwischen Gemeinde und Kanton wäre da sicher beispielgebend. Und selbstverständlich darf einer direkten und hierarchie-freien Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen den Säulen nichts im Wege stehen.

Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip käme den zentralen staatlichen Institutionen bzw. der Bundesebene die Koordinierung hoheitsrechtlicher Aufgaben zu, die von den Einheiten der unteren Ebene nicht bewältigt werden können, und auch hier ist das Modell der knapp gehaltenen Schweizer Bundes-Kompetenzen ein gutes Vorbild – im Wesentlichen sind das die Aufgaben des klassischen „Nachtwächter-Staates“ wie äußere und innere Sicherheit, ergänzt um die Förderung bestimmter Bereiche von Kultur und Wissenschaft.

Als Teil der staatlichen Außenpolitik gilt auch die Arbeit auf der höchsten Ebene der Säulen, also den Institutionen, die auf globaler oder kontinentaler Ebene koordinieren und handeln sollen. War das bis in die jüngere Vergangenheit ein staatliches Monopol, so kommt nun auch hier der Zivilgesellschaft mit ihren Netzwerken und NGOs eine immer größere Bedeutung zu. Zwar blieb diese Rolle bisher auf das Vorfeld formaler Beschlussfassung beschränkt, da diese noch immer bei Staatsvertretern und den von ihnen bestellten über-nationalen Organen liegt. Die zivilgesellschaftlichen NGOs und Netzwerke können jedoch mit ihrem Lobbying genauso wie kommerziell operierende Interessensvertreter höchst effektiv sein. Nicht genug damit: Diese Netzwerke haben ja durchwegs demokratische Strukturen; sie können damit das Dilemma der Territorial-Staaten überwinden, über ihre Grenzen hinaus Wirksamkeit entfalten zu wollen, obwohl sie dort keine demokratische Legitimation besitzen (wir erinnern uns, am Anfang der USA stand no taxation without representation); auch können die NGOs ihre Positionen auf der obersten Ebene unverfälscht präsentieren, d.h. ohne die sachfremden Rücksichtnahmen in den Positionen der Staatsvertreter, zu denen diese aus der jeweiligen innenpolitischen Situation so oft gezwungen werden. Für die Ausarbeitung der ersten Entwürfe von Verträgen, Konventionen und Resolutionen ist das ein immenser Vorteil.

Im Spannungsverhältnis ist Überschaubarkeit entscheidend
Dass die Institutionen der oberen Ebene – aber auch die (großen) Nationalstaaten – gegenüber der lokalen Ebene und den NGOs schon wegen der geringeren Überschaubarkeit im Nachteil sind, wurde schon deutlich gemacht. Daher sollten im Idealfall die „oberen“ staatlichen Hierarchien wohl realisieren, dass es ihnen und den (Steuer zahlenden) Bürgern mit wenigen, aber gut gehandhabten Verantwortungsbereichen besser geht als mit einer Fülle von nur mehr formal bestehenden Kompetenzen. Die Verschiebung der Kompetenzen von der staatlichen zur zivilgesellschaftlichen Säule hat jedoch Grenzen: Weil zivilgesellschaftliche Arbeit an Freiwilligkeit gebunden ist, muss es auch Institutionen geben, die die Interessen der Außenstehenden und Gegner wirkungsvoll berücksichtigen können – und gerade dafür ist die hoheitsrechtliche Zwangsgewalt der staatlichen Säule unersetzlich.
Doch lohnt es sich, die Zwangsgewalt des Hoheitsrechts etwas näher zu betrachten: Sie stammt aus vor-demokratischen Zeiten, als der Wille des Herrschers durchgesetzt werden musste, und hat auch in demokratischen Gesellschaften ihre Berechtigung, wo ja knapp die Hälfte der Bevölkerung ständig in Opposition zur Regierung zu stehen pflegt. Wo jedoch in zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen das Konsens-Prinzip herrscht, sollte es nichts geben, was gegenüber einer Minderheit mit Zwangsgewalt durchgesetzt werden müsste. Geht man einen Schritt weiter zum Verhältnis zwischen Konsensbildung und ganzheitlichem Verständnis einer Situation, so wird man annehmen können, dass der Grad der Überschaubarkeit gesellschaftlicher Fragen auch die Fähigkeit zur Konsensbildung wesentlich beeinflusst. Denn wo alle Gesellschaftsmitglieder alle Zusammenhänge kennen, werden alle Fragen soweit ausdiskutiert werden können, dass man zu einer Konsensbildung kommt. Genau dieses System des „großen Palavers“ hat im Übrigen ja schon in grauer Vorzeit die angeblich primitiven, tatsächlich jedoch ganzheitlich operierenden Gesellschaften geprägt. Mit anderen Worten, je offener die Zivilgesellschaft ihre Agenda vorantreibt, desto mehr Chancen hat sie, dass das staatliche Handeln in den Hintergrund tritt.

 

Europa im Maß

 

Denk’ ich an Europa in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht!
Dieses Motto war ursprünglich auf einen ganz anderen Einigungsprozess gemünzt, auf den Deutschlands im 19. Jahrhundert – es entspricht jedoch meinem heutigen Gemüts-Zustand. Denn ein halbes Jahrhundert war Europa für mich ein politisches Ideal, das Schritt für Schritt reale Gestalt angenommen hat – und seit 2008, als die Finanzkrise auch diesseits des Atlantiks schlagend wurde, sehe ich, wie die Risse in diesem Ideal immer tiefer werden und nun auch seine Existenz bedrohen.

Gleichzeitig sehe ich auch eine erstaunliche historische Parallele zwischen der heutigen europäischen Integration und der Regierungszeit des Habsburger Kaisers Joseph II (1780 bis 1790), auch er ein Einiger der so verschiedenartigen Länder der Habsburger-Monarchie. In der Sicherung des inneren Friedens und der Menschenrechte sowie in ihrer aufgeklärt ethischen Grundhaltung haben sich beide höchste Verdienste erworben. Andererseits gibt es Bereiche, wo Joseph II und die EU eine sehr gemischte, gleichfalls sehr ähnliche Bilanz vorzuweisen haben: Beide können als Kinder des ersten Teils der Aufklärung gelten, als Vernunft noch nicht dem Maß begegnet war; Joseph II und die EU haben demnach auf den verschiedensten Sachgebieten großartige Reform-Ideen verfolgt, die sie dann in die Maßlosigkeit getrieben haben. So sieht man bei beiden die Tendenz, sich bei Reformen auch um allerkleinste Details zu kümmern, was von der Bevölkerung oft als schikanös empfunden wurde. Kaiserliche Beispiele betrafen etwa die Regelungen der Begräbnisfeierlichkeiten – Stichworte seien Josephs wieder-verwendbarer Spar-Sarg oder die Festlegung der Zahl der Kerzen, die bei einer Messe anzuzünden seien; die EU „glänzte“ wiederum mit der famosen Gurkenkrümmungsverordnung oder mit dem Verbot von Glühlampen.

Die ethische Grundhaltung der EU ist freilich zu relativieren: Dort wird zwar sehr oft etwas aus eher unethischen Gründen blockiert, wo sie sich aber zu Beschlussfassungen durchringt, haben diese erstaunlich oft einen hohen ethischen Gehalt. Das hat mehrere Ursachen: Wegen der hohen Anzahl der „Players“ (von den 28 Mitgliedsstaaten bis zu den vielen Tausend Lobbyisten) ist der Ausgang taktischer Manipulationsversuche und Intrigen nicht mehr kalkulierbar. Wenn dann auch kein Zeitdruck besteht – weil im Vergleich mit den Wahlen zum US-Kongress sowohl die Europa-Wahlen als auch die Wahlen in großen Mitgliedsstaaten eher sekundäre Bedeutung haben – kommt es nach Art des „großen Palavers“ zu einem langen und umfassenden Diskurs, der in der Regel jeden Versuch des Falschspiels aufdeckt. Kurz, es kann heute in der EU praktisch nicht mehr erfolgreich gelogen werden. In Verbindung mit den qualifizierten Mehrheitserfordernissen hat das wieder zur Konsequenz, dass mehr auf die Wahrheit und Stärke des Arguments geschaut wird – was den großen Mitgliedsstaaten die Durchsetzung reiner Interessenspolitik deutlich erschwert. Im Vergleich zu anderen multilateralen Foren ist das zwar ein riesiger Fortschritt, doch ist nicht zu übersehen, dass diese Ethik in letzter Zeit eine Relativierung erfahren musste: Je stärker die internationale Verflechtung der EU wird, desto öfter gerät sie unter Zeitdruck; und je weniger Fragen deshalb ausdiskutiert werden können, desto öfter sitzt die EU Irrtümern auf – aber umso dominanter wird auch die Rolle Deutschlands, das durch Wiedervereinigung und Frankreichs Schwäche nun ein überragendes Gewicht besitzt.

