Transformation der Beschäftigung in der Fleischverarbeitung
Frederik Burdorf und Markus Geiger
Im Sommer 2020 sorgten die Schlagzeilen über vermehrte Corona-Ausbrüche in der Fleischindustrie für Aufmerksamkeit. Die Hygienestandards in der Produktion waren ein Grund für die massiven Ausbrüche im Westfälischen und Oldenburger Münsterland. Zudem rückten die prekären Beschäftigungsverhältnisse insbesondere osteuropäischer Arbeitnehmer bezüglich Arbeitszeit, Beschäftigungsschutz und Unterbringung in den Vordergrund der anschließenden gesellschaftspolitischen Debatte.
Forderungen der Gewerkschaftsverbände nach einer tariflichen Bindung und der Abschaffung von Werkverträgen führten im September 2020 zum Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und zur Novelle des Arbeitsschutzkontrollgesetzes. Dieses beinhaltete ein ab dem 1. Januar 2021 geltendes Verbot von Werkverträgen in der Fleischverarbeitungsindustrie und ab dem 1. April 2021 lediglich die Erlaubnis von tariflich gebundener Leiharbeit, die maximal 8 % der Gesamtbelegschaft entsprechen darf. Außerdem wurden Standards für eine lebenswürdigere Unterbringung, einen besseren Arbeitsschutz sowie eine Arbeitszeitkontrolle für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer festgelegt. Eine Pflicht zur digitalen Arbeitszeiterfassung gibt es ebenfalls. Ausgenommen sind Betriebe des Fleischerhandwerks mit weniger als 50 Beschäftigten.
20 Jahre Kampf für ethisch vertretbare Arbeitsstandards
Matthias Brümmer, Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) im Bezirk Oldenburg-Ostfriesland, kämpfte über 20 Jahre mit seiner Gewerkschaft und den Arbeitnehmer:innen in der Fleischindustrie für dieses Gesetz. „Es war ein langer, beschwerlicher und leidvoller Weg, welchen wir als Gewerkschaft und die Arbeitnehmerinnen aus den osteuropäischen EU-Ländern gehen mussten, um einen menschenwürdigen Standard der Beschäftigungsverhältnisse zu erkämpfen“, resümiert Brümmer.
Das CSR MAGAZIN will jungen Autoren eine Stimme geben. In dieser Ausgabe berichten zwei Teams aus dem Masterstudiengang “Transformationsmanagement in ländlichen Räumen” der Universität Vechta über Transformationsprozesse in der Ernährungsindustrie ihrer Region.
Die Geschichte der Leiharbeit in der Fleischverarbeitungsindustrie beginnt mit der Osterweiterung der Europäischen Union. Menschen speziell aus Rumänien und Bulgarien lockte das höhere Lohnniveau in die westeuropäischen Länder. Zunächst war die Arbeit in der Fleischindustrie lediglich durch ein gesetzlich definiertes Kontingentverfahren (max. 6.000 Leiharbeiterinnen und -arbeiter aus Osteuropa) möglich. Der Rahmen wurde allerdings oftmals von Unternehmen via illegaler Schleusungen überschritten. So wurden etwa Verantwortliche des Unternehmens DS-Food, heute Danish Crown, durch Strafprozesse mit Hafturteilen und Geldstrafen sanktioniert. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) reagierte auf den Skandal. Sein Kabinett beschloss 2004 Maßnahmen, welche die Zusammenarbeit für Unternehmen mit osteuropäischen Arbeiter:innen zeitweise verhinderten.
Die bis Anfang 2021 geltende rechtliche Situation beruht auf der 2005 eingeführte 3+3+2 Regelung. „Diese Regelung war aus arbeitsethischer Perspektive eine reine Schweinerei. Sie sorgte dafür, dass ein Rumäne nicht mehr die Möglichkeit hatte, normal in Deutschland arbeiten zu können. Seine arbeitnehmerische Freizügigkeit wurde eingeschränkt und lediglich die Arbeit unter einem Werkvertrag war erlaubt, was die Industrie schamlos bis heute ausgenutzt hat“, sagt Matthias Brümmer. So sei es zu einer Etablierung von prekärsten Beschäftigungsverhältnissen gekommen. Dies bestätigte der ehemalige rumänische Leiharbeiter Mihai A. gegenüber den Autoren: er musste teilweise 15-Stunden-Schichten absolvieren.
