Wert-Netzwerken statt Lieferkettenmanagement

Annika Martens und Johannes Hogg

Kaffeebohnen (Foto: Rodrigo Flores auf Unsplash)

Nach langem und zähem Ringen hat sich die Bundesregierung gegen Ende ihrer Legislaturperiode auf ein Lieferkettengesetz verständigen können. Die drei beteiligten Ministerien  (1) wollen damit deutsche Unternehmen in die Pflicht nehmen, Umweltstandards und Menschrechte entlang ihrer Lieferketten einzuhalten. Am 3. März 2021 wurde der Gesetzentwurf schließlich durch das Bundeskabinett verabschiedet (2). Auf dieser Basis werden in dem vorliegenden Text zwei Denkansätze vorgestellt, die das neue gesetzliche Regulative aufgreifen und vor dem Hintergrund der Fragestellung, welche künftigen Entwicklungen die Diskussion um das Lieferkettenmanagement nehmen könnte, ergänzen.

Ab 2023 soll das neue Lieferkettengesetz stufenweise in Kraft treten. Zunächst gilt es für deutsche Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeiter:innen (ca. 600 Unternehmen), ein Jahr später dann auch für Unternehmen mit 1.000 Mitarbeiter:innen, wovon ca. 2.900 Unternehmen betroffen wären. Es soll dann im Jahr 2024 eine Überprüfung des Anwendungsbereiches des Lieferkettengesetzes erfolgen.

Die vier zentralen Punkte des neuen Gesetzes sind:

  • Anforderungen an die unternehmerischen Sorgfaltspflichten;
  • Verantwortungsübernahme für die gesamte Lieferkette mit einer Sorgfaltspflicht von dem Rohstoff bis zum Produkt, einer abgestuften Anforderung an Unternehmen je nach Einflussgrad und dem Postulat, bei klaren Hinweisen auf Menschenrechtsverletzungen tätig werden zu müssen;
  • eine externe Überprüfung der Unternehmensberichte und der eingereichten Beschwerden durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle;
  • die Gewährleistung eines besseren Schutzes der Menschenrechte durch die Beschwerdemöglichkeit beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle und die Geltendmachung bei deutschen Gerichten. (3)

Bei der Entwicklung des Gesetzes mussten mehrere Kompromisse eingegangen werden, welche Gegenstand vieler kontroverser Diskussionen waren. Die Kritik bezieht sich hauptsächlich auf die Reichweite, den Umfang und die Durchsetzungsstärke des Gesetzes.

Bezüglich der Reichweite müssen die betroffenen Unternehmen die Einhaltung des Gesetzes lediglich für den eigenen Betrieb als auch für die unmittelbaren Zulieferer garantieren. Nur wenn bei den mittelbaren Zulieferern Verstöße bekannt werden, müssen diese Verstöße unverzüglich überprüft und sollen folglich abgestellt werden.

Bezüglich des Umfangs ist die Orientierung an einem staatlichen Mindestlohn und nicht an existenzsichernden Löhnen zu kritisieren, zwischen welchen häufig große finanzielle Differenzen vorliegen. (4)

Des Weiteren liegt der Fokus beim Umfang klar auf dem Thema Menschenrechte und weniger auf Umweltstandards. Der Schutz der Umwelt findet im Gesetz nur Raum, solange die unmittelbare menschliche Gesundheit und damit das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit betroffen ist (z. B. Verbot der Herstellung von mit Quecksilber versetzten Produkten). Dieser Umstand ist auch ursächlich für die Namensänderung: weg von einem Lieferkettengesetz hin zu einem Sorgfaltspflichtengesetz.

Auch in Bezug auf die Durchsetzungsstärke wurde Kritik laut, wonach das Gesetz restriktiver ausgestattet hätte werden können. So beinhaltet das Sorgfaltspflichtengesetz nur eine Bemühungspflicht der Unternehmen, aber keine Garantie- oder Erfolgspflicht.