Ethische Fragezeichen stehen auch am Anfang des europäischen Integrations – Prozesses. So drückt Jean Monnet, heute als Gründungsvater der Europäischen Integration in höchsten Ehren stehend, ein mammonistisches Eliten-Bewusstsein aus, als er bei der Gründung der Montanunion am 30. April 1952 einem Freund schrieb: 101) „Europe’s nations should be guided towards the superstate without their peoples understanding what is happening. This can be accomplished by successive steps, each disguised as having an economic purpose, but which will eventually and irreversably lead to federation“

Diese Geisteshaltung scheint bis heute auch in der EU-Beamtenschaft zu herrschen – jedenfalls tut sie herzlich wenig, um diesen Eindruck zu entkräften, in jedem von ihnen scheint ein kleiner Joseph II zu stecken. Zwar attestiert Robert Menasse diesen Beamten in seinem „Europäischen Landboten“, nicht nur hoch qualifiziert, sondern auch transparent, sparsam und lustig zu sein 102). Wenn er ihnen aber auch zugute hält, dass sie von der „Irrationalität einer so genannten nationalen Identität“ befreit sind, weist er auf das, was ich als den wunden Punkt der Sache halte:


101) zitiert nach Sir Julian Rose, „European Superstate: One Step Closer or Imminent Collapse?“ in „New European – Biannual Views of International Affairs“, Autumn 2012, ISSN 0953-1432
102) Robert Menasse, „Der Europäische Landbote – Die Wut der Bürger und der Friede Europas“, Wien 2012 Wien, Paul Zsolnay Verlag


 

Wer kein Verständnis für nationale und ähnliche Irrationalitäten des Menschen hat, der will weder dessen Emotionalität noch seine hohe Überraschungsfähigkeit und Irrtums-Anfälligkeit wahr haben. Es sind diese Beamten also „aufgeklärte Vernunftmenschen“, die sich überdies eines schwer verständlichen Techno-Speaks bedienen und die Menschen außerhalb ihrer elitären Zirkel wohl am liebsten als anonyme und leitungs-bedürftige Konsumenten sehen wollen.

Die Finanz- und Eurokrise von 2008 sollte nun die Fehlentwicklung der EU seit Maastricht in das Zentrum der Debatten rücken: Freihandel ohne Sozialstaat, freier Kapitalverkehr ohne Steuerkooperation, und in der Folge auch eine Einheitswährung für Gebiete unterschiedlicher ökonomischer Reife: das kann nicht gut gehen. So, wie es ein Fehler war, die osteuropäischen Staaten mit ihrer ganz unterschiedlichen Produktivität und ebenso unterschiedlichen Lohn-, Sozial- und Steuerstandards völlig überstürzt der Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen und Kapital auszusetzen; wurde doch damit eine innereuropäischen Standortkonkurrenz ausgelöst, die dem jungen Pflänzchen gesamteuropäische Solidarität bis heute schweren Schaden zufügt 103).

In der gängigen Kritik an der EU wird vor allem der nationale Egoismus der Mitgliedsstaaten angeprangert, und die Kommission bekommt kaum bessere Zensuren. Tatsächlich sind ja spätestens im Zuge der Finanzkrise eine gewisse Re-Nationalisierung und das Schwinden gesamt-europäischer Solidarität unübersehbar geworden. Doch hat auch an dieser Entwicklung die EU-Kommission erheblichen Anteil; denn wer sonst, wenn nicht die Kommission mit ihrem besonderen Initiativ-Recht wäre berufen, das 2007 mit der Lehman-Pleite offenkundig gewordene Ende des neo-liberalen Paradigmas sowohl in harter Fakten-Arbeit als auch mit entsprechender medialer Präsenz zu verarbeiten? Es lag an der Kommission, direkt die Bürger Europas anzusprechen und die Nationalstaaten zu einem Ideen-Wettbewerb einzuladen, wie denn eine am Menschen orientierte neue Zukunfts-Politik für Europa aussehen könnte. Man hätte damit ganz besonders die Jugend erreicht, und bei Aufweichung des Einheitlichkeits-Prinzips hätte man sogar bei den Briten Erfolg gehabt. Freilich, mit Manuel Barroso als braven Verwalter des Ist-Zustandes an der


103) Vgl. Christian Felber, „Retten wir den Euro!“, Wien 2012, Deuticke Verlag


 

Spitze der Kommission (ein britischer Wunsch-Kandidat!) war das nicht zu machen, und mit dem Ausbleiben intellektuell ansprechender Alternativen wurde es den Mitgliedsstaaten leicht gemacht, in der Kiste nationaler Vergangenheit zu kramen. Auch so ist Angela Merkels Politik der „Alternativlosigkeit“ zu erklären!
Ja, ich bin um den Schlaf gebracht.

Integration auf einer unfertigen regionalen Basis produziert die Euro-Krise
Wie schon ausgeführt, warnte Leopold Kohr die Entwicklungsländer vor einer verfrühten Öffnung gegenüber dem Welthandel bzw. wirtschaftlicher Integration, weil sie dann von hoch entwickelten Volkswirtschaften unweigerlich marginalisiert würden. Die ständige Verschlechterung ihrer Austauschrelationen (terms of trade) sei nicht zu stoppen, solange die Entwicklung des inneren Gesellschafts-Verständnis der Staaten weit auseinander klaffe; junge Nationen wären dann in ihrem Erwerbs- und Konsumverhalten praktisch ohne Alternativen. Es geht dabei um ein möglichst ganzheitliches Verständnis des eigenen Umfelds und seiner Wirkungs-Zusammenhänge, das schließlich in einem belastungsfähigen Solidaritätsgefühl zum Ausdruck kommen sollte. Dinge wie Mittelstand, Steuergerechtigkeit und Korruptionsbekämpfung sind dabei wesentlich, aber auch Breite und Tiefe der technologischen Bildung.

Diese Problematik ist heute extrem aktuell. Mit der Einführung des Euro hat das erfolgsverwöhnte Europa viel zu früh einen gewaltigen Schritt gesetzt und ist dabei auch zu weit gegangen: Die Aufgabe währungspolitischer Differenzierungs-Möglichkeiten hat das Auseinanderklaffen der innereuropäischen Austausch-relationen zementiert; konnten „schwache“ Wirtschaften früher ihre Währungen abwerten, müssen sie nun die Zahl ihrer Beschäftigten abwerten. Hier helfen auch keine Finanztricks, d.h. dass Transferzahlungen nutzlos bleiben und es letztlich zu einem Ausbluten auch der stärksten Euroländer kommt. Es sei dahingestellt, ob hier eine Sanierung ohne einen großen Finanzkrach gelingen kann; Europa wird jedenfalls länger als die längste seiner diversen Legislatur-Perioden darunter zu leiden haben – und dies erklärt auch, warum alle an einer Wiederwahl interessierten Regierungen ihr Heil in bloßem Zeitgewinn suchen. Kurz, auch hier ist auf absehbare Zeit von der Politik keine echte Weichenstellung zu erwarten, und das Ausbluten wird weitergehen – die Heilung ist langwierig und muss „von unten“ kommen.

