Arterielle Hypertonie
Definitionen und Diagnose der arteriellen Hypertonie
Die Hypertonie-Diagnose kann gestellt werden bei wiederholt erhöhten Praxisblutdruck-Messungen bei mehr als einem Besuch, oder bei Grad 3 Hypertonie
ODER
bei erhöhten praxisunabhängigen Blutdruck-Messungen (ABPM = ambulatory blood pressure monitoring und/oder HBPM = home blood pressure monitoring).
Blutdruckklassen | Blutdruck (mmHg) |
Praxisblutdrucka |
≥ 140 und/oder ≥ 90 |
Langzeitblutdruck (ABPM)
– Tagüber (oder wach) Mittelwert – Nächtlich (oder schlafend) Mittelwert – 24 Stunden Mittelwert |
≥ 135 und/oder ≥ 85 ≥ 120 und/oder ≥ 70 ≥ 130 und/oder ≥ 80 |
Häuslicher Blutdruck (HBPM) Mittelwert |
≥ 135 und/oder ≥ 85 |
Sonderfälle
- Weisskittelhypertonie: erhöhter Blutdruck nur in der Praxis
- Maskierte Hypertonie: erhöhter Blutdruck nur ausserhalb der Praxis
→ Diese Sonderfälle brauchen eine Blutdruckmessung ausserhalb der Klinik.
Kategoriea | Blutdruck (mmHg) |
Optimal | < 120 und/oder < 80 |
Normal | 120-129 und 80-84 |
Hochnomal | 130-129 und/oder 85/89 |
Hypertonie Grad 1 | 140-159 und/oder 90-99 |
Hypertonie Grad 2 | 160-179 und/oder 100-109 |
Hypertonie Grad 3 | ≥ 180 und/oder ≥ 110 |
Isolierte systolische Hypertonieb | ≥ 140 und < 90 |
Ursache der arteriellen Hypertonie
Primäre (essentielle) Hypertonie (keine Ursache fassbar) | 92–96% |
Sekundäre Hypertonieformen
Renal-parenchymatös Renovaskulär Endokrin Alle anderen |
4–8% 3–5% 0.5–1% 0.5–1% < 0.5% |
Heilbare Hypertonieformen | 1–2% |
Blutdruckmessung
Praxis-Blutdruckmessung
- Bequem sitzend nach ≥ 5 Minuten Ruhe messen
- Validierte Blutdruckmessgeräte verwenden
- Korrekte Manschette wählen: Manschettenbreite an Oberarmumfang anpassen (≥ 33 cm → breite Manschette)
- Drei Messungen im Abstand von 1-2 Minuten (zusätzliche Messungen bei Abweichen der ersten beiden Messungen um >10mmHg). Der Blutdruck wird als Durchschnitt der letzten beiden Messungen aufgezeichnet
- Stehend (nach 1 und 3 Min., orthostatische Hypotonie ausschliessen)
- Erstuntersuchung: an beiden Armen messen (Seitendifferenz ausschl.)
Heimblutdruckmessung (HBPM, home blood pressure monitoring)
- halbautomatisches, validiertes Blutdruckmessgerät verwenden. Oberarmmanschette gegenüber Handgelenkmessgeräten bevorzugt
- 7 Tage hintereinander, jeweils morgens und abends messen und Protokoll führen
- Jede Messung beinhaltet zwei Messungen im Abstand von einer Minute
- Vor jeder Messung 5minütige Ruheperiode, ruhiges Zimmer, Arm mit der Manschette unterstützt und Rücken angelehnt
Indikationen für eine Langzeitblutdruckmessung (ABPM ambulatory blood pressure monitoring)
- Zustände, bei denen die Weisskittelhypertonie häufiger vorkommt, z.B. Hypertonie Grad 1 bei der Praxis-Blutdruckmessung oder deutlich erhöhte Praxis-Blutdruckmessungen bei fehlenden Endorganschäden
- Zustände, bei denen die maskierte Hypertonie häufiger vorkommt, z.B. hochnormaler Praxisblutdruck oder normaler Praxisblutdruck bei Patienten mit Endoraganschaden oder hohem kardiovaskulärem Gesamtrisiko oder Anstrengungs-induzierter Hypertonie
- Lageabhängige und postprandiale Hypotonie
- Abklärung einer resistenten Hypertonie
- Überprüfung der Blutdruckkontrolle, insbesondere bei behandelten Patienten mit höherem Risiko
- Bei grosser Streuung der Praxisblutdruckwerte
- Abklärung von Symptomen, die auf eine Hypotonie hinweisen
- Spezifische Indikationen für eine ABPM anstelle einer Heimblutdruckmessung: Bewertung der nächtlichen Blutdruckwerte und des Dipping-Status (z.B. Verdacht auf nächtliche Hypertonie, so wie bei Schlafapnoe, chronischer Niereninsuffizienz, Diabetes, endokriner Hypertonie oder Dysautonomie)
Anamnese
- Blutdruck- und Gewichtsverlauf. Bei Frauen: Hypertonie in der Schwangerschaft / Präeklampsie?
