Antworten auf eine beschleunigte Verstädterung
Franz Wenzel
In den nächsten Jahren werden immer mehr Menschen in großen und immer größer werdenden Städten leben. Das Tempo des Megatrend Urbanisierung [1] wird sich zudem deutlich erhöhen, denn der Anteil der urbanen Bevölkerung muss vor dem Hintergrund eines massiven weltweiten Bevölkerungswachstums und reduzierter Flächen für städtische Siedlungsgebiete verstanden werden. Es stellt sich die Frage, wie diese Entwicklung nachhaltig ausgeprägt sein kann bzw. welche Maßnahmen dazu kurz- bis mittelfristig erforderlich werden. Nachhaltigkeit umfasst neben der ökologischen Dimension auch die Ökonomie und die Gesellschaft (triple bottom line) – das enorme Ausmaß der erforderlichen Überlegungen wird schnell deutlich.
Die prognostizierte urbane Entwicklung der nächsten Jahrzehnte zeigt mit ihren Zahlenwerten die praktische Realität der Immobilienpraxis nur sehr begrenzt auf. Der Urbanisierungsgrad allein kann das Problem nicht deutlich machen, denn die tatsächliche Beschleunigung der Verstädterung wird erst unter Einbeziehung des Bevölkerungswachstums nachvollziehbar. Zudem wird der Siedlungsraum z.B. durch Umweltveränderungen reduziert. Verschiedene Megatrends werden in die immobilienwirtschaftliche Perspektive der Urbanisierung einbezogen und zwei hoch relevante Wohnungsvarianten und die entsprechenden Spannungsfelder der modernen Stadt beispielhaft skizziert. Suffiziente Urbanität [2] und Deurbanisierung [3] sind erste Lösungsansätze bei der unmittelbar anstehenden Veränderung unserer Städte.
Weltweite Urbanisierungstrends
Studien der Vereinten Nationen [2020] zeigen einen Anstieg der urbanen Bevölkerung von ca. 30% (1950) auf ca. 56% (2021). Nach dieser Studie werden 2050 fast 68% der Weltbevölkerung in urbanen Gebieten leben. Die Verstädterung [Statista, 2021a] ist in Deutschland sogar noch beachtlich höher und hatte bereits vor gut fünf Jahren 77% (2015) erreicht. und Deutschland ist noch moderat unterwegs, denn es existieren bereits urbane Extreme:
Hongkong, Singapur, Kuwait, Monaco und Nauru (Inselstaat in Ozeanien) haben bereits 100% (2019) Urbanisierung erreicht. Katar folgt mit 99% (2019) und Belgien mit 98% (2019). Uruguay als kleinstes spanischsprachiges Land in Südamerika erreicht zusammen mit Malta mit jeweils 95% (2019) Spitzenwerte, ebenso Island mit 94% (2019) und Israel mit 93% (2019). Argentinien, die Niederlande und Japan folgen mit je 92% (2019). Auch Jordanien ist mit 92% (2019) und Bahrain, der Libanon und Venezuela mit je 89% (2019) sehr stark urbanisiert [Vereinte Nationen, 2020].
China hat mit rund 62% [Statista, 2021b] im Jahr 2020 den statistisch antizipierten Urbanisierungsgrad der Welt im Jahr 2030 bereits antizipiert. In Indien liegt die Urbanisierung bei rund 35% [Vereinte Nationen / Weltbank, 2021], in Afrika werden voraussichtlich ab 2040 mehr Menschen in Städten leben als auf dem Land [Africa Business Guide, 2021].
Immobilien brauchen Platz
Diese (Prognose-) Daten werden aus der professionellen Immobilienperspektive noch spannender: Immobilien sind einzigartig, zwei an sich baugleiche Objekte nehmen nicht den gleichen Raum ein. Man erkennt dabei schnell eine Besonderheit der Immobilie in einer Welt der Zahlen: der Raum auf unserer Welt ist knapp bzw. endlich und neue Immobilien brauchen Platz.