In den Ländern des europäischen Südens wird sich das erforderliche psycho-soziale Niveau nur einstellen, wenn man dort Überschaubarkeit schafft und auf die subsidiäre Basis voll entwickelter kleinerer Gesellschaften zurückgreifen kann. Diese autonome Grundlage ist dort nur auf dem Papier vorhanden, bzw. kann man viele Symptome für einen stagnierenden, ja oft auch völlig fehlgeleiteten Nachhol-Prozess im Sinne Kohrs finden. Die Eurokrise zeigt ja sowohl mit der Ablehnung einer Transferunion als auch mit der ungebremsten Kapitalflucht aus den südlichen Ländern, wie weit weg Europa heute noch von materiell untermauerten Solidaritätsgefühlen ist. Dabei liegt es nicht so sehr am relativ geringen Pro-Kopf-Einkommen in den südlichen Regionen; vielmehr fehlt dort vor allem der Mittelbau. Neben einigen überdimensionierten und von außen finanzierten „White Elephants“ – geradezu klassisch ist da die Stahl-Industrie im italienischen Mezzogiorno – gibt es zwar viele Kleinbetriebe (meist) im Dienstleistungsbereich, aber zu wenig Produktionsbetriebe mittlerer Größe, viele arbeitslose Akademiker, aber kaum ausgebildete Facharbeiter und Handwerker, eine starke Flucht aus den Dörfern direkt in die gesichtslosen Plattenbauten der Metropolen ¬- aber vorbei an den Bezirksstädten. Dazu trotz übergewichtigem Tourismus wenig Umwelt-Bewusstsein sowie eine teure Wegwerf- statt Reparaturkultur. Und über allem thronen als Gradmesser des fehlenden Sozialverständnisses die siamesischen Zwillinge Extrem-Bürokratismus und Korruption. Konkret haben unter den Euro-Ländern Portugal, und der Süden Spaniens und Italiens die notwendige regionale bzw. nationale Entwicklungsstufe sicher noch nicht abgeschlossen, während Griechenland – wo es bekanntlich nicht einmal Grundbücher gibt – überhaupt erst am Anfang steht. Das heißt, dass diese Länder dem europäischenBinnenmarkt zu einem Zeitpunkt ausgesetzt wurden, als das erforderliche Sozialverständnis noch nicht vorhanden war.

Also ist auch in Europa der einzig logische Weg zur Überwindung negativer terms of trade das Nachholen der psycho-sozialen und technologischen Entwicklung voll entwickelter Staaten. Es müsste dazu deren historische Entwicklung in Eilschritten kopiert werden: Ganz abgehakt können nur die Schritte vom Nomadentum und nackter Subsistenz-Wirtschaft zu dörflichen Gesellschaften werden; für die weiteren Schritte bestehen in Europas Süden schon bei der Entwicklung von Regionen ernste Lücken. Daher hinken auch die weiteren Schritte zu nationalen Volkswirtschaften mit Schwerindustrie und ähnlich komplexen Strukturen, vom gesamt-europäischen Wirtschaftsraum ganz zu schweigen.

Voraussetzung für eine nachhaltige Teilnahme am Binnenmarkt sollte daher die Beschleunigung regionaler Wirtschaftskreisläufe sein; sie müssen dynamischer sein als die nationalen, und diese wiederum intensiver als die kontinentalen Kreisläufe. Wie erwähnt, richtet Finanzhilfe von außen nach Kohrs Überzeugung mehr Schaden als Nutzen an, weil sie die Entwicklung des örtlichen Preisgefüges aus dem Gleichgewicht bringt; sie führt letztlich zu einer Art Neo-Kolonialismus. Auch die Demokratie sollte (im Unterschied zur Rechtsstaatlichkeit) nicht zu früh voll installiert werden, da sonst Konsum-Ausgaben zum Nachteil von Investitionen in die Infra-Struktur vorgezogen werden. Natürlich ist das ein langwieriger Aufhol-Prozess, doch gab Kohr Beispiele, dass selbst der ganze Weg („von der Lehmhütte zum Marmor-Palast“) innerhalb eines Menschenlebens gelingen könne – und Europas Süden muss ja wirklich nicht mit Lehmhütten beginnen.

Leider wird dieser Nachholprozess von zwei Seiten empfindlich gestört: Zum einen durch die europäische Politik der Regional-Entwicklung, die nach wie vor Unsummen in Projekte mit – wenn man Kohr folgt – negativer Entwicklungs-Perspektive steckt. Die Brüsseler Bürokratie scheint ja noch immer zu glauben, dass die globale Wettbewerbsfähigkeit des Südens ohne diesen Stufenbau „über Nacht“ erreicht werden kann. Zum anderen hat Europa auf dem Altar der Globalisierung falsche Opfer gebracht, als es im Interesse von Exporten der Hoch-Technologie die Schleusen für industrielle Billig-Importe geöffnet hat. Damit wurde die industrielle Basis der europäischen Schwellenländer – ein unverzichtbarer Teil ihrer wirtschaftlichen Entwicklung – praktisch aufgegeben. Typisch dafür ist die große portugiesische Textilindustrie, die – etwas überspitzt gesagt – gegen Exporte deutscher Luxus-Autos nach Fern-Ost eingetauscht wurde. Für Portugal gab es als Trostpflaster aus EU-Mitteln offenbar nur viele hundert Autobahn-Kilometer, die bis heute leer geblieben sind.

Schlimm ist es auch, dass die Euro-Krise den Zeitdruck zusätzlich erhöht: Da damit ein offener Diskurs nach Art des „großen Palavers“ verhindert wird, geht nicht nur die Entwicklung tragfähiger Alternativen zur vorherrschenden „Loch-auf-Loch-zu“-Politik verloren; auch der schon erwähnte ethische Vorteil der gewohnten Diskussions-Praxis in der EU kann sich nicht mehr entfalten. Unter Zeitdruck rechnen sich wieder kurzfristige Spielchen, die Größe der EU-Mitgliedsstaaten wird wieder wichtiger als die Kraft sachlicher Argumente.
Bleibt es bei diesen Rahmenbedingungen, so sind die Aussichten, dass sich die Austauschrelationen der Südländer normalisieren, auf viele Jahre hinaus praktisch bei null anzusetzen. Ähnlich düster zu sehen ist die Bereitschaft und Fähigkeit der „Reichen“ in Europa, mit Transferzahlungen dauernd Defizite in den südlichen Leistungsbilanzen auszugleichen. Kurz, die Euro-Zone ist zu einem Fass ohne Boden geworden, und man tut gut daran sich nach Notausgängen umzusehen.

Ausweg: Differenzierung/Beschleunigung regionaler Wirtschafts-Kreisläufe
Die Rettung der Südländer hängt also davon ab, dass sie sich vom Einheitlichkeits-Wahn befreien und ohne äußeren Integrationsdruck zunächst regional bzw. national konsolidieren. Dazu müsste die europäische Integration eigentlich den Rückwärtsgang einlegen: nicht nur die einheitliche Euro-Zone aufgeben, sondern – vorübergehend – auch die europäische Freizügigkeit für Güter, Dienstleistungen und Kapital. Vom rein Wirtschaftlichen her wäre die Europa-Idee damit wohl am Ende.

Zum Glück kann man die gleiche differenzierende Wirkung auch ohne diese Rückschritte erzielen. Fürs erste wäre die Funktion von „Geld“ kreativ zu hinterfragen, darunter besonders die Wiener Volksweisheit „Geld hat kein Mascherl“: Gelänge es etwa, einem Teil des offiziellen Geldes doch noch ein „Mascherl“ umzuhängen, das ihm zusätzlich eine regionale Identität verleiht, so kann man davon ausgehen, dass dieses „Mascherl-Geld“ innerhalb der Region besonders rasch zirkuliert; denn das wirtschaftliche Gedeihen des eigenen Umfelds bringt ja allgemein einsichtige Vorteile – und gerade darauf kommt es bei Ausbildung und Stärkung eines Regional-Bewusstseins an.

Tatsächlich haben sich in Europa Systeme entwickelt, die diesem Grundgedanken eines regionalen „Mascherl-Geldes“ folgen; und zwar sind das die schon besprochenen regionalen Alternativ- bzw. Parallel-Währungen, etwa als Schrumpf-Geld oder in der Form von Gutscheinen. Als Mittel zur Beschleunigung regionaler Wirtschaftskreisläufe haben auch Clearing-Stellen nach Muster der Schweizer WIR-Bank eine ähnliche Wirkung, und gleiches gilt für Tauschkreise, die sich auf Zeit- an Stelle von Geld-Einheiten stützen, und die sharing economy. Ein besonderer Vorteil dieser Systeme ist ihre Unabhängigkeit von der Liquidität des Finanzmarktes, weil darin keine Zinsen anfallen. Aber auch auf Zins-Basis gibt es geeignete Finanzierungsinstrumente für regionale Wirtschaftskreisläufe, etwa in der Form von crowd funding und Mikro-Krediten.

Und tatsächlich kann man beobachten, wie nun auch im Süden Europas Arbeitslose zurück in die Dörfer gehen, spontan Tauschkreise bilden und Regionalwährungen entstehen. Kurz, weil Not erfinderisch macht, besteht fundierte Hoffnung, dass die Südländer sich rasch mit diesem „Mascherl-Geld“ anfreunden und überhaupt auf diese alternativen Finanzierungs-Methoden zurückgreifen – dies nicht zuletzt mit dem Hintergedanken, damit den „bösen Euro-Imperialisten im Norden“ ein Schnippchen schlagen zu können.

