Vertagte Familienfeste und abgesagte Spendenläufe
Birthe Tahmaz
Jede dritte Bürger:in in Deutschland ist ehrenamtlich aktiv, (1) von den ca. 600.000 Vereinen werden die meisten (72 Prozent) auf rein ehrenamtlicher Basis geführt: Zivilgesellschaftliches Engagement fußt auf einer breiten Grundlage von Bürgerinnen und Bürgern, die durch ihre Vereinsmitgliedschaft, Engagement in Kulturfördereinrichtungen oder auch spontaner Nachbarschaftshilfe am gesellschaftlichen Gestaltungsprozess aktiv partizipieren. Es waren und es sind die in der Coronakrise aktiven Engagierten, die wissen: Was wird vor Ort gebraucht? Wo schwindet die Akzeptanz für die pandemiebedingten Einschränkungen – und warum? Eine Wertschätzung des gemeinnützigen Engagements für die besonderen Leistungen in der Coronakrise bleibt allerdings überwiegend aus. Dabei ist die organisierte Zivilgesellschaft gerade jetzt besonders gefordert: Vereine müssen nicht nur die Mehrzahl bisheriger Angebote in digitale Räume transferieren, sondern zugleich finanzielle Lücken füllen und weitere Menschen für ein Engagement gewinnen, das sich sonst auf immer weniger werdende Schultern verteilen würde.
Im November 2020 befragte ZiviZ im Stifterverband 685 Organisationen zu ihrer Lage in der Pandemie. Im Kontext von Engagemententwicklung, finanzielle Situation und Digitalisierung führt der folgende Beitrag aus, was die Zahlen zur aktuellen Lage sagen. (2)
Nachlassende Bereitschaft zu helfendem Engagement
Vor Beginn der Pandemie gab es eindeutige Zeichen einer wachsenden Zivilgesellschaft. So wies der ZiviZ-Survey 2017 auf, dass es 2016 mehr gemeinnützige Organisationen gab als noch im Jahre 2012 und dass auch ihre Größe gestiegen war. (3) Mit Fortschreiten der Pandemie kehrt sich dieser Trend nun um. Durch die pandemiebedingten Einschränkungen können viele Ehrenamtliche ihre Besuche und Angebote nicht fortführen. Die Arbeit in den Vereinsheimen und Hauptgeschäftsstellen muss von wenigen Führungskräften geschultert werden. Schwindet die Zahl der Engagierten und Mitglieder weiter, wird es schwieriger werden, gesellschaftlichen Zusammenhalt über zivilgesellschaftliches Engagement zu stützen und die Bedeutung ehrenamtlicher Arbeit gerät in den Hintergrund. Wert und Attraktivität des Ehrenamts werden durch die zunehmende Notwendigkeit hauptamtlich Tätiger schwer zu halten sein, Strukturen verhärten sich, eine zivilgesellschaftliche Sklerose droht.
Als ein erster Lockdown im Frühjahr 2020 beschlossen wurde, löste der Stillstand des öffentlichen Lebens und Rückzug ins Private eine Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft aus. (4) Die Atmosphäre im Frühjahr stimmte zuversichtlich, dass sich diese hohe Engagementbereitschaft über die kommenden Monate hinaustragen werde und vielleicht sogar weitere Menschen zu einem dauerhaften Engagement motivieren könnte. Im November 2020 vermeldete jedoch nur einer von vier Befragten viele aktive Engagierte in seiner Organisation. Für fast jeden Zweiten war diese Aussage hingegen nicht zutreffend (siehe Abbildung 1). 17 Prozent der befragten Organisationen gaben an, dass es bedingt durch die Coronakrise zur Kündigung von Mitgliedschaften käme.
Rechnete man die Zahl der Organisationen, die pandemiebedingte Kündigungen von Mitgliedschaften verzeichnen, auf die Gesamtzahl von ca. 600.000 Vereinen in Deutschland, so wären knapp 100.000 bereits in ganz Deutschland betroffen. Es gilt abzuwarten, wie sich dieses Phänomen in den weiteren Wochen entwickelt. Viele Bürgerinnen und Bürger wurden im Januar aufgefordert ihre Mitgliedschaftsbeiträge für das aktuelle Jahr zu überweisen. Diese Bitte wird nach über acht Wochen im Lockdown wohl mit anderen Augen betrachtet werden.
