Partikularinteressen stehen oft über ganzheitlichen Lösungen
Rainer Nüßlein und Thomas Osburg
Die Sustainable Development Goals (SDGs) decken ein breites Spektrum an globalen Zielen ab, adressieren aber weder innerhalb dieses Spektrums noch als eigenständige Kategorie die Potenziale der Digitalen Transformation zur Erreichung dieser Ziele. Die Gründe hierfür sind vielfältig, die Gefahr der ‚unintended consequences‘ ist real. Quasi zur Halbzeit der Laufzeit der SDGs (von 2015 bis 2030) lassen sich aufgrund der bisherigen Erfahrungen Handlungsimpulse für Unternehmen ableiten: Unternehmen sollten weniger in kurzfristige Digitalisierungsprojekte unter dem Deckmantel der SDGs investieren, sondern den ihnen gegebenen Spielraum nutzen, langfristige Beiträge zur globalen Entwicklung zu leisten, Herausforderungen (wie z.B. die Digital Divide) anzugehen und dabei neue globale und nachhaltige Geschäftsmodelle entwickeln.
Von Rainer Nüßlein und Thomas Osburg
Über die Digitale Transformation zu schreiben, ist immer eine Herausforderung. Einerseits ist schon so viel gesagt worden, die Literatur und Studien der Beratungsunternehmen sind kaum mehr zählbar – und andererseits lesen wir fast täglich von neuen Lösungen, neuen Technologien und neuen Möglichkeiten. Kurz, die Digitale Transformation ist und bleibt allgegenwärtig und keine von den Autoren betreute Masterarbeit der letzten zwei Jahre kommt ohne ein Kapitel zur Digitalen Transformation aus.
Gerade in diesem Zusammenhang erscheint es mehr als verwunderlich, dass die 2015 veröffentlichen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) der UN praktisch ohne eine Erwähnung der Digitalen Transformation auskommen. Wenn man die entsprechenden Zielformulierungen der UN liest, fühlt man sich immer noch in eine Zeit ohne Internet und Digitalisierung zurückversetzt. Das überrascht nach wie vor.
Natürlich kann man einwenden, dass die 17 Ziele einfach die Zieldimension darstellen, ohne auf Möglichkeiten der Umsetzung einzugehen. Das wäre legitim und nachvollziehbar. Auf der anderen Seite jedoch wurde hier, ganz im Sinne des Nudging (1), eine große Chance verpasst, einerseits digitale Lösungen als zentralen Baustein zur Erreichung der SDGs zu diskutieren und zu integrieren, andererseits wäre es ebenfalls möglich gewesen, die Digitale Transformation als selbständiges Ziel zu verankern.
Beide Chancen wurden nicht genutzt, woran lag und liegt das?
Unterschiedliche Interessen und Ziele der Stakeholder
Aufbauend auf den Millennium Development Goals (MDGs) gehen die SDGs einen entscheidenden Schritt weiter: Sie differenzieren nicht mehr zwischen sog. „Entwicklungsländern“ und sog. „entwickelten Ländern“, sondern adressieren die Herausforderungen auf globaler Ebene, ein absolut richtiger Schritt. Versucht man nun, mehr oder weniger konkrete Handlungsempfehlungen u.a. für Unternehmen abzuleiten, so führt dieser Weg oft zu Projekten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik. Impulse für konkrete nachhaltige Entwicklung z.B. in Deutschland (Stadtplanung, ländlicher Raum, demographische Entwicklung usw.), sind eher schwierig abzuleiten. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein, es erscheint jedoch nachvollziehbar, dass die Freiwilligkeit der Vereinbarungen und die allgemein gewünschte Rolle der Privatwirtschaft nicht verbindlich an soziale oder ökologische Standards geknüpft wird (2), kurz: Der Freiraum zur Gestaltung privatwirtschaftlicher Aktivitäten mit Blick auf die Erreichung der SDGs (und deren Kommunikation) ist möglicherweise gewachsen, der Jahrzehnte alte Vorwurf der Möglichkeiten des ‚Greenwashing‘ scheint wieder aufzutauchen (3).