Zwar soll man die Kirche im Dorf lassen. Von den – je nach Entwicklungsstand – theoretisch möglichen 30 bis 50% eines regionalen Gesamt-Umsatzes wird anfangs vermutlich nur ein kleiner Teil mit diesem „Mascherl-Geld“ abgewickelt werden, als Katalysator für eine Bewusstseins-Änderung sollte es aber reichen. Man kann ja auch mit normalen Euros regional einkaufen. Wichtig ist, wie erwähnt, die Intensivierung der regionalen Wirtschaftskreisläufe. Und so sollte mit Fortdauer der Eurokrise das „Mascherl-Geld“, hinter dem im Unterschied zum Euro echte Werte und nicht bloße Zahlungsversprechen stehen, die Tauschkreise, die sharing economy etc. selbst in nördlicheren Gegenden Europas mehr Interesse finden..

„Mascherl-Geld“ und ähnliche alternative Instrumente sind auch die geeignete Schiene zur Entwicklung der zivilgesellschaftlichen Region mit ihren schon beschriebenen Strukturen und Arbeitsmethoden. Mit zunehmendem Erfolg wird es dann auch an der Zivilgesellschaft liegen, ob und in welchem Ausmaß sie bereits bestehende verfassungsrechtliche Regionen mit Leben füllen bzw. zu Anpassungen drängen kann. Ihrem Erfolgsrezept der Überschaubarkeit und des breiten demokratischen Zuspruchs wird man sich schwer verschließen können.

Während es also an der Zivilgesellschaft liegt, den Anstoß zur Beschleunigung regionaler Wirtschaftskreisläufe zu geben, so liegt es im Interesse der klassischen Politik, diesen Prozess nach Kräften zu fördern. Sobald sich etwa in den EU-Institutionen der Eindruck verfestigt, dass die total undifferenzierte Wettbewerbsfreiheit und der Euro viel zu früh dekretiert worden sind, sollte es auch einleuchten, die schon bei Gründung der EWG und dann bei EU-Beitritten üblich gewesenen Übergangsbestimmungen zum Schutz nationaler bzw. regionaler Wirtschaftskreisläufe in mehr oder weniger adaptierter Form zeitweilig wieder einzuführen. Auch sonst bietet die Wirtschaftsgeschichte ein reiches Potential an Instrumenten der Regionalförderung in der Form nicht-tarifarischer Maßnahmen. Ihre Schutzwirkung liegt vor allem in der Entschleunigung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen schutzbedürftigen Regionen und dem übrigen Integrationsraum; und das reicht vom mittelalterlichen Stapelrecht bis zu besonderen Registrierungs-Pflichten, wie sie selbst in der EWG noch während der 1970er Jahre vorübergehend eingesetzt wurden. Gelingt es, den herrschenden Einheitlichkeits-Wahn zu durchbrechen und wieder eine angemessene Differenzierung zu schaffen, dann hat letztlich auch der Euro wieder eine solide Zukunft!

Vielen mag die Vorstellung kühn erscheinen, dass der Süden Europas mit Hilfe von regionalen Zahlungs-Systemen und partieller Rücknahme von „Integrations-Fortschritten“ nicht nur überleben, sondern auch seinen Entwicklungs-Rückstand ausgleichen kann. Sie wird aber noch von einer anderen, viel grundsätzlicheren Seite gestützt: Tauschkreise, aber auch Alternativwährungen laufen auf die Stärkung der beschriebenen Eigenwirtschaft hinaus. Sobald die Südländer die verschiedenen Spielarten des „regionalen Mascherl-Geldes“ aufgreifen und sich damit von den vielen Sachzwängen einer anonymen Einheits-Währung befreit haben, werden sie auch die Reize einer intelligenten Eigenversorgung und insbesondere der schon diskutierten Angepassten Technologie E.F. Schumachers (wieder-)entdecken. Die Südländer werden gleich merken, wie diese Technologie

• über Internet kostenlos zugänglich und leicht lernbar ist;
• radikale Kostenersparnis bei Zinsen und Zwischenhandel bringt und damit deutlich billiger produzieren kann;
• von der Entwicklung des Arbeitsmarktes weitgehend unabhängig macht;
• keinen wirklichen Komfort-Verlust mit sich bringen muss;
• vor allem aber: Sie führt zurück zur menschlichen Ur-Freude an Selbst-Geschaffenem und zielt auf das „rundum gute Leben“.

Das Regional-Bewusstsein ist dabei sowohl Nutznießer als auch Förderer dieser Technologie: Die unternehmungslustige Jugend in den Dörfern kann auf Abwanderung in die Großstädte verzichten, weil sie wieder vor der Haustüre erfüllende Arbeit findet, und die Bezirksstädte werden wieder als Marktplatz nicht nur für regionale Waren und Dienstleistungen wiederentdeckt sondern auch für technische und politische Erfahrungen. Keine Überraschung wäre es auch, wenn alternative Energiequellen auf regionaler Grundlage entwickelt würden und überhaupt die Überschaubarkeit des Wirtschaftslebens zu einem nachhaltigen Umweltdenken führt.

Wie schon angedeutet, dürfte es den Südländern ein besonderes Vergnügen bereiten, ihr völliges Ausgeliefert-Sein gegenüber dem Spar-Diktat der Nordländer überwinden zu können – ja, wieder stolz auf neuartige eigene Leistungen zu sein. Schon die ersten Erfolge in dieser Richtung werden daher medial stark zelebriert werden – nicht nur im Süden. Es werden also auch die Nordländer und die Länder außerhalb der Eurozone in Osteuropa die Vorteile von mittlerer Technologie und gestärkten Regionen mitbekommen und zu kopieren suchen. Natürlich wird diese Wiederentdeckung von Selbstversorgung und Gemeinwirtschaft weder Markt-Versorgung noch Finanzwirtschaft ersetzen können; auch Wirtschaftswachstum muss nicht ausgeschlossen werden – freilich in einer neuen Berechnungsmethode, die auch ökologische und soziale Defizite einberechnet.

Die Chancen, dass dieses Wirtschaftssystem rasch aufgegriffen wird, stehen schon deshalb ziemlich günstig, weil damit das – demokratie-politisch höchst gefährliche – Gefühl der Alternativlosigkeit zum jetzigen Casino-Kapitalismus gebrochen werden kann. Hilfreich dürfte auch sein, dass das System der Eigenwirtschaft zwar hauptsächlich auf die Landbevölkerung zugeschnitten zu sein scheint, längerfristig jedoch die Stadtbewohner am meisten davon profitieren werden.

Konkret sollten die entscheidenden Weichenstellungen zur Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe zwar primär in der EU-Regionalpolitik stattfinden, doch gibt es am anderen Ende des Spektrums von EU-Institutionen einen Bereich, von dem besondere Unterstützung ausgehen sollte: nämlich die technische Hilfe der Afrika-Politik. Europa wird nämlich nicht viel länger zuschauen können, wie mehr und mehr Länder Afrikas ihre vielen Arbeitslosen über das Mittelmeer nach Europa ziehen lassen, gleichzeitig aber China, Indien und den USA einen privilegierten Zugriff auf ihre mineralischen und biologischen Rohstoffe erlauben.

Auch in Afrika liegt der Schlüssel zu nachhaltig gedeihlichem Zusammenleben in der Beschleunigung überschaubarer Wirtschaftskreisläufe, also in den schon angesprochenen zivilgesellschaftlichen Regionen; und gerade in seinen schwach entwickelten Gebieten sind bedarfs-orientierte Eigenwirtschaft, Angepasste Technologien für Produktion und Vertrieb, erneuerbare Energien sowie regionales „Mascherl-Geld“ die geeigneten Mittel. Um die Bevölkerung im Land zu halten, steht die Umsetzung dieser Politik freilich unter enormem Zeitdruck, der selbst wieder zu höchster „didaktischer Effizienz“ zwingt – die Regionalisierungs-Strategie muss also so flexibel und überzeugend präsentiert werden, dass sie gerne angenommen und schließlich zum Selbstläufer wird. Das erfordert natürlich zunächst einmal intensive Vorarbeiten auf dem Gebiet der angewandten Forschung und der Medien – und genau davon sollten auch die zivilgesellschaftlichen Regionen Europas profitieren!

