Wenn sich das Leben (temporär) entschleunigt
Katharina Klug
Schneller mehr erreichen zu wollen bzw. zu müssen geht mit einer fortwährenden Beschleunigung einher. Insbesondere in Zeiten des persönlichen und gesellschaftlichen Wandels – wie beispiellos in der Corona-Pandemie erkennbar – wollen immer mehr Menschen dieser Entwicklung bewusst etwas entgegensetzen. Eine im Corona-Jahr 2020 von Zukunftsforscher Horst Opaschowski und dem Meinungsforschungsinstitut IPSOS durchgeführten repräsentative Studie zeigt, dass die Menschen (künftig) bescheidener leben und beim Konsumieren und Geldausgeben maßvoller sein wollen (Opaschowski 2020). Hierin verdeutlicht sich nicht zuletzt die zunehmende Reflexion einer immer-schneller-mehr-Zielsetzung, die im sogenannten „Slow Living“ eine Transformation finden kann; die bewusste und selbstbestimmte ENT- (statt BE-) schleunigung der eigenen (Lebens-) Zeit.
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Slow Living als neu- und wieder-entdecktem Lebensstil, der das Konsumleben von Verbrauchern verändert und damit Auswirkungen auf Unternehmerentscheidungen hat. Es wird anhand empirischer Daten gezeigt, welche Dimensionen Slow Living besitzt und welche konkreten Präferenzen sich daraus auf den Lebensalltag der „Slow Life Seeker“ ergeben. Ein Wandel im Konsumverhalten wird dabei nicht ad hoc sichtbar werden. Jedoch ist Slow Living eine Form des (nachhaltigen) Lebens neben einigen anderen (z.B. Precycling/Zero Waste; vgl. Klug/Niemand 2021), die eine gesellschaftlichen Transformation mit Blick auf die Wohlstands- und Konsumwende widerspielt.
Slow Living im Leben von Konsumenten
„Ich habe so viel Stress in meinem Job… das ist wie in einem viel zu schnellen Hamsterrad. Mir bleibt kaum Zeit für mich und ich merke, wie mein Stresslevel gar nicht mehr runtergeht. Hier [im Yogastudio] hab‘ ich Zeit nur für mich und nichts rast an mir vorbei oder auf mich zu. Das ist mir echt wichtig geworden in letzter Zeit. Ich überlege immer öfter, wo ich in meinen Leben generell noch den Speed rausnehmen kann.“ (Alessia)
Die von Alessia angesprochenen Sehnsucht nach Geschwindigkeitsreduktion zeigt sich bei immer mehr Menschen und verdeutlicht eine Google Trends Analyse (https://trends.google.com): Über die letzte Dekade verzeichnen die hier exemplarisch gewählten Suchbegriffe „Yoga“ und „Meditation“ eine kontinuierlich steigende Anzahl an Anfragen in der Suchmaschine Google. Auch Pilgern – zu Fuß über Tage oder Wochen unterwegs zu sein – erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Im Jahr 2019 erwanderten nahezu 350.000 Menschen den berühmten Jakobsweg nach Santiago di Compostella. Seit Beginn der Aufzeichnung der Pilgerzahlen vor 30 Jahren entspricht dies einem Anstieg von 6.000 Prozent (1989: 5760 Pilger; jakobsweg-info.de). Aussteigen aus dem „Hamsterrad von immer mehr Zeitverdichtung und Kontrollverlust über die eigene Lebensgestaltung“ (Buhl et al. 2017, 308) und einem sich rasant beschleunigenden Lebensalltag, um das „Gefühl einer Pause“ zu haben, erscheint vielen Menschen erstrebenswert (Bradley 2009, 20) und wirkt sich langfristig auf ihre Konsumeinstellung und ihr Kaufverhalten aus (Klug 2018).