Für Arztbesuche, Behördengänge und Arbeitsschutz fühlte sich die Industrie, laut Brummer, nicht zuständig: „Wer krank wurde oder einfach auch aufgrund der hohen körperlichen Belastung Urlaub haben wollte und deshalb sich mit seinen Wünschen an das Unternehmen wendete, wurde abgewiesen, meist fristlos gekündigt und konnte sehen, wo er blieb. Die Menschen haben dann teilweise übergangsweise in Wäldern geschlafen.“ Die Wohnungen bestanden zum Teil aus Bauruinen und kleinen Baracken, in denen die osteuropäischen Arbeiter:innen in Kohorten, dann eventuell auch mit Familiennachzug, hausten und zusätzlich überteuerte Mieten aufbringen mussten. „Arbeitszeiten von 14 bis 15 Stunden, 12 Mann in einem 6-Bettzimmer, organisiert – ein Bett wurde geteilt – wie im U-Boot“, so beschreibt Brümmer den Alltag dieser ausländischen Beschäftigten in deutschen Schlachtbetrieben.
Es geht auch anders
Bereits vor der Gesetzesreform gab es Unternehmen in der Branche, die einen anderen Weg gingen. Eines davon ist Böseler Goldschmaus aus Garrel im Oldenburger Münsterland. Das Unternehmen wandelte 2017 Werkverträge in feste Anstellungsverhältnisse um – ohne gesetzlichen Druck und aus eigener Motivation. Goldschmaus übernahm die Verantwortung für seine Mitarbeiter und kündigte Werkverträgen mit Subunternehmen. Eine Entscheidung, die mit der neuen Gesetzeslage auf alle Unternehmen der Fleischverarbeitung zukommt. Goldschmaus schlachtet pro Jahr 1,7 Mio. Schweine und hat über 1.500 Mitarbeitende. Im Lebensmitteleinzelhandel sind die Goldschmaus-Produkte in der Frischetheke sowie als SB-Ware im Kühlregal zu finden.
Gerald Otto, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit des Unternehmens, nennt als Gründe für die Umstrukturierung den gesellschaftlichen Druck und vor allem die Mitarbeiterbindung und deren Identifikation mit dem Unternehmen. Goldschmaus gab sich den Slogan “eine Gemeinschaft, die Goldwert ist” und wollte nicht nur Worthülsen von sich geben. Die Umsetzung war eine große Herausforderung: Innerhalb von acht Monaten wurden 600 Mitarbeiter:innen übernommen, sodass sich und der Personalbestand verdoppelte.
Ein weiterer Fokus wurde auf die Wohnsituation gelegt und in eigenen Wohnraum – insbesondere für die osteuropäischen Mitarbeitenden – investiert.
Eine weitere zentraler Herausforderung war die Sprache: Sowohl die größtenteils rumänischen Mitarbeitenden als auch die deutschsprachigen Mitarbeitenden des Qualitätsmanagements und der Betriebsleitung erhielten und nutzten das Angebot, sowohl Deutsch- als auch Rumänisch-Kurse zu besuchen. Außerdem werden Mitarbeitende mit einem Dolmetscher zum Arzt oder Behördengängen begleitet. Langfristig ist es das Ziel, die Mitarbeiter:innen zu integrieren, ihnen eine Perspektive zu bieten und sie langfristig ans Unternehmen zu binden. „Die Mitarbeiter haben das schon sehr gut aufgenommen und sind auch zufrieden damit, dass wir sie fest angestellt haben”, erzählt Gerald Otto.
Das Unternehmen bekommt trotz der Umstellung nicht mehr Geld für sein Fleisch. Es ermöglicht ihm aber einen anderen Marktzugang. Vermehrt achten die Kund:innen auch darauf, wie mit den Mitarbeitenden eines Anbieters umgegangen wird.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die gesetzliche Einführung eines Mindestlohns diese Entwicklung erst ermöglicht hat. Goldschmaus sah sich zuvor aufgrund der Situation im Wettbewerb zur Nutzung von Werkverträgen gezwungen. „Wir verloren Wettbewerbsfähigkeit und mussten deshalb gezwungenermaßen Werkverträge einführen. Erst durch die Einführung des Mindestlohns hatte man eine Basis, mit der man im Wettbewerb bestehen kann und trotzdem nicht auf Werkverträge setzen muss”, so Otto. Bezahlt werden die Mitarbeitenden heute nach einem betriebseigenen Lohnsystem. In dem Unternehmen gibt es keine Betriebsräte, keinen Tarifvertrag und keine Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft NGG.