So bleibt schließlich der Appell an die Zivilgesellschaft, diese Prozesse nachdrücklich zu beschleunigen. Da die Entwicklung „von unten“ kommen soll, liegt es hauptsächlich an der entsprechenden Bewusstseinsbildung. Hier gilt es zunächst, das schon erwähnte „unbewusste Vorverständnis über Selbstverständlichkeiten“ in der EU so aufzubereiten, dass die hier angeschnittenen Themen zum Allgemeingut öffentlicher Diskussion werden und ihr weiterer Ausschluss von der offiziellen EU-Tagesordnung politisch untragbar wird. So sollten über die klassischen und die neuen Sozialen Medien vor allem die Zusammenhänge zwischen regionalen Wirtschaftskreisläufen, “Mascherl-Geld“, Angepasster Technologie einerseits und der Notwendigkeit der Zurückdrängung des Marktes zugunsten der Eigenwirtschaft andererseits hervorgehoben werden. Weiters muss die klassische Politik gewarnt werden, schon aus Eigeninteresse die Möglichkeiten der regional differenzierten Entwicklung in Europa zumindest nicht zu bremsen; konkret sollten hier vor allem von der engen Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft und dem Europäischen Parlament die richtigen Impulse ausgehen.

 

Rettung aus Süd-Europa?

 

Rundum Düsternis, aber ….
Wer anfangs 2015 in die Medien schaut – das ist der Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben wurden – wird sich schwer tun, nicht in Düsternis zu verfallen: Natur-Katastrophen und immer ärgere Wetter-Extreme künden von der ökologischen Krise unseres Planeten; religions-fundamentalistischer Terror breitet sich weltweit aus; die militärische Noch-immer-Großmacht Russland steht zwar vor der Pleite, führt aber wieder Eroberungskriege; ein immer selbstbewussteres China mischt nicht nur in Asien die Karten neu; Europa verzettelt sich inzwischen in der Eurokrise; während die immer isolationistischere USA im kurzfristigen Vergnügen ihres Fracking-booms glaubt, sich über Schuldenberge und innenpolitische Polarisierung hinwegsetzen zu können. Auch kann man den Medien nicht entnehmen, dass es dem Mammon an den Kragen gehen könnte.

Trotzdem, denke ich an das kommende „Leben im Maß“, so halte ich das Glas eher für halbvoll als halbleer; und im Kampf gegen den Mammon kann man sogar von einer Halbzeit in einer positiven Dynamik sprechen. Natürlich kann noch immer alles schief gehen, aber mein Optimismus hat im Wesentlichen zwei Gründe:
Zum einen gibt es, wie gleich ausgeführt werden soll, genug konkrete Beispiele für die Durchführbarkeit eines „Lebens im Maß“.

Zum anderen beschränkt sich der Mainstream der öffentlichen Diskussion dort, wo es um die Auseinandersetzung mit dem Mammon geht, auf die Anrufung der unheiligen TINA; also die Behauptung, there is no alternative – weder zum neo-liberalen Turbo-Kapitalismus noch zum politischen Einheitlichkeits-Wahn, unter dem die an den Schalthebeln der Macht alt gewordenen Bürokraten leiden. Diese Haltung ist zu borniert und defensiv, um Zukunft haben zu können. Denn wie das schon erwähnte Zitat Peter Druckers sagt, war der Einsatz für Gerechtigkeit und Freiheit schon seit Jahrhunderten die Grundlage westlicher Gesellschaften, ganz besonders auch der Demokratien. Gewinnt aber die Bevölkerung eines Landes den Eindruck, dass ihr Regierungssystem diesen Einsatz nicht mehr ernst nimmt, wird sich dieses System nicht halten können und macht der Totalitarismus leichte Beute – es sei denn, möchte ich hinzufügen, die Bevölkerung kommt zur Überzeugung, dass eine reformierte Demokratie Alternativen bieten kann, die zukunftsfähig, lebenswert und erreichbar sind.

Vordergründig hat sich auch in den von der Krise besonders hart getroffenen Ländern Süd-Europas wenig zum besseren geändert. Die Lage dort ist vor allem für die Jugend deprimierend, man spricht von der „verlorenen Generation“: Kaum Geld für Bildung, entsetzlich hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Aussicht, dass in Zukunft alles noch schlimmer wird. Die jungen Spanier, Portugiesen und Griechen leiden unter der Wirtschaftskrise viel mehr als die ältere Generation, trotzdem treffen die Sparpläne ihrer Regierungen vor allem sie. Und so ist die Wut und der Umfang der jugendlichen Demonstrationen zwar beeindruckend, doch ist offensichtlich, dass die Adressaten der Proteste – neben den Banken sowohl die eigene Regierung als auch die „reichen“ EU-Länder – an der Misere wenig ändern können. Also wer ist da der eigentliche Gegner?

Gewiss, die Lage im Süden ist so arg, dass viele Betroffene in tiefste Resignation, ja Verzweiflung fallen – schließlich zeigt die Erfahrung mit früheren Wirtschaftskrisen, dass sich Langzeit-Arbeitslosigkeit lähmend auf den Menschen legt, weil man dann vor allem an sich selbst verzweifelt. Allerdings ist heute mit Händen zu greifen, dass das aktuelle Wirtschaftssystem – also Mammons globalisierter Turbo-Kapitalismus, der auf immer mehr Arbeitsteilung, fossile Energie und unendliches Wachstum setzt– sich erschöpft hat und völlig ungeeignet ist, zu allgemeiner sozialer Wohlfahrt zu führen. Wenn man weiters sieht, wie viele gut ausgebildete, leistungsfähige und -bereite Menschen von diesem System nicht nur vorübergehend „entsorgt“ werden, und wenn man dann hört, dass das herrschende politische System sich für machtlos erklärt, Oligarchien abzuschaffen und Fairness durchzusetzen, dann sollte der einzelne Arbeitslose wirklich keinen Grund haben, der klassischen Markt-Theorie zu folgen und die Schuld an seiner Misere zuerst bei sich selbst zu suchen. Die Zweifel an diesem System werden noch durch die Einsicht gestärkt, dass eine längere Arbeitslosigkeit das Konsumniveau dauernd beschädigt, weil selbst ein Wiedereinstieg in das traditionelle Arbeitsleben den erlittenen Status-Absturz nicht sanieren kann; die Gesellschaft wird also auf Dauer gespalten. Allerdings gibt es, wie schon ausgeführt, gut objektivierbare Chancen zur Überwindung dieser Situation. Im Folgenden sollen diese Chancen unter dem subjektiven Gesichtspunkt eines gelungenen Lebens nachgezeichnet werden:

Sind schon die lähmenden Selbstzweifel objektiv falsch am Platz, so können die Menschen auf der Schattenseite Süd-Europas tatsächlich auch viel Positives erleben: Der Zusammenhalt in (Groß-)Familie und Nachbarschaft, in den Boom-Jahren gerne bagatellisiert, erweist sich nun als materiell absolut unersetzlich und emotional enorm aufbauend. Daher verlassen nicht wenige Junge nun die Anonymität der Großstädte und ziehen zu ihren Großeltern aufs Land, wo zunächst zumindest das physische Überleben gesichert erscheint. Im Kern steckt darin schon ein in Zukunft wohl immer wichtiger werdendes Element des Guten Lebens: Städter „adoptieren“ einen Bauernhof, dem sie etwa bei Ernte-Arbeiten regelmäßig helfen; sie erhalten dafür in guten wie in schlechten Zeiten vorrangigen Zugang zu den dort erzeugten Lebensmitteln, wo möglich auch Hilfe bei ihrem eigenen urban gardening. Mit anderen Worten: Man besinnt sich wieder mehr auf ein Leben in überschaubaren und nachhaltigen Strukturen und verabschiedet sich vom Konsum-Rausch.