Eindrucksvoll argumentiert der Soziologe Hartmut Rosa (2005), welche Auswirkungen die rasante Beschleunigung des Lebens auf materieller, sozialer und kultureller Ebene haben, und empfiehlt jedem, „Oasen“ der Entschleunigung als geschützten Raum zu etablieren, in dem die Geschwindigkeit und der Lebensrhythmus (temporär) zur Ruhe kommen. Dabei sind Zwangsentschleunigungen – wie sie beispielsweise in der Corona-Pandemie erlebt werden – nicht gleichzusetzen mit einem entschleunigten Leben (Rosa/Kassel 2020). Vielmehr setzt Slow Living eine bewusste und selbst gewählte Entscheidung für ein entschleunigtes Lebens voraus, um eine positive Transformation für den Einzelnen und die Gesellschaft zu entfalten.
Slow Living ist nicht gleichzusetzen mit permanentem Faulsein, einem Leben in Slow-Motion-Geschwindigkeit oder einer Heroisierung guter alter Zeiten (Perkins/Craig 2006, IV). Slow Living verkörpert einen (wiederentdeckten) Lebensstil, der eine bewusst entschleunigte Lebensgeschwindigkeit in die verschiedenen Bereiche des eigenen Lebens einziehen lässt und mit einem verlangsamten und bewussteren Konsum einhergeht (Kim et al. 2019, 4; Klug 2018 38; Lubowiecki-Vikuk et al. 2021, 97). Slow Living entwickelte sich als ein ganzheitlicher Lebensstil aus der in den 1980er Jahren in Italien initiierten Slow Food-Bewegung heraus und ist begrifflich als Slow Travel, Slow City, Slow Fashion etc. bereits vielerorts in Erscheinung getreten (vgl. hierzu Klug 2018, 39ff.). All diesen Ansätzen ist gemein, dass ein entschleunigtes – ergo langsameres – „Konsumieren“ von Rohstoffen, Energie, Zeit etc. stärker im Mittelpunkt steht, als es derzeit „üblich“ erscheint. Im Kontext des Konsumverhaltens zeigt sich Slow Living als entschleunigt wahrgenommenes Zeiterleben aufgrund verringerter Quantitäten (z.B. Reisedistanzen) und Frequenzen (z.B. Einkaufshäufigkeit), die aus der Veränderung, Anpassung oder Vermeidung individueller Konsumaktivitäten resultieren (Husemann/Eckhardt 2019, 1143). Anders ausgedrückt, das rasant erlebte Vergehen von Zeit verzögert sich für Slow Life Seeker. Ihre (Lebens-)Zeit vergeht selbstbestimmter und wird dadurch für sie zu einer reichhaltigen Ressource.
Transformation von Minimalismus zu Slow Living
Eine eigene Studie unter 227 Konsumenten zwischen 18 und 88 Jahren zeigt, dass Slow Living als Lebensstil in drei Sub-Dimensionen sichtbar wird. Auf Basis von neun Aussagen zum Lebens- und Konsumalltag sind Konsumenten anhand des selbstbestimmten Rückzugs, des freiwilligen Verzicht und des positiven Zeitwahrnehmens als Slow Live Seeker identifizierbar (à Abbildung 1). Personen, die den Aussagen dieser Dimensionen (eher) zustimmen, verfolgen den Slow Living Lebensstil. Ihre Entscheidungen sind geprägt von einem verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen und einer bewussten nachhaltigen Lebensweise.
Die Slow Living-Dimensionen zeigen zudem die enge Verbindung zum Minimalismus bzw. zur Voluntary Simplicity (Klug 2018, 81). Bereits in den 1980 Jahren diskutieren Shema/Wisenblit (1984) und Cowles/Crosby (1986) über die Ausprägungen des Voluntary Simplicity auf materieller (z.B. weniger Dinge besitzen), ökologischer (z.B. sich die Endlichkeit von Ressourcen bewusst machen) und persönlicher (z.B. eigene Wünsche kritisch hinterfragen) Ebene und legten damit eine wertvolle Grundlage für die Transformation zu post-modernen Lebensweisen. Das gezielte „Vereinfachen“ im Sinne von Reduzieren, das auch für Slow Life Seeker zentrale Bedeutung hat, ist demnach kein neues Phänomen. „Weniger“ in Kombination mit „langsamer“ ist heute für immer mehr Menschen jedoch offenkundiger und offensichtlicher – nicht zuletzt befeuert durch Erfolgsfilme wie „Downshift“ im Jahr 2016. Seither erleben inflationär und synonym zur akademisch geprägten Bezeichnung „Voluntary Simplicity“ verwendete Begriffe wie „Minimalismus“, „Downsizing“ oder „Downshifting“ in der Unternehmenspraxis und im CSR-Kontext eine boomende Renaissance.