Ganzheitliche Verantwortung: vor-, nach- und seitgelagert

Dieser sehr lange und von vielen Kontroversen begleitete Entwicklungsprozess des Sorgfaltspflichtengesetzes zeigt, wie schwierig es war, das Thema Verantwortung in ein Gesetz zu überführen, das branchenübergreifend Anwendung erfahren kann. Es musste ein Ansatzpunkt gefunden werden, Verantwortung einzufordern und in die Lieferketten national wie international weiterzutragen. Hierbei spielen die einzelnen deutschen Unternehmen eine zentrale Rolle: Sie haben die nötigen Einflussmöglichkeiten auf Zulieferer, um diese zu mehr Verantwortung zu führen.

Bei diesem klassischen Single Supply-Chain-Ansatz, denkt und agiert jedes Unternehmen vorgelagert entlang seiner Lieferkette. Dieser wird dabei traditionell firmenzentrisch aus der Herstellerperspektive gedacht und als ein lineares, eher statisches Einwegmodell von Beschaffung, Produktion und Verbrauch verstanden. Es liegt demnach ein Top-down-Ansatz vor, welcher zum einen eine ungleiche Verteilung von Macht offenbart und zum anderen aufzeigt, wie eindimensional Verantwortung eingefordert wird.

Unternehmen haben jedoch nicht nur die Möglichkeit ihren Einfluss vorgelagert auszuüben, sondern natürlich auch nach- bzw. zu Kooperations- und Bündnispartnern seitgelagert. Die Norm ISO 26000 spricht in diesem Zusammenhang von einer de facto Kontrolle, wonach Organisationen nicht nur für die eigenen Auswirkungen von Entscheidungen und Aktivitäten verantwortlich sind, sondern auch für die Dritter, sofern sie die Möglichkeit haben, das Verhalten von Organisationen, mit denen sie in einer Beziehung stehen, zu beeinflussen (5).

Hier wird deutlich, dass – wie bei allen Themen der Nachhaltigkeit – nicht in linearen Ketten, sondern in Kreisläufen und Netzwerken gedacht werden muss. Je nach Position des Unternehmens im Wertnetzwerk mag die nach- bzw. seitgelagerte Verantwortungsübernahme unterschiedlich aussehen und demnach unterschiedliche Instrumente erforderlich machen: Von einer reinen Aufklärung (z.B. beim Endkunden bezogen auf die Nachhaltigkeit von Produkten/Dienstleistungen) bis hin zur Voraussetzung für künftige Kooperationen oder Geschäftsbeziehungen.

Was sehr komplex und ein wenig theoretisch klingt, mag mit einem Satz auf den Punkt gebracht werden: Die Unternehmen, die sich dem Thema ernsthaft annehmen und versuchen Nachhaltigkeit ganzheitlich zu begreifen und umzusetzen, werden nicht vor der eigenen Haustür damit aufhören, sondern gemäß ihrer intrinsischen Überzeugung und ihres ausgeprägten und gelebten Leitbildes auch nur mit ähnlich Gesinnten kooperieren.

Neben Kooperationen und Geschäftsbeziehungen mit Partnern ähnlicher Wertebasis sollten natürlich die Produkte oder Dienstleistungen so beschaffen sein, dass sie nachhaltig weitergereicht bzw. entsorgt und zurückgeführt werden können. Dies bedingt erneut einen Kundenstamm oder Kooperationspartner, die dem Thema Nachhaltigkeit zugewandt sind. Auch über diesen Hebel wird einmal mehr deutlich, dass das Denken in linearen Lieferketten künftig nur bedingt Nachhaltigkeit forcieren kann. Es muss vielmehr das ganze Netzwerk in den Blick genommen werden und damit eben zugleich der Kreislauf der Dinge z.B. á la Braungart und McDonough (cradle to cradle -Ansatz).