Weiters kann man erwarten, dass viele Leidensgenossen ihre Arbeitslosigkeit nicht als Leer-Zeit sondern als Lehr-Zeit sehen und nach Verarbeitung ihrer krisen-bedingten Schock-Erlebnisse sehr wohl wieder initiativ werden. Schon E.F. Schumacher hat ja bemerkt, dass große Krisen am besten von den Menschen bewältigt werden können, die längere Zeit in Armut überlebt haben – haben sie doch dabei Ausdauer und den schärfsten Blick auf neue Chancen entwickelt 104). So können sie aus ihrem Zusammenleben in der Groß-Familie, wo jeder nach Kräften zum allgemeinen Wohl der Sippe beiträgt, erste Formen bargeldloser Tauschringe erkennen und weiter entwickeln: zuerst durch Tausch von Dienstleistungen, dann auch von selbst erzeugten Gütern. Gestützt auf Handy und Soziale Medien lassen sich diese Tauschkreise dann weit über den Familien-Bereich erweitern. Nächster Schritt ist die Lockerung der Gleichzeitigkeit von getauschten Leistungen und Gegenleistungen: Mit individuellen Gutscheinen oder Punkten kann die Gegenleistung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, das System von Parallel- bzw. Alternativ-Währungen wird flexibler und kann dadurch stärker wachsen – etwa mit Hilfe des schon besprochenen Systems der sharing economy.


104) Diana Schumacher, Small is Beautiful in the 21st Century. The Legacy of E.F. Schumacher, Cambridge 2011.


 

Die Letzten werden die Ersten sein – Konkrete Beispiele:
Und so beschreibt die Wiener „Presse“ im August 2012 eine erste Schwalbe aus dem Süden, die vom Sommer eines Guten Lebens kündet: 105) Im spanischen Higuera de la Serena, wo etwas mehr als 1000 Einwohner leben, ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch, das Dorf zahlungsunfähig. Selbst die Müllabfuhr ist zu teuer. Um Geld zu sparen, kehren die Bewohner ihre Straßen nun selbst, der Bürgermeister machte den Anfang. Bis zu hundert Freiwillige treffen sich regelmäßig auf dem Dorfplatz, um gemeinsam für eine bessere Zukunft des Dorfes zu arbeiten. Wer ein Handwerk gelernt hat, ist besonders gefragt: Sie bessern kaputte Fassaden aus, reparieren Abwasserkanäle, bringen die öffentlichen Sitzbänke in Ordnung – alles unentgeltlich. Dafür wird am Abend mit mitgebrachten tapas und Wein auf dem Dorfplatz fröhlich gefeiert – der lähmende Pessimismus ist offenbar gebrochen, Eisensteins Schenkökonomie lässt grüßen. Nun weiß ich zwar nicht, wie es mit diesem wiedergefundenen Solidaritätsgefühl weiter gegangen ist, aber eines sollte sicher sein: Wenn ein Investor sich mit einem kleinen Betrieb in dieser Gegend ansiedeln will, dann wird er lieber nach Higuera de la Serena gehen und nicht in Nachbar-Dörfer, wo noch immer Trübsal geblasen wird.

Im Folgenden möchte ich einige schöne Beispiele aus Europas Peripherie anführen, über die ich in den letzten Monaten eher zufällig gestolpert bin:
Griechenland wird zwar noch immer von Krisen gebeutelt, doch konnten 2013 bereits 40.000 neue Jungbauern gezählt werden, die nun vorwiegend im hochwertigen Bio-Bereich tätig sind! 106) Wie erwähnt finden dort auch die Alternativ-Währungen wachsenden Zuspruch. Die intensive Beschäftigung mit dieser Materie zeigt schon der griechische Beitrag zur Biennale 2013 in Venedig: Stefanos Tsinopoulos bringt dort im nationalen Pavillon unter dem Titel „Zero Money“ eine höchst gelungene Zusammenstellung weltweiter alternativer


105) „Die Presse“, Wien, 3.8.2012
106) „Weltjournal“ vom 8.1.2014, ORF 2


 

Finanz-Systeme; dies reicht von den Kauri-Muscheln über die brasilianischen „Palmeiras“ oder Favela-Geld bis zum angolanischen Bier-Geld.
Auch in dem von hoher Arbeitslosigkeit belasteten Italien kehren mehr und mehr Menschen zur Landwirtschaft zurück. Im zweiten Quartal 2014 kam es in diesem Bereich bei den Neuanstellungen gegenüber dem Vorquartal zu einem Plus von 5,6 Prozent. In Norditalien betrug dieses Wachstum sogar 27,6 Prozent, teilte das italienische Statistikamt Istat mit. Jede vierte Neuanstellung in der Landwirtschaft entfiel auf unter 40-Jährige.

Die Zahl der Landwirtschaftsunternehmen, die von unter 35jährigen geleitet werden, stieg gegenüber dem Vorquartal um 2,6 Prozent auf 48.620 an. Die Landwirtschaft biete „innovativen Personen Beschäftigungsperspektiven“ und gleichermaßen Möglichkeiten für jene, die nur Saisonarbeit suchten 107), meinte der Präsident des Landwirtschaftsverbandes Coldiretti, Roberto Moncalvo.

Auch das erwähnte Clearing-System der Schweizer WIR-Bank scheint nun südliche Nachahmer zu finden, etwa mit der Verrechnungseinheit des SARDEX auf Sardinien, den in kürzester Zeit – Stand 2013 – über 1600 Unternehmer adoptiert haben 108).

In Portugal ist mir aufgefallen, dass es dort 2013 ein Netzwerk von 28 auf Tauschbasis operierenden Zeitbanken (bancos de tempo) gab 109).

Aus Spanien höre ich, dass von den vielen Tausend Indignados, die als Arbeitslose Monate lang Madrids Plätze besetzt gehalten haben, viele aufs Land gezogen sind und nun in genau den beschriebenen Bereichen arbeiten. Ihre Interessen vertritt offenbar die von Erfolg zu Erfolg eilende neue Partei Podemos.

Schließlich gibt es aus Irland zu berichten, dass dort die Stiftung „Foroige“ in rund 500 Clubs praktische Nachbarschaftsarbeit betreibt. Ihr Ziel ist es, irischen Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren nachmittags mit Klein-Projekten die Übernahme unternehmerischer Verantwortung nahe zu bringen. „Foroige“ ist offenbar so erfolgreich, dass viele Teenager, die in teils schwierigen Lebenssituationen zur Agency  kommen, später mit der Volljährigkeit als Ehrenamtliche wieder mit jüngeren Kindern arbeiten und Familien in Krisensituationen mit ihren


107) http://www.orf.at/#/stories/2244386/
108) Der Standard, Wien, 18. 11.2013
109) http://www.bancodetempo.net/pt/Agencias/7


 

eigenen Erfahrungen beistehen wollen 110). Das ist wohl eine sehr gute Vorbereitung auf ein eigenverantwortliches „Gutes Leben“! Ebenfalls in Irland hat sich 2005 die Stadt Kinsale zur ersten Transition Town erklärt und damit ein weltweites Transition Movement ausgelöst. Solche Transition Communities wollen den Übergang zu einer resilienten autarken Gesellschaft aktiv gestalten. Ihr Ziel ist es, sich aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu lösen und mit einem geringen CO2-Fußabdruck zu leben. Sie selbst sehen sich als „soziales Experiment“ und auf dem Weg des Lernens. Diese Gemeinschaften wollen nicht auf das Handeln von Regierungen, Politikern und anderen Institutionen warten, sondern selbst aktiv werden. Regierungen bräuchten zu lange, Individuen könnten zu wenig ausrichten, als Gemeinschaft „it might be just enough, just in time“.

Alternative Netzwerke wie das Transition Movement verbreiten sich rasch, nicht nur in Südeuropa. Erwähnt sei hier die „Permakultur“, eine in der alternativen Energieversorgung, Landschaftsplanung und Gestaltung sozialer Infrastrukturen tätige Bewegung; 111) dann die hunderte Gemeinden, aber auch Entwicklungs- und Verbraucherorganisationen umfassende europäische Klima-Allianz. Mehr von solchen, auch außer-europäischen Projekten werden im „Zukunftsdossier Alternative Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepte“ des österreichischen Lebensministeriums beschrieben 112).

Hier noch ein Wort zum Osten Europas: Selbst aus Rumänien und Bulgarien sind Tatsachen zu melden, die auf längere Sicht optimistisch stimmen sollten. Zwar leidet dieses Armenhaus Europas unter einem entsetzlichen intellektuellen Aderlass, weil der Großteil der frisch ausgebildeten Ärzte, Ingenieure und sonstigen Spezialkräfte in die reichen EU-Länder abgewandert ist, ihre im Lande gebliebenen Kollegen also nun bei gleich gebliebenen Hungerlöhnen doppelt so viel arbeiten müssen.