Wenn also immer mehr Menschen in einer Stadt wohnen (wollen), dann werden die Städte immer größer und dichter. An den Stadträndern ist die Ausdehnung (durch mehr Raumbedarf für Infrastruktur, eine grundlegend großzügigere Flächennutzung bzw. andere Arten von Immobilien) deutlich weitläufiger als in den Stadtzentren. Städte sind zudem oft an natürlichen Grenzen gebaut (Meer, Berg, Wüste), was das Wachstum an diesen Grenzen zu den Seiten drängt. Das Bild eines Welleneffekts [4] im Wasser kann das anschaulich machen. Denkt man ein Wellenmuster weiter, dann werden die Ausdehnungswellen von zwei entfernten aber benachbarten Städten irgendwann aufeinandertreffen und die Verstädterung dort stark beschleunigen, wo sich die Wellenbänder treffen.
Das Wellenbild muss zudem um das Unübersehbare erweitert werden: In Folge des Klimawandels werden z.B. die Meereshöhen ansteigen und sich die Wüsten ausbreiten. Die verfügbare Immobiliengrundfläche für Wohnraum wird sich also verringern. Und natürlich geht es bei der Urbanisierung nicht allein um einen Anteilszuwachs von 56% (2021) auf 68% (2050) aus sieben Milliarden Menschen (2021), sondern aus dann (2050) geschätzten zehn Milliarden Menschen.
Durch den starken Bevölkerungszuwachs entsteht eine völlig andere Problemdimension. Hohe Preise für knappes Bauland, gravierende Verteilungs- und Teilhabeprobleme, komplexe geopolitische Verhältnisse – hoffentlich gelingt eine friedliche, räumliche Nachbarschaft für immer mehr Menschen mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Lebensweisen und auf immer weniger Raum.
Megatrends aus immobilienwirtschaftlicher Perspektive
In der modernen Stadt werden z.B. mehr Singlewohnungen gebraucht.
Tendenziell suchen junge Menschen nach Wohnraum, um sich vom Elternhaus abzunabeln. Obwohl diese Trennung zunehmend später als in der Vergangenheit stattfindet, befördert der Megatrend der Individualisierung diese Entwicklung unaufhaltsam. Auch gegen die Widrigkeiten hoher Mietpreise und all der täglichen Verpflichtungen, die ein “Hotel Mama” gerne übernimmt, dominieren die schönen Verheißungen einer aktiven und jungen Stadtgesellschaft.
Eine ähnliche Nachfrage nach Singlewohnungen wird es zudem durch den Megatrend der Alterung geben. Die finanzielle Unabhängigkeit (der Frauen) im Alter ermöglicht eigene Wege ohne den “alten” Partner und der Megatrend Gesundheit beflügelt die ältere Bevölkerungsgruppe zu einem aktiveren Leben.
Die reichliche Nutzung der vielfältigen Konsum- und Kulturangebote der großen Städte sowie ihre freizeitlichen und medizinischen Versorgungsversprechen ziehen ältere Menschen an.
Entsprechend zeigen sich zwei Konfliktfelder: ein Generationenkonflikt bei der Verteilung knappen Wohnraums und durchaus ein Teilhabekonflikt bezüglich der (ökologischen) Gestaltung und der Geschwindigkeit der modernen Stadt für Jung und Alt.
Ein weiteres wichtiges Thema wird Wohnraum für Familien sein.
Eine Verknappung von Wohnraum in den Stadtzentren führt unweigerlich zu höheren Preisen – besonders bei größeren Wohnungen – und Ausweichbewegungen an die tendenziell günstigeren Stadtränder. Vom Megatrend der Neuen Ökologie, verbunden mit einem erhöhten Mobilitätsbedarf und vielen Umbrüchen im Bereich der menschlichen Arbeit [5] angetrieben, werden sich Wohnungen insgesamt verändern, aber auch der Wohlstand auf dem Prüfstand stehen.
Die Stadtgemeinschaft wird für viele Familien in der anstehenden Transition unserer Lebens- und Arbeitswelt die aussichtsreichste Bühne sein, weil sich in der Stadt vermeintlich am längsten eine aktive Arbeitswelt aufrechterhalten und eine flexible Sozialgesellschaft vorfinden lässt. In diesem Kontext dürfte der Megatrend Mobilität [6] sogar noch mehr an Bedeutung gewinnen.
Ein Auseinanderklaffen der Wohlstandsverteilung und der damit verbundene gesellschaftliche Abstieg weiter Bevölkerungsteile dürfte das größte Konfliktpotential für Familien ausmachen. Die Friktionen werden sich in der Stadt der nahen Zukunft politisch, gesellschaftlich und sozial manifestieren. Nicht zuletzt wird das Leben der Kinder öko-soziale Spannungen laufend neu definieren (Zugang zu Spielplätzen, Natur, gesunder Ernährung, Bildung, etc.).