Verantwortung auf Augenhöhe: verantwortliche Wert-Netzwerke

Der oben skizzierte Single Supply-Chain-Ansatz geht von ungleichen Machtverhältnissen zwischen den Unternehmen aus, welche es den deutschen Betrieben erst ermöglicht, ihren Einfluss – wenn auch in diesem Fall positiv im Hinblick auf Nachhaltigkeit – durchzusetzen. Betrachtet man jedoch Lieferketten als ein komplexes, dynamisches Wertsystem vieler Akteure (z. B. Vorlieferanten, Lieferanten, Produzenten oder Absatzmittler), so ist nicht nur das deutsche Unternehmen an der Transformation zur nachhaltigeren Lieferkette in die Pflicht zu nehmen bzw. zu beteiligen. Jeder Akteur einer Lieferkette bringt sich im Zuge der globalen Arbeitsteilung durch seine individuellen, komparativen Vorteile ein.

Alle Akteure verfolgen innerhalb des Wertsystems ihre Eigeninteressen. Dies kann zu Konflikten, Dominanz und Kontrolle unter den Akteuren führen. Mit dem Sorgfaltspflichtengesetz besteht nun die Bemühungspflicht, dass zumindest deutsche Unternehmen ihre komparativen Vorteile nicht auf Basis von Menschenrechtsverletzungen erwirken. Dies mag eine Signalwirkung auf alle anderen Akteure haben, da die Spielregeln nun neu ausgehandelt werden. Bei diesem Prozess sollte einmal mehr auf den Dialog gesetzt werden, denn nur durch die Kommunikation aller Akteure auf Augenhöhe können gezielt Schwachstellen bezogen auf Nachhaltigkeit identifiziert werden.

Im internationalen, multikulturellen Kontext bekommt das Aushandeln einer gemeinsamen Wertebasis im Sinne von shared values zwischen den Akteuren eine besondere Relevanz. Mit dem Ansatz des Wert-Netzwerkens könnte auch die Kritik, es würde überwiegend in den Ländern des Nordens entschieden, wie nachhaltige und verantwortungsvolle Lieferketten auszusehen haben, ohne dabei hinreichend auf die Sitten und Gebräuche der Länder des Südens einzugehen, abgemildert werden (6). Dem Thema Stakeholderengagement kommt unter dieser Betrachtung perspektivisch noch mehr Bedeutung zu.

Ausblick: Verantwortung durch Kollaboration

Alle an einer Lieferkette beteiligten Akteure befinden sich in einer wechselseitigen Beziehung, in der der langfristige Erfolg der Wertschaffung innerhalb der Lieferkette maßgeblich von Transparenz und Kollaboration abhängt. Hier besteht die Chance zur Transformation hin zu einer nachhaltigeren Lieferkette. Ansätze für diese Verbesserung könnten sein:

  • Eine stabile, gemeinschaftlich ausgehandelte und tatsächlich gelebte Wertebasis und ein ganzheitliches Nachhaltigkeitsverständnis der Unternehmen;
  • mehr gegenseitige Transparenz durch Informationsaustausch;
  • eine Konkretisierung durch gegenseitiges Aushandeln von Regeln zwischen den Akteuren der Lieferkette, wie das abstrakte Sorgfaltspflichtengesetz umgesetzt werden kann;
  • ein Reporting-System, das sicherstellt, dass die Maßnahmen zur Erfüllung der Bemühungspflicht erfolgreich umgesetzt werden (ohne dabei zu überfordern);
  • ein Gremium aller Akteure, das über eine kontinuierliche Verbesserung der Bemühungen berät.

Ein Beispiel für die Umsetzbarkeit, könnte die in der Automobilbranche gestartet Initiative „Catena-X“ (7) sein. Hierbei geht es um den Aufbau eines offenen skalierbaren Netzwerks für den unternehmensübergreifenden und sicheren Informations- und Datenaustausch der in der Fahrzeugindustrie beteiligen Unternehmen. Dort sollen primär die Versorgungssicherheit erhöht, Rückrufe rascher abgewickelt und die Einhaltung von Klimaschutz-Regeln überwacht werden. Mit einer solchen digitalen, cloudbasierten Lösung lassen sich, als Idee, auch die ausgehandelten Regeln für die Umsetzung des Sorgfaltspflichtengesetzes hinterlegen, berichten und der Erfolg der Maßnahmen messen.

Neben digitalen Lösungen existieren bereits vereinzelt Austauschmöglichkeiten durch Multi-Stakeholder-Initiativen wie etwa der Global Coffee Platform (8), bei welcher Akteure der Lieferkette Kaffee zusammengeführt werden.