Die Orientierung von Konsumenten hin zu einem verantwortungsvollen und nachhaltigen (Konsum-)Leben ist heute fragmentierter als vor 30 Jahren. Ergänzend zum etablieren Konzept des Voluntary Simplicity, das vereinfachtes, reduziertes, authentisches, bewusstes Konsumieren propagiert, erweitert das Slow Living-Konzept sich um eine zeitliche bzw. Geschwindigkeitskomponente. Parkins/Craig (2006) folgend konzentrieren sich Voluntary Simplifyer auf ökonomische Aspekte des Lebens und stehen Konsum (eher) ablehnend gegenüber, während Slow Life Seeker durchaus Wohlgefallen an materiellen Dingen finden, einen Schwerpunkt jedoch auf aufmerksames Zeiterleben und bewusstes Zeitnehmen legen, d.h. entschleunigt und (eher) regional konsumieren (Klug 2018, 40). Angesichts der anhaltenden Beschleunigungsdebatte in der modernen Gesellschaft lässt sich Slow Living damit als konsequente Weiterentwicklung des Voluntary Simplicity verstehen, da die Zeit- und (globale) Distanzwahrnehmung dem aktuellen Zeitgeist entsprechend berücksichtigt werden.
Auch die Frage nach den grundlegenden Wertvorstellungen und Präferenzen von Slow Life Seekern gegenüber Non-Slow Life Seekern lässt sich mithilfe der empirischen Daten bestimmen. Demnach zeigen sich klare Differenzierungsmerkmale auf den Orientierungsebenen „WO: bevorzugter Orte“, „WIE: bevorzugte Herangehensweisen“ und „WAS: bevorzugte Themen“ (à Abbildung 2).
Für Unternehmen heißt dies, sich darauf einzustellen, dass eine nicht unerhebliche Zahl an (potentiellen) Konsumenten sich bewusst im privaten Umfeld aufhält und regional agiert (z.B. regionale Reisen und Produkte bevorzugt). Konsumentscheidungen dienen nicht dem Selbst- oder Unterhaltungszweck, sondern werden sehr bewusst und besonnen getroffen. Impulsivität und Erlebnisorientierung stehen Slow Life Seeker vergleichsweise skeptisch gegenüber. Sie wollen an Bestehendes und Bekanntes anknüpfen, um damit eine Balance für sich und für andere (z.B. die Umwelt) zu schaffen.
Fazit
Verbraucher stellen heute höhere Anforderungen an Produkte und Services als noch vor 20 Jahren. Die allerorts betonte Nachhaltigkeit wird ihnen kontinuierlich wichtiger. Aufgrund der verschiedenen Facette (sozial, kulturelle, ökologisch und ökonomisch) und individuellen Interpretationen von Nachhaltigkeit, die den Begriff oft als „Worthülse“ enden lassen (vgl. Reisch/Schmidt 2017, 105), soll hier und im Kontext von Slow Living dem Begriff „Langfristigkeit“ (von Produkten, Entscheidungen, Lebens-/Arbeitsbedingungen etc.) der Vorrang gegeben werden. Er zeigt, dass eine auf lange Sicht (über das eigene Leben hinaus) orientierte – ergo langfristig gedachte – Konsum- und Lebensweise für immer mehr Menschen wie beispielsweise Slow Life Seeker plausibel und wichtig erscheint. Der Corona-induzierte Stillstand des gesellschaftlichen Lebens hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Menschen (sich selbst) hinterfragen, wie schnell die eigene (Lebens-)Zeit vergehen soll und wie viele Aktivitäten und Dinge darin Platz haben dürfen. Der rasant beschleunigende Lebensrhythmus, das zunehmende Tempo und eine allerorts erwartete Unverzüglichkeit provozieren geradezu die Suche nach Sinnhaftigkeit und Bewusstheit vieler Verbraucher. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Slow Living einer unter vielen facettenreichen Lebensstilen ist, der die Konsumwende in Richtung Langfristigkeit andeutet.