110) http://derstandard.at/2000010878875/Karmasin-will-Ehrenamtliche-fuer-Jugendarbeit-gewinnen sowie http://www.foroige.ie
111) http://de.wikipedia.org/wiki/Permakultur
112) http://www.wachstumimwandel.at/wp-content/uploads/WiW-Dossier_Alternative_Wirtschafts_und_Gesellschaftskonzepte_de.pdf


 

Weil aber nach der Wende von 1989 fast die ganze Industrie zusammengebrochen ist und man im Zuge der Rückgabe von früher vergesellschaftetem Eigentum einigen hundert tausend arbeitslos gewordenen Menschen das Häuschen der Großeltern mit einer kleinen Parzelle Land zurückgegeben hat, dürfte sich dort eine zwar besonders kleinteilige, aber arbeits-intensive und daher zukunftsfähige Landwirtschaft entwickeln. Diese sollte schon wegen ihrer Kapital-Armut auf die oben beschriebenen alternativen Wirtschaftsmethoden greifen. Was es jetzt dort braucht ist Ermunterung und Know-how durch die Zivilgesellschaft und (hoffentlich) der offiziellen Europa-Politik.

Kurz, der Weg zu einem „Leben im Maß“ liegt in den Krisenländern in der Luft; die Idee, regionale Wirtschafts-Kreisläufe mit alternativen Mitteln anzutreiben, beginnt sich – langsam – durchzusetzen. Die nächste Etappe gilt wohl Repair-Cafés, der Weiterentwicklung Angepasster Technologien und insbesondere ihrem Zugang zu erneuerbaren Energien, also alles was einen weiteren Schub für die regionalen Wirtschaftskreisläufe erzeugt. Schon das Gefühl, damit dem Herrschafts-Anspruch von offiziellem Geld und staatlicher Politik eins auswischen zu können, ist erhebend und beflügelt weitere Entwicklungen.

Der Zivilgesellschaft in Europa kann es also gelingen, einerseits überschaubare regionale Wirtschaftsräume aufzubauen, die ihre vorrangigen Lebensbedürfnisse lokal abdecken, und andererseits der über-regionalen klassischen Marktwirtschaft zu überlassen, was darüber hinausgeht. Im Zuge dieses Prozesses wird sich früher oder später auch die offizielle Politik aufs Trittbrett schwingen. Sie wird nun behaupten, diese Form von Zivilgesellschaft und Gutem Leben „immer schon“ gewollt zu haben und wird dies mit zahlreichen Deklarationen zur Förderung der Regionen und zum Subsidiaritätsprinzip belegen wollen – gerne darüber hinweg sehend, dass diese Prinzipien bisher nur Papier geblieben sind. Tatsächlich ist die radikale Anwendung des Subsidiaritätsprinzips der wichtigste Zugang der Politik zu Gutem Leben; und tatsächlich wird die Politik in diesem Stadium wieder gebraucht: Denn nun gilt es Reibungsflächen zwischen alternativer Eigenwirtschaft und klassischer Marktwirtschaft zu glätten. Vor allem muss die Politik zentralisierende und unnötig standardisierende Rechtsvorschriften überarbeiten und gegebenenfalls zu Gunsten regionaler Überschaubarkeit ändern oder aufheben. Auch die schon besprochenen Maßnahmen der zeitweiligen Aussetzung europäischer Integrations-Maßnahmen für schutzbedürftige Regionen gehören dazu, wie auch ähnlich fokussierte Maßnahmen der wirtschaftlichen Entschleunigung.

Aber kann der Norden Europas nicht auch diesen Weg gehen? Er hat ja auch viele Arbeitslose! Ja, natürlich könnte dieser zivilgesellschaftliche Weg auch von Hartz-4-Empfängern ausgehen – sie haben dafür aber die schlechteren Startbedingungen: Weil es den „reichen“ Nordländern insgesamt besser geht, wird dort die Notwendigkeit zu einem zivilgesellschaftlich voran getriebenen System-Wechsel insgesamt nicht so stark empfunden. Dazu gehört, dass die soziale Absicherung im Norden hauptsächlich vom Staat kommt und kaum mehr von der (Groß-)Familie; es fehlen hier also wichtige Anfangs-Impulse des Südens.

Diese Einschränkung gilt aber nur für die aufgezeigten ersten Schritte zu Gelungenem Leben. Sobald hier erste Erfolge aus dem Süden bekannt werden, wird man sich gerne die kleine Schar der bisher belächelten Konsum-Verweigerer des Nordens näher anschauen, und ihre alternative Lebensform mit kleinen Selbstversorgungs-Systemen wird plötzlich „in“ sein; und dann wäre es höchst verwunderlich, wenn der Norden das nicht in gewohnter Effizienz weiter entwickeln würde. Allerdings ist der Mammonismus im Zentrum und Norden Europas noch immer stark genug, um seine unmäßige Dominanz noch lange aufrecht halten zu können – trotz aller schönen Vorbilder aus dem Süden. Vor allem der Norden braucht also Anstoß-Erlebnisse. Wie können diese aussehen, und wann kommen sie? Damit komme ich zum Faktor Zeit – er ist auch der Grund, warum ich der „Rettung aus Süd-Europa“ ein Fragezeichen angehängt habe.

 

Halbzeit

 

Der Faktor Zeit, Demokratie und der fehlende Brückenschlag
Vereinfacht gesagt, gelungenes „Leben im Maß“ braucht den Brückenschlag zwischen der vorwiegend kooperativen Regionalwirtschaft und der Marktwirtschaft mit ihrem überregionalen Wettbewerb. Erstere soll die Grundbedürfnisse im nahen Umfeld erfüllen, von Letzterer sollen einerseits die vielen Dinge kommen, die darüber hinaus gehen und das materiellen Leben erst „richtig schön“ machen, andererseits auch viel von der Hardware für die Infrastruktur in den Regionen. In diesem Modell würde klassisches Wirtschaftswachstum langsam auslaufen; wahrscheinliche Verluste der Marktwirtschaft im Konsum-Bereich sollten durch die Investitionen in die Hardware der kooperativen Wirtschaft kompensiert werden können, längerfristig sollten beide Bereiche zu einem guten Fließgleichgewicht finden. Der dazu fällige Brückenschlag hätte mit einem Anstoß-Erlebnis zu beginnen, auf das der öffentliche Diskurs im Norden zu warten scheint. Theoretisch – wenn man auf die Evolutionsgeschichte zurückblickt – sollte diese Entwicklung unvermeidlich sein, früher oder später müsste dann auch die Politik die Notwendigkeit dieses Schrittes erkennen.

Leider kann dieses „früher oder später“ nicht halten, denn uns läuft die Zeit davon. Der Zeitdruck liegt dabei nicht auf der Region und dem kooperativen Prinzip: Selbst wenn es zum worst case eines ökologischen oder kriegerischen Big Bang kommen sollte, werden die (wenigen?) Überlebenden ihre Grundbedürfnisse zweifellos kooperativ und regional stillen – wie in der Steinzeit, die gar nicht so weit zurück zu liegen scheint, wenn ich an das US-amerikanische „let’s bomb them back to stone-age“ des Vietnam-Krieges denke. Anders gesagt: Regionalwirtschaft kann auf den verschiedensten Niveaus funktionieren, steinzeitlich primitiv oder mit höchst entwickelter Raffinesse. Nein, es ist die über-komplex gewordene Marktwirtschaft, der die Zeit davon läuft. Denn mit ihrem Unmaß, das immer mehr Menschen ausgrenzt und ihnen selbst die Erfüllung der Grundbedürfnisse versagt, riskiert sie die Zerstörung ihrer eigenen Basis, und zwar auf der politischen Ebene. Ja, Mammon kann es gelingen, die Polarisierung zwischen Insider und Outsider, zwischen arm und reich noch lange weiter zu treiben; aber je mehr Komplexität in der Marktwirtschaft steckt, desto mehr muss sie auch demokratische Vielfalt zulassen, zumindest formal. Tut sie das nicht, wird der erwähnte Befund Peter Druckers schlagend: Bilder der „Machtergreifung“ aus 1933 werden sich wiederholen, und die Marktwirtschaft wird sich bald auf dem elendigen Niveau afrikanischer Diktaturen wieder finden. Die logische Schlussfolgerung daraus: je früher der Brückenschlag gelingt, desto mehr Marktwirtschaft können wir erhalten.