- Kardiovaskuläre Risikofaktoren inkl. Risiko-modifizierende Lebensstil-Faktoren (Rauchen, Alkoholkonsum, körperliche Aktivität/Sport, Essgewohnheiten/Salzkonsum, «Stress», Lärm-/Zeitbelastung)
- Etablierte kardiovaskuläre oder Nierenkrankheit oder Hinweise hierauf: Angina pectoris, Claudicatio intermittens, Herzinsuffizienz-Symptome, Durst, Polyurie etc.
- Bereits versuchte Antihypertensiva / Unverträglichkeiten von Antihypertensiva
- «Pressorische» Medikamente und Substanzen: Ovulationshemmer, NSAR, Steroide, Cyclosporin, Sympathomimetika, Nasentropfen, Erythropoietin, Anabolika, trizyklische Antidepressiva, Onkologika (Tyrosinkinasehemmer, VEGF-Blocker, Aromatase-Inhibitoren, SERMs, m-TOR-Inhibitoren), Kokain, Lakritze, Süssholztee
- Hinweise auf sekundäre Hypertonieformen: Schnarchen/Tagesmüdigkeit, Palpitationen, Kopfschmerzen, Muskelkrämpfe etc.
- Familienanamnese: Hypertonie, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Adipositas, Nierenerkrankungen, Koronare Herzkrankheit, zerebrovaskuläre Erkrankungen, peripher arterielle Verschlusskrankheit
Klinische Untersuchung
- Grösse, Gewicht, BMI
- Bauch- und Hüftumfang (stehend)
- Augenfundus (ab Hypertonie 2. Grades oder bei zusätzlichem Diabetes mellitus)
- Schilddrüsenpalpation
- Pulsstatus und Gefäss- und Herzauskultation (Strömungsgeräusche? Hinweise für Aortenisthmusstenose?)
- Abdominalpalpation (aortale Pulsationen? Vergrösserung der Nieren?)
- Hinweise auf sekundäre Hypertonie: Café-au-lait Flecken (Phäochromozytom), Zeichen für Cushing, Akromegalie oder Schilddrüsenfunktionsstörung
Laboruntersuchungen
Basisdiagnostik
Blut (* nüchtern)
- Blutbild (Polyzythämia vera?)
- Kalium (1º/2º Hyperaldosteronismus, Diuretika?)
- Kalzium (Hyperparathyreoidismus?)
- Kreatinin (Niereninsuffizienz?)
- Glukose* und HbA1c (Metabolisches Syndrom, Diabetes mellitus?)
- Triglyzeride*, Gesamtcholesterin, LDL- und HDL-Cholesterin
- Harnsäure
Urin
- Status und Sediment
- Mikroalbuminurie (Spoturin: mg Albumin/mmol Kreatinin ≥ 3.4)
12-Ableitungs-EKG
- Hinweise auf linksventrikuläre Hypertrophie (LVH)?