(Tech-)Unternehmen waren sehr schnell, dieses Potenzial der Profilbildung durch digitale Projekte als Beitrag zur Erreichung der SDGs kommunikativ zu nutzen. Die einmalige Chance, bestehende Geschäftsmodelle kurzerhand als Lösungskomponenten zur Erreichung der SDGs umzudefinieren, war verlockend und ist natürlich nicht illegal. Über die Legitimität kann diskutiert werden. In jedem Fall aber haben diese Unternehmen damit eher wenig Interesse, die ‚Spielregeln‘, d.h. die strukturellen Bedingungen der globalisierten Weltwirtschaft und der internationalen Kooperation zu hinterfragen. Und damit stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Digitalen Transformation für die Entwicklungszusammenarbeit ganz allgemein.
Auch für den Bereich der an der Zielformulierung beteiligten NGOs ergibt sich ein ähnliches Bild: Die SDGs bilden die Interessen deren ab, die sie (mit-)gestaltet haben, und sind damit natürlich teilweise den Partikularinteressen dieser Akteure ausgesetzt. Hierzu zählen vor allem Umwelt- und Sozialverbände oder Menschenrechtsorganisationen.
Fehlendes Verständnis für Potenziale der Digitalen Transformation
Dass der Digitalisierung bei den SDGs kein eigenes Kapitel gewidmet ist und sie nicht als eigenes Ziel gilt, liegt auch daran, dass politische und administrative Entscheidungsebenen immer noch stark von einer Generation besetzt sind, für die das Internet, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel es 2013 (also während der Entstehung der SDGs) ausdrückte, „Neuland“ ist. Inzwischen hat sich zwar sehr viel gewandelt, aber erst “in den letzten Jahren hat sich verstärkt gezeigt, wie groß die Macht ist, die mit der Kontrolle von Digitaler Transformation einhergeht und wie einseitig diese global verteilt ist.” (4). Trotz dieser Erkenntnisse schien es erst einer Pandemie und den daraus folgenden digitalen Lösungen zu bedürfen, um das Thema wieder weiter oben auf der politischen Agenda einzuordnen. Die immer noch häufigste offizielle Begründung: Digitalisierung ist ein Querschnittsthema und lässt sich nicht nur einem Bereich zuordnen. Die Wahrnehmung von Digitalisierung ist von Unsicherheit geprägt, Chancen und Herausforderungen scheinen für viele sehr unklar.
Unternehmen denken oft noch kurzfristig und in Initiativen
Die Chance für Unternehmen zur Profilbildung erkannte auch der BDI schon im Jahr 2017: „Die Vereinten Nationen haben noch offen gelassen, wie die Wirtschaft sich im Rahmen der insgesamt 17 Ziele einbringen kann und damit Spielraum für Unternehmen und Verbände eröffnet, sich in den Prozess einzubringen. (…) Es ergeben sich für Firmen Chancen, Zukunftsmärkte zu entwickeln. Dies setzt allerdings voraus, dass die SDGs in das Kerngeschäft der Unternehmen integriert werden können“. (5) Wohlgemerkt: Die Eingliederung der SDGs ins Kerngeschäft steht im Vordergrund, nicht die Eingliederung des Kerngeschäfts in die Erreichung der SDGs!
Unternehmen füllen den ‚Digitalen Lösungsraum‘ daher oft weniger mit langfristigen Ansätzen der Problemlösung aus Sicht der Bedürftigen, sondern starten sog. Projekte oder Initiativen, die kaum kaschiert nicht das eigene Profitstreben, sondern den Beitrag zu den SDGs in den Vordergrund stellen. Ein frühes Beispiel war schon vor mehr als zehn Jahren das Projekt ‚One Laptop per Child‘, dem das Unternehmen Intel das WorldAhead Programm entgegensetzte. Dieser Ansatz von Intel gilt noch immer als einer der bekanntesten und erfolgreichsten ganzheitlichen Ansätze – noch vor Formulierung der SDGs.
Konsequenzen und Lösungsansätze
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Nicht nur in ländlichen Räumen