Ich gebe zu, bis ins Jahr 2014 war ich optimistisch genug, um an das automatische „früher oder später“ des Brückenschlags glauben zu können. Krim-Krise und Ukraine-Krieg, der Horror um Syrien, Irak und ISIS und nicht zuletzt der hundertste Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs – in den die Mächte „wie Schlafwandler“ hineingestolpert sind, wie Christopher Clark überzeugend gezeigt hat – lassen mich fürchten: „Die Politik“ wird die Dringlichkeit dieses Brückenschlags womöglich nicht erkennen, weil Krieg oder der drohende Einsturz demokratischer Strukturen ihr ganz andere Prioritäten aufdrängt.

Es zeigt sich wieder einmal, das Glück scheint oft zum Greifen nahe zu sein, rückt dann jedoch schnell in weite Ferne. Wanderer in den Anden oder im Himalaya erleben das manchmal auf ihren Touren, wenn sie schmalen Karrenwegen folgen, die sich entlang der Hänge des Haupttales langsam zum Pass in die Höhe schrauben, während tief unter ihnen der Fluss in der Felsenschlucht rauscht. Sie kommen dann gelegentlich an Stellen, wo ein Seitental schluchtartig in das Haupttal mündet und der Weg nun in dieses Seitental abbiegt. Denn wegen fehlender Brücken muss der Weg nun praktisch auf der gleichen Höhenlinie bis zum Ende des Seitentals führen, wo der Bach des Seitentals entspringt – und kommt dann auf der anderen Seite des Seitentals zurück bis in Steinwurfnähe der Stelle, wo er vom Haupttal abgebogen ist. Man könnte wie der alte Tantalus laut weinen: Nur wegen der fehlenden kleinen Brücke muss man nun viele Kilometer Umweg in Kauf nehmen oder den steilen Fußpfad zum Boden des Seitentals herunter klettern und dann ebenso steil wieder hinauf – immer hoffend, dass vielleicht doch ein schmaler Steg auftaucht, der diese Mühen abkürzen kann.

In dieser Situation befindet sich heute unsere Gesellschaft auf dem Weg zum „Leben im Maß“: Ohne Brückenschlag müssen wir uns auf entsetzlich mühsame Umwege einstellen, ja können nicht sicher sein, jemals ans Ziel zu kommen.

Small Bang und Resilienz
Im Kampf gegen den Mammon ist für das „Leben im Maß“ jetzt also Halbzeit. „Geschafft“ wurden für das „Leben im Maß“ die notwendigen Modelle, die entsprechenden Pilot-Versuche laufen nicht nur im Süden erfolgreich; „Mammon“ sollte sich nun ernstlich bedrängt fühlen, schon weil ganz offensichtlich eine klare Bevölkerungsmehrheit den Glauben an die Überlegenheit des neo-liberalen Systems aufgegeben hat und sich nach Alternativen umschaut. Nach dem Anpfiff zur zweiten Halbzeit muss „nur noch“ das Zögern der Politik und des Medien-Mainstreams überwunden werden, damit der erwähnte Brückenschlag gelingen kann – aber leider lässt dieser Anpfiff – bzw. das erwähnte „Anstoß-Ereignis“ – auf sich warten, ja könnte sogar wegen höherer Gewalt ganz unterbleiben.

Ich weiß nicht, ob ich mich freuen kann – das Thema ist zu ernst –, aber ich glaube das „Anstoß-Ereignis“ gefunden zu haben. Es ist die Arbeit der „Resilienz-Netzwerke“, die die Risiken aus der extremen Verletzlichkeit unserer hoch-technologischen und intensiv vernetzten Infrastruktur zu minimieren versuchen; etwa dann, wenn in weiten Flächen Europas durch mehrere Tage hindurch kein Strom aus der Steckdose kommt, weil das Elektrizitäts-Netz zusammengebrochen ist – sei es durch Überlastung oder Terror in seiner vielfältigen Form. Pressemeldungen belegen, dass die Eintritts-Wahrscheinlichkeit solcher Blackouts sehr, sehr hoch und die Schäden enorm sind: 113)

Denn wie das Resilienz-Netzwerk Österreich festhält, nehmen „die Instabilitäten im europäischen Stromversorgungssystem… seit Jahren zu… Das alles nehmen wir aber im täglichen Leben selten wahr. Ein großer Stromausfall („Blackout“) wird daher zur Überraschung. Wenn kein Licht mehr geht, kein Handy, kein Internet, keine Heizung, kein Bankomat, keine Tankstelle, keine Kassa und keine U-Bahnen. Wenn Aufzüge einfach stecken bleiben, oder sogar das Wasser aufhört zu rinnen und damit auch keine Toilettenspülungen mehr funktionieren,


113) etwa http://derstandard.at/2000010381467/E-Control-Oesterreichisches-Stromnetz-nicht-vor-NSA-Angriff-sicher und http://www.telegraph.co.uk/news/earth/energy/11311725/Britain-unprepared-for-severe-blackouts-secret-Government..


 

dann ist etwas eingetreten, was viele für unmöglich halten: Unser tägliches Leben ist völlig von der Stromversorgung abhängig. Besonders im städtischen Raum. Und nicht nur das, auch die organisierte Hilfe ist nur mehr schwer erreichbar. Unsere sehr hohe Versorgungssicherheit hat dazu geführt, dass wir uns dessen nur selten bewusst sind. Kaum jemand ist darauf vorbereitet, einige Zeit auch ohne die gewohnte Versorgung und Infrastruktur auszukommen…

Die organisierte Hilfe/die Einsatzorganisationen werden selbst zum Opfer eines solchen Ereignisses und können daher nur bedingt helfen. Ganz zu schweigen, dass mit sehr eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten eine Koordinierung kaum möglich ist, bzw. auf wenige Bereiche beschränkt sein wird. Vorbereitet sein ist daher die sicherste Hilfe! “  114)
Das Netzwerk sagt auch das Wesentliche, was da zu tun ist: „Auf ein solches Szenario muss sich jeder individuell vorbereiten. Das persönliche/familiäre Umfeld ist die wesentliche Basis. Nur wenn dieser Bereich vorbereitet ist, bleiben Ressourcen, um anderen helfen zu können. Etwa in der Nachbarschaft, in Freiwilligenorganisationen oder in Ihrem Unternehmen.“
Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, die vom Resilienz-Netzwerk vorgeschlagenen Einzelmaßnahmen zu diskutieren, doch wird hier deutlich, dass

• ein Small Bang in der Form von Blackouts wahrscheinlich ist (einen Big Bang werden wir kaum überleben);
• wir dann auf unser unmittelbares geographisches bzw. soziales Umfeld zurückgeworfen werden, um unsere Versorgung mit den Grundbedürfnissen selbst auf niedrigstem Niveau sicherstellen zu können;
• Hilfe vorzugsweise im Wege der Kooperation geleistet wird, weil hier auf beständige persönliche Beziehungen zurückgegriffen werden muss – also auf eine „Ökonomie der Verbundenheit“;
• wir das Versorgungsniveau im Katastrophenfall durch vorbeugende Maßnahmen zwar heben können, aber aller Wahrscheinlichkeit weiterhin örtlich bzw. regional gebunden bleiben.


114) http://www.ploetzlichblackout.at/


 

Ob dieser Small Bang nun tatsächlich eintritt oder wir „nur“ vorbeugend tätig werden, er ist das Signal zum erwähnten Brückenschlag: Politik und Medien werden sich nun dafür einsetzen, dass die richtigen Strukturen für die Versorgung der Bevölkerung mit ihren Grundbedürfnissen gesichert sind; und diese Strukturen werden, ja müssen kleinräumig sein, um im Krisenfall funktionieren zu können. Das wäre das Anstoß-Erlebnis, um die zweite Halbzeit im Kampf um ein gelungenes „Leben im Maß“ anzupfeifen; und wie bei der geschilderten Wanderung der Himalaya- und Anden-Trekker würde uns dieser Brückenschlag entsetzlich mühsame Umwege in die Seitentäler der Geschichte ersparen.

Es mag Ansichtssache sein, ob man den erfolgreiche Zug des Mammon zur Macht einem geistigen Phänomen oder „nur“ den erwähnten Zwangsläufigkeiten natürlicher Selbstorganisation zu verdanken hat; aber können nach dem Anpfiff zur zweiten Halbzeit nicht die gleichen Kräfte und Gesetzmäßigkeiten nun auch den „Geist der Verbundenheit“ so weit stärken, dass er die kritische Masse für eine Eigendynamik erreicht? Noch dazu, wo dieser „Geist der Verbundenheit“ mit der Logik der biologischen Evolution übereinstimmt!

Also, auf in die Seminare der Resilienz-Netzwerke!

 

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