Erweiterte Diagnostik
- Echokardiografie (Gold-Standard für die Diagnose der LVH, Erfassung einer diastolischen/systolischen LV-Dysfunktion, Ausschluss Aortenisthmusstenose)
- 24h-Blutdruckmessung: grosszügige Indikationsstellung
Abklärungen bei Verdacht auf sekundäre Hypertonie
Nierenerkrankung
- Serum-Kreatinin, Kreatinin-Clearance resp. eGFR
- Urinsediment, (Mikro-)Albuminurie/Proteinurie
- 24h-Urin und Nierensonografie in ausgewählten Fällen
Renovaskuläre Hypertonie
Dopplersonografie Nierenarterien oder andere Bildgebung bei
- Schwerer oder schwer einstellbarer Hypertonie
- Kreatinin-Anstieg (> ca. 30%) unter ACE-Hemmern oder Angiotensin-Rezeptor-Blocker
- Abdominellem Strömungsgeräusch, generalisierter Arteriosklerose, akutem Lungenödem
Primärer Hyperaldosteronismus**
Aldosteron-Renin-Ratio (ARR) bei
- Schwerer oder schwer einstellbarer Hypertonie oder
- Begleitender Hypokaliämie
- Cave: eingeschränkte Aussagekraft unter Antihypertensiva (ausser Kalziumantagonisten und Alpha-Blockern) und/oder Hypokaliämie
- Präanalytik: ca. 2 Stunden nach dem Aufstehen, sitzend nach einer 15 minütigen Ruhepause direktes Renin und Aldosteron bestimmen
- ARR > 60pmol/l/mU/l (Wert gilt nur fürs KSSG/ZLM) pathologisch: Ein Bestätigungstest sollte erwogen werden
Phäochromozytom**
Bei Kopfschmerzen, Schwitzen und Herzklopfen
- 24h-Urin auf Metanephrin und Normetanephrin (Urin ansäuern) und/oder
- Plasma-Metanephrin und -Normetanephrin (Abnahme nüchtern, nach 15-30 Liegen, Probe auf Eis)
Hyper-/Hypothyreose
TSH bei Symptomen, die mit einer Hypo- / oder Hyperthyreose vereinbar sind
Cushing**
Bei Mondgesicht, Rubeosis faciei, Striae rubrae, Stammfettsucht, easy bruising usw.
-
- Mitternachts-Speichelcortisol
- Freies Cortisol im 24h-Urin
- Dexamethason-Hemmtest
** Allenfalls spezialärztliche Abklärung
Risikostratifizierung
Die Risikostratifizierung bezüglich kardiovaskulärem Gesamtrisiko richtet sich nach den AGLA oder ESC Risikoeinteilungen.
- Klinische kardiovaskuläre Erkrankung (sehr hohes Risiko): Myokardinfarkt/akutes Koronarsyndrom, koronare oder andere arterielle Revaskularisierung, Schlaganfall/TIA, Aortenaneurysma, symptomatische PAVK
- Zweifelsfrei in der Bildgebung dokumentierte kardiovaskuläre Erkrankung (sehr hohes Risiko): signifikante Plaques (d.h. >=50% Stenose) in Angiogramm oder Sonografie
- Diabetes mellitus mit Endorganschäden oder einem Hauptrisikofaktor wie Hypertonie Grad 3 oder Hypercholesterinämie (sehr hohes Risiko); Die meisten anderen Patienten mit Diabetes mellitus (hohes Risiko)
- Schwere Niereninsuffizienz (eGFR <30ml/min/1.73m2) (sehr hohes Risiko); Mittelschwere Niereninsuffizienz (eGFR 30-59ml/min/1.73m2) (hohes Risiko)
- Deutliche Erhöhung eines einzelnen Risikofaktors (hohes Risiko): Cholesterin 8mmol/l, Hypertonie Grad 3
- Hypertensive Herzkrankheit (LVH) (hohes Risiko)
- Arterielle Hypertonie Grad 2 (moderates Risiko)
Beachte auch potenzielle Risikomodifikatoren: Koronarkalk, Intima-Media-Dicke/Plaques, erhöhte Pulswellengeschwindigkeit/Gefässsteifigkeit, pathologischer Ankle brachial index, sozioökonomischer Hintergrund (inkl. «Stress»), Umgebungs-Verunreinigungen (inkl. Lärmbelastung), Gebrechlichkeit, Körpergewicht (Übergewicht, Adipositas), und -form (Bauchumfang)
Behandlung
Änderung des Lebensstils («lifestyle modifications»)
- Tabakabstinenz
- Zurückhaltung mit Alkohol (♂ max. 2.5dl Wein oder 5dl Bier/Tag, ♀ max. 1.25dl Wein oder 2.5dl Bier/Tag)
- Ernährung «salzarm», reich an Früchten und Gemüse
- Gewichtskontrolle/-reduktion. Ziel: BMI 20-25kg/m2, Taillenumfang <94cm bei Männern und <80cm bei Frauen
- Regelmässiges aerobes Training: Marschieren, Joggen, Velofahren, Schwimmen, Langlaufen usw. (mind. 30 Min. an 5–7 Tagen/Woche)
→ Diese Massnahmen begleiten jede Pharmakotherapie.