Unternehmer und Nachhaltigkeitsmanager, die diese feinen Facetten (schon jetzt) wahrzunehmen vermögen und beispielsweise Slow Life Seeker als dankbare und loyale (Nischen-)Zielgruppe bedienen, können einem veränderten Wohlstandsbegriff und dem Konsumwandel gelassener entgegenblicken.
Prof. Dr. Katharina Klug
lehrt Marketing an der AMD Akademie Mode & Design, Fachbereich Design der Hochschule Fresenius in München.
katharina.klug@amdnet.de
Literatur
Bradley, I. (2009): Pilgrimage: A Spiritual and Cultural Journey, Oxford, UK: Lion Hudson.
Buhl, J.; Schipperges M.; Liedtke C. (2017): Die Ressourcenintensität der Zeit und ihre Bedeutung für nachhaltige Lebensstile. In: Kenning P.; Oehler A.; Reisch L.; Grugel C. (Hrsg.) Verbraucherwissenschaften. Springer Gabler, Wiesbaden. 295-311.
Cowles, D.; Crosby, L.A. (1986): Measure validation in consumer research: A confirmatory factor analysis of the voluntary simplicity lifestyle scale. In R. J. Lutz (eds.), Advances in Consumer Research Vol. (13), 392-397. Provo, UT: Association for Consumer Research.
Husemann, K.C.; Eckhardt, G.M. (2019): Consumer Deceleration, Journal of Consumer Research, 45(6), 1142-1163, https://doi.org/10.1093/jcr/ucy047.
jakobsweg-info.de: http://www.jakobus-info.de/jakobuspilger/statik01.htm (Zugriff 12.03.21)
Kim, M.J.; Lee, C.-K.; Kim, J.S.; Petrick, J.F. (2019): Wellness Pursuit and Slow Life Seeking Behaviors: Moderating Role of Festival Attachment, Sustainability, 11, doi:10.3390/su11072020.
Klug, K. (2018): Vom Nischentrend zum Lebensstil – Der Einfluss des Lebensgefühl auf das Konsumentenverhalten, Wiesbaden: SpringerGabler.
Klug, K.; Niemand, T. (2021): The Lifestyle of Sustainability: Testing a Behavioral Measure of Precycling, Journal of Cleaner Production, in press, https://doi.org/10.1016/j.jclepro.2021.126699.
Lubowiecki-Vikuk, A., Dabrowska, A., Mnachnik, A. 2021. Responsible consumer and lifestyle: Sustainable insights. Sustainable Production and Consumption, 25(Jan), 91-101, https://doi.org/10.1016/j.spc.2020.08.007.
Opaschowski, H. (2020): Die semiglückliche Gesellschaft, Das neue Leben der Deutschen auf dem Weg in die Post-Corona-Zeit. Eine repräsentative Studie, Verlag Barbara Budrich: Leverkusen.
Parkins, W.; Craig, G. (2006): Slow living. Oxford: UK: Berg.
Reisch, L.A.; Schmidt, M. (2017): Nachhaltige Entwicklung. In: Kenning P.; Oehler A.; Reisch L.; Grugel C. (Hrsg.) Verbraucherwissenschaften. Springer Gabler, Wiesbaden. 103-122.
Rosa, H. (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Berlin: Suhrkamp.
Rosa, H.; Kassel, D. (2020): Entschleunigung durch Corona – Warum die neue Langsamkeit nicht entspannt, Deutschlandfunk Kultur, https://www.deutschlandfunkkultur.de/entschleunigung-durch-corona-warum-die-neue-langsamkeit.1008.de.html?dram:article_id=473780, 26. Januar 2021.
Shama, A.; Wisenblit, J. (1984): Values of voluntary simplicity: Lifestyle and motivation. Psychological Reports, 55(1), 231–240.
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