Suffiziente Urbanität
Wenn wenig Raum zur Verfügung steht, dann könnten man für immer mehr Menschen eine suffiziente Lösung gestalten. Nicht nur die Wohnungen, auch alle anderen Flächennutzungen müssten entsprechend kleiner bzw. effizienter werden. Neue Immobilien sollten entsprechenden Vorgaben sofort folgen, der Bestand könnte umgebaut werden.
In der Praxis könnten sich deutlich kleinere Wohnungszuschnitte, mehr variabel zugängliche Gemeinschaftsflächen oder auch die Umnutzung von Verwaltungsflächen (z.B. Verlagerung oder Digitalisierung der städtischen Verwaltung) ergeben. Aber auch eine intelligente Verdichtung wird die suffiziente Stadt prägen: Kürzere Wege zwischen Wohnung, Nahversorgung und Freizeit bzw. die Digitalisierung der Arbeit sind kurz- bis mittelfristig realisierbar. Moderne Infrastruktur wird ein deutliches Plus an Mobilität ermöglichen.
Deurbanisierung
Wenn mehr Stadt nicht die Lösung sein kann, dann könnte über weniger oder eine andere Stadt nachgedacht werden. Die Unterbrechung bekannter städtischer Strukturen durch landwirtschaftliche und natürliche Flächen, die Verlagerung der (Mobilitäts-) Infrastruktur in den Untergrund, die Ausprägung neuer Stadtteilzentren, die Weiterentwicklung der (urbanen) Industrie [7] – es gibt unzählige gute Ansatzpunkte.
Eine Überlastung entsteht meist dort, wo sich etwas konzentriert oder aufstaut. Kann es gelingen, anstelle eines Stadtzentrums mehrere Stadtteilzentren zu gestalten, vielleicht sogar mehrere (kleinere und kompaktere) neue Städte zu ermöglicht oder sogar virtuelle Stadtzentren zuzulassen? Dann bleibt viel Raum für Neues und Kapazität für viel mehr Menschen. Deurbanisierung fängt aber nicht bei den Gebäuden an. Denn Gebäude folgen Visionen, z.B. auch Vorstellungen davon, wie die ideale Stadt bzw. der ideale Wohn- und Arbeitsraum für die Weltbevölkerung von morgen aussehen soll.
Franz Wenzel
ist Immobilienspezialist und Fachdozent für Immobilienwirtschaft an der Hochschule Fresenius. Er arbeitet mit Megatrends und entwickelt Innovationsthemen.
franz.wenzel@immobilienwenzel.de
Fußnoten
[1] vgl. https://megatrendinstitut.de/urbanisierung
[2] vgl. https://megatrendinstitut.de/2021/03/20/suffiziente-urbanitaet/
[3] vgl. https://megatrendinstitut.de/2021/03/21/deurbanisierung/
[4] vgl. https://megatrendinstitut.de/2021/04/18/real-estate-ripple-effect/
[5] vgl. https://megatrendinstitut.de/neue-arbeit
[6] vgl. https://megatrendinstitut.de/mobilitaet
[7] vgl. https://megatrendinstitut.de/autonome-industrie5
Quellen
Africa Business Guide (2021)
https://www.africa-business-guide.de/abg-de/chancenkontinent/urbanisierung-in-afrika-594012 (23.09.2021)
Statista (2021a)
https://de.statista.com/themen/7020/urbanisierung/ (23.09.2021)
Statista (2021b)
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/166163/umfrage/urbanisierung-in-china/ (23.09.2021)
Vereine Nationen (2020)
http://hdr.undp.org/sites/default/files/2020_statistical_annex_all.xlsx (23.09.2021), zitiert nach:
https://de-statista-com.thi.idm.oclc.org/statistik/daten/studie/166477/umfrage/ranking-der-30-laender-mit-dem-hoechsten-grad-an-urbanisierung/ (23.09.2021)
Vereinte Nationen / Weltbank (2021)
https://population.un.org/wup/ (23.09.2021) ,
zitiert nach: https://de.statista.com/infografik/25483/anteil-der-weltbevoelkerung-der-in-staedtischen-gebieten-lebt/ (23.09.2021)
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