Pharmakotherapie
Interventionsschwelle für eine medikamentöse Behandlung:
≥ 140/≥ 90 mmHg (im Alter ≥ 80 Jahre: ≥ 160/≥ 90 mmHg)
Bei Endorganschaden, hohem kardiovaskulärem Risiko oder BD ≥ 160/ ≥ 100 mmHg umgehender Behandlungsbeginn, sonst wenn Blutdruck-Ziel nach 3 Monaten konsequenter Lifestyle-Modifikation nicht erreicht wird.
Bei manifester kardiovaskulärer Erkrankung oder chronischer Niereninsuffizienz sollte sogar schon bei hoch-normalem Blutdruck eine medikamentöse Blutdrucksenkung in Erwägung gezogen werden.
Behandlungsziel: Generell: < 140/< 90 mmHg
- Ein diastolischer Zielwert von < 80 mmHg sollte bei allen Patienten (unabhängig von Alter/Komorbiditäten) in Betracht gezogen werden.
- Bei jüngeren Patienten (< 65 Jahre) sollte ein Zielwert von < 130/80 mmHg erwogen werden, falls dies gut toleriert wird.
- Eine Blutdrucksenkung auf < 120/70 mmHg soll vermieden werden.
Wahl der Medikamente:
Eine frühe Kombinationstherapie wird empfohlen, vorzugsweise in Form einer Fix-Kombination.
Unkomplizierte Hypertonie
Patienten mit Hypertonie und koronarer Herzkrankheit
Patienten mit Hypertonie und chronischer Niereninsuffizienz
Therapieresistenz
Eine renale Sympathikusdenervation kann in ausgewählten Fällen in Erwägung gezogen werden.
Hypertensive Krise
Hypertensive Gefahrensituation (urgency)
- Exzessive BD-Erhöhung ohne oder mit geringen Symptomen (Epistaxis, Schwindel, Kopfschmerzen), aber ohne akuten Endorganschaden
- Häufig bei bekannten Hypertonikern. Wenn Neudiagnose: an sekundäre Hypertonieformen denken!
- Auslösende Faktoren eruieren und wenn möglich korrigieren: z.B. Schmerz, psychischer «Stress» oder Panik, Medikamenten-Malcompliance, Substanzkonsum (Metamphetamine, Kokain) etc.
→ BD-Senkung innert weniger Tage, meist po und ambulant möglich. Ausbau und Wahl der Medikamente entsprechend den oben dargestellten therapeutischen Algorithmen.
Hypertensiver Notfall (emergency)
Exzessive BD-Erhöhung mit Symptomen (z.B. Thoraxschmerzen, Dyspnoe, neurologischem Defizit) und/oder akutem Endorganschaden:
- Zerebraler Infarkt, intrazerebrale oder subarachnoidale Blutung
- Hypertensive Enzephalopathie (Kopfschmerzen, Verwirrung, Sehstörung, Krampfanfall, Bewusstseinsstörung bis Koma)
- Lungenödem
- Akutes Koronarsyndrom
- Aortendissektion
- Fundusblutungen, Papillenödem
- Präeklampsie, Eklampsie
- Blutdruck in der Schwangerschaft ≥ 160/110 mmHg
→ Notfallmässige Hospitalisation! Blutdruckziel und Wahl der Medikation (meist intravenös) gemäss dem Endorganschaden.
Cave: zu schnelle oder zu exzessive BD-Senkung mit der Gefahr von Hypoperfusion (zerebral, koronar, renal)!
Dr. Dr. Roman Brenner
Dr. Carola Ehl