Neue Herausforderungen
Böseler Goldschmaus hat in seiner Transformation der Beschäftigungsverhältnisse viele Punkte des neuen Gesetzes vorweggenommen. Das Arbeitsschutzkontrollgesetz in der Fleischindustrie bürdet nun allen Unternehmen mehr Verantwortung für die Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Mitarbeitenden auf. Für Gewerkschafter Brümmer erweist sich das Gesetz als weitgehend immun gegen unmoralische, aber gesetzlich legale Schlupflöcher. Gegriffen habe die Regelung etwa, als das Unternehmen Tönnies das Kooperationsverbot mit der Gründung von 20 eigenen GmbHs umgehen wollte. „Das Gesetz hat klargemacht, dass, wer Menschen über jeden Preis ausbeuten möchte, sich unter solchen Bedingungen nicht Arbeitgeber nennen darf“, so Brümmer.
Allerdings wird, wie das Beispiel Böseler Goldschmaus aufzeigt, die Umstrukturierung der Beschäftigungsverhältnisse neue Herausforderungen mit sich bringen. Unternehmen müssen ihren Personalstamm erweitern und Dolmetschernetzwerke aufbauen. Viele der 20.000 osteuropäischen Beschäftigten der Fleischindustrie im Oldenburger Münsterland werden sich dauerhaft mit ihren Familien in der Region niederlassen. Unklar bleibt, inwieweit die Region und ihre Unternehmen darauf vorbereitet sind. Eine Desintegration kann zu neuem Konfliktpotential führen. Durch die sozialräumliche Konzentration von Rumän:innen in Garrel in den neu errichteten Arbeitervierteln des Werks droht eine Isolation und sozialräumliche Segregation dieser Menschen.
Matthias Brümmer ist dieses Problem bewusst und er appelliert an die politischen Akteure, dieses Risiko im Auge zu behalten: „Es müssen Baugesetze angepasst und reformiert werden. Eine Durchmischung der gesellschaftlichen Gruppen und eine diverse Quartierskultur muss von der Planung berücksichtigt werden.“
Fraglich ist zudem, ob die beschlossene Mindestkontrollquote zur Durchsetzung des Gesetzes ausreicht und ob der auf 30.000 Euro verdoppelte Bußgeldrahmen abschreckend wirkt.
Fleischindustrie nur der Anfang?
Werkverträge in der Fleischindustrie gehören durch das Arbeitsschutzkontrollgesetz nun der Vergangenheit an. Wieso eigentlich nur in der Fleischindustrie? Laut NGG stammten lediglich 10 % der bundesweit geltenden Werkverträge aus dieser Branche, die durch Corona- Ausbrüche in den Schlachthöfen in den Fokus der Öffentlichkeit geriet. Für Gerald Otto von Goldschmaus ist es unfair, sich nur die Fleischindustrie herauszupicken und dort für Regelungen zu sorgen, die in anderen Branchen nicht zum Tragen kommen. Das Modell der Werkverträge hat auch im Obst- und Gemüsebau, im Paketzustellerbereich, in der Süßwarenindustrie oder in Brauereien Schule gemacht – mit ähnlichen Problematiken wie in der Fleischindustrie. „Der Druck wird steigen“, sagt Matthias Brümmer, „diese asozialen Arbeitsverhältnisse müssen beendet werden.”
Das neue Gesetz sendet ein wichtiges Zeichen an andere Branchen: Unternehmen müssen endlich Verantwortung für ihr Handeln – auch gegenüber Mitarbeitenden – übernehmen. Die Gewinnmaximierung als einziges unternehmerisches Ziel stößt in immer weiteren Kreisen der Gesellschaft auf Widerstand. Die Novellierung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes zeigt, dass gesellschaftlicher Druck politisches Handeln bewirken kann.
Frederik Burdorf und Markus Geiger
studieren im Master “Transformationsmanagement in ländlichen Räumen” an der Universität Vechta
trm.vechta@gmail.com
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