Verminderte finanzielle Spielräume der Organisationen
Vertagte Familienfeste, abgesagte Spendenläufe, Angebote, die ein physisches Zusammenkommen voraussetzen, sie alle haben zu teils erheblichen Einnahmeausfällen geführt. Bund und Länder haben daher in den vergangenen Monaten für zivilgesellschaftliche Organisationen Programme erarbeitet, mit denen finanzielle Engpässe abgefedert werden sollen. Vereine und andere können dort Fördergelder für ihre Bedarfe beantragen, diese Einmalzahlungen befinden sich zumeist im sechsstelligen Bereich. Die Soforthilfeprogramme sind eine wichtige Initiative. Sie können jedoch nur bestehende Liquiditätsengpässe abmildern und erreichen nicht alle Organisationen. Um längerfristig Projekte und Angebote planen zu können, ist eine gewisse – zumindest mehrmonatige – finanzielle Planbarkeit Voraussetzung, dies gilt sowohl für die Angebote als auch für die Personen, die diese konzipieren und umsetzen. Wachsende finanzielle Unsicherheit in einem ohnehin von Kurzfristig- und Freiwilligkeit geprägten Sektor drängen zivilgesellschaftliches Engagement in einen zunehmenden prekären Zustand.
Bereits während des ersten Lockdowns nahmen viele der befragten Verbände und Infrastruktureinrichtungen einen teils erheblichen Ausfall der bisherigen Finanzierungsquellen wahr. (5) Dieser Trend bestätigte sich im November. Demnach vermeldeten 82 Prozent der Befragten einen Rückgang der selbsterwirtschafteten Mittel, 23 Prozent verzeichneten diesen auch hinsichtlich der Mitgliedschaftsgebühre.
Zudem verschärfen durch die Coronakrise verursachte Mehrausgaben die finanzielle Situation. So können Veranstaltungen nur stattfinden, wenn größere Räumlichkeiten angemietet und Spukschutzvorrichtungen gekauft werden. Routinesitzungen oder auch Beratungsgespräche erfordern es, deutlich häufiger als üblich benötigte Räume intensiv zu reinigen. Die Umstellung der meisten Tätigkeiten in den digitalen Raum verursachen zusätzliche Kosten. Während jede vierte der im November befragten Organisationen angab, keine zusätzlichen Mehrkosten zu haben, vermeldeten die restlichen Organisationen Zusatzausgaben vor allem durch Hygienekonzepte für die alltäglichen Tätigkeiten mit den Zielgruppen (43 Prozent) oder für den organisationsinternen Alltag (36 Prozent). 43 Prozent unter ihnen gaben an, dass die notwendigen Maßnahmen zur Digitalisierung der bisherigen Arbeitsabläufe Grund der Mehrkosten seien. Für 41 Prozent verursachen zudem notwendige Hygienekonzepte für Veranstaltungen diese Zusatzausgaben.
Digitaler Strukturwandel, fehlende wirksame Beratungsangebote
Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung der Zivilgesellschaft forciert. Digitale Anwendungen können zwar nur bedingt die Einschränkungen des öffentlichen Lebens ausgleichen, machen es jedoch möglich, dass bürgerschaftliches Engagement fortgeführt werden kann. 55 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass durch die Krise getriebene digitale Anwendungen den gemeinnützigen Bereich dauerhaft verändern werden. (6) Für ein erfolgreiches Gelingen müssen die Organisationen vorallem ihre Kompetenz in digitalem Know-How ausbauen und sich mit adäquaten Geräten ausstatten.
Eine gute Beratung ist dafür ein wichtiger Gelingensfaktor. Für die organisierte Zivilgesellschaft sind informelle Beratungsmöglichkeiten dabei eine wichtige Wissensquelle, wenn Probleme und Fragen aufkommen: Bisher verließen sich 62 Prozent auf die Hilfe von Personen in privaten Netzwerken. 22 Prozent nutzten ihre Kontakte mit lokalen Unternehmen. Infrastruktureinrichtung und Verbände bieten auch Beratung an, jedoch scheint dieses Angebot unzureichend bekannt zu sein, da sie seltener wahrgenommen werden: 28 Prozent der befragten Organisationen gaben an die Beratungsangebote ihres Verbandes zu nutzen. Lediglich vier Prozent suchten sich Hilfe bei Freiwilligenagenturen oder engagementfördernden Einrichtungen.