Diese Initiativen sind allerdings, wie auch beim Beispiel Kaffee, häufig produkt- oder branchenspezifisch und stehen demnach nur wenigen Unternehmen als Anknüpfungspunkt zur Verfügung. Multi-Stakeholder-Initiativen können jedoch wichtige Impulse für Unternehmen anderer Branchen geben, indem sie einen Einblick in ein Dialogformat auf Augenhöhe offerieren, welches nicht nur die unmittelbaren Zulieferer adressiert, sondern alle Akteure entlang einer Lieferkette. Ergänzt werden sollten die Multi-Stakeholder-Initiativen unbedingt um die nach- und seitgelagerten Akteure, durch welche, wie oben dargestellt, ganzheitlich Verantwortung im Wert-Netzwerk wahrgenommen werden kann.

Trotz viel diskutierter, und vor dem Hintergrund von Nachhaltigkeit womöglich auch berechtigter Kritik, stellt das Gesetz einen wichtigen Meilenstein dar und es hat eine Signalwirkung auch für alle nicht betroffenen Unternehmen: Nachhaltigkeit bzw. Verantwortungsübernahme ist nun nicht mehr nur unter ethisch erwünscht zu verbuchen, sondern unter gesetzlich gefordert. Und auch wenn viele Unternehmen vermutlich zunächst die Erfüllung des Gesetzes als eine weitere, formelle und bürokratische Vorgabe betrachten, die es zu erfüllen gilt, so eröffnet es doch Möglichkeiten, über sich hinauszuwachsen und positive und innovative Prozesse anzustoßen.

Für diejenigen Unternehmen, die seit Jahren ohnehin an diesen Themen arbeiten, wird es vermutlich ein Leichtes sein, die gesetzliche Vorgabe umzusetzen, für andere (nicht von dem Gesetz betroffene) Unternehmen eine Vorbildfunktion einzunehmen und diese hinsichtlich ihrer Verantwortung positiv zu beeinflussen. Hierbei mögen die beiden Denkansätze (Lieferketten nicht als starres lineares System zu betrachten, sondern als Wert-Netzwerk, in welchem Verantwortung vor-, nach- und seitgelagert wahrzunehmen ist und zwar mit allen Akteuren im Dialog auf Augenhöhe) einen Blick in die Zukunft offerieren, womit sich Unternehmen, die einen ganzheitlichen Nachhaltigkeitsansatz verfolgen, vermutlich perspektivisch auseinandersetzen werden.

Prof. Dr. Annika Martens
ist Professorin für CSR- und Nachhaltigkeitsmanagement an der Hochschule Fresenius und als Beraterin für Dr. Kleinfeld Corporate Excellence Consultancy GmbH & Co. KG tätig.
annika.martens@hs-fresenius.de

Dr. Johannes Hogg
ist Studiengangsleiter für Logistik und Handel an der Hochschule Fresenius und geschäftsführender Gesellschafter der Nachhaltigkeitslotsen UG, Hamburg.
j.hogg@nachhaltigkeitslotsen.com

Anmerkungen
(1) Wirtschaftsministerium, Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und Arbeitsministerium
(2) https://www.bmz.de/de/themen/lieferkettengesetz/index.html, 12.03.2021
(3) https://www.bmz.de/de/themen/lieferkettengesetz/index.html, 12.03.2021
(4) https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Pressemitteilungen/2021/bundeskabinett-verabschiedet-sorgfaltspflichtengesetz.html, 12.03.2021
(5) ISO 26000:2011, Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung, S. 32.
(6) Buntzel, Rudolf / Marí, Francisco (2016): Gutes Essen – Arme Erzeuger. Wie die Agrarwirtschaft mit Standards die Nahrungsmärkte beherrscht. Oekom Verlag: München, 22.
(7) Catena-X: Das neue Netzwerk zum Datenaustausch führender Industrieunternehmen | Daimler > Innovation > Digitalisierung > Industrie 4.0, 12.03.2021
(8) https://www.globalcoffeeplatform.org/, 12.03.2021


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