Fazit und Empfehlungen
Die Corona-Pandemie und die politischen Gegenmaßnahmen lassen das zivilgesellschaftliche Engagement nicht unberührt. Einerseits wurden viele Bürgerinnen und Bürger während des ersten sogenannten Lockdowns im Frühjahr 2020 spontan aktiv und brachten sich in ihrer Nachbarschaft und Gemeinde ein. Andererseits beschneiden die Einschränkungen des öffentlichen Lebens die Handlungsmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Organisationen. Schwindendes Engagement, eine sich zuspitzende Verknappung der finanziellen Ressourcen und ein Digitalisierungsprozess mit viel Beratungsbedarf legen einen Schatten auf optimistische Zukunftszenarien. Es gibt jedoch Möglichkeiten, wie die Organisationen und ihre Engagierten in dieser fordernden Zeit unterstützt werden können, zum Beispiel:
- Anerkennung des Werts gemeinnützigen ehrenamtlichen Engagements in der Öffentlichkeit und Ermutigung der Bürgerinnen und Bürger für ein dauerhaftes Engagegement und die Übernahme von Verantwortung für die Gemeinschaft
- Wertvolle digitale Expertise der Unternehmen, zum Beispiel im Rahmen von Corporate Volunteering-Aktivitäten, mit zivilgesellschaftlichen Organisationen teilen
- Unterstützung der Organisationen durch Berücksichtigung der Mehrausgaben für Digitalisierungsmaßnahmen von Staat und Unternehmen.
- Formelle Beratungsangebote im Bereich des digitalen Arbeitens auf ihre Wirksamkeit und Reichweite überprüfen
Dr. Birthe Tahmaz
ist Sozialwissenschaftlerin und Projektleiterin ZiviZ gGmbH im Stifterverband
birthe.tahmaz@stifterverband.de
Anmerkungen
(1) Siehe Simonson Julia; Vogel, Claudia; Tesch-Römer, Clemens (Hg.) (2017): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden: Springer VS.
(2) Sämtliche Auswertungen der aktuellen und früheren Befragungen können abgerufen werden auf www.ziviz.de/corona
(3) Priemer, Jana; Krimmer, Holger; Labigne, Anaël (2017): ZiviZ-Survey 2017. Viel-falt verstehen. Zusammenhalt stärken. Hg. v. ZiviZ im Stifterverband. Berlin.
(4) Krimmer, Holger; Bork, Magdalena; Markowski, Lydia; Gorke, Johanna (2020): Die Lage des freiwilligen Engagements in der ersten Phase der Corona-Krise. Lokal kreativ, finanziell unter Druck, digital herausgefordert. Hg. v. ZiviZ im Stifterverband. Berlin.
(5) Ibid.
(6) Hoff et al. (2020).
Über das Engagement-Barometer
ZiviZ befragt in einem Panel Führungskräfte von Verbänden und Infrastruktureinrichtungen sowie Organisationen der Zivilgesellschaft zur Situation von Vereinen und anderen Organisationen während der Corona-Pandemie.
Was wir wissen wollen:
- Welchen Schaden verursacht die sogenannte Coronakrise in der Zivilgesellschaft?
- Wie trägt die Zivilgesellschaft zur Krisenbewältigung bei?
- Wie verändern sich krisenbedingt Formen der Zusammenarbeit im Engagement?
- Welche Potenziale digitaler Techniken werden mit welchem Nutzen vermehrt genutzt?
Bisher durchgeführte Erhebungen:
- April 2020: leitfadengestützte Experteninterviews unter 45 Stakeholdern
- August 2020: quantitative Stakeholderbefragung (n=135, Rücklaufquote 44,4 Prozent, entspricht 60 realisierten Fragebögen)
- November 2020: quantitative Befragung unter Stakeholdern sowie lokalen Organisationen (n=4192, Rücklaufquote 16,3 Prozent, entspricht 685 realisierten Fragebögen)
Die Zielgruppe:
- 66 Führungskräfte aus Infrastruktureinrichtungen sowie Landes- und Bundesverbänden gemeinnütziger Organisationen
- Seit der zweiten quantitativen Befragung zudem 619 zivilgesellschaftliche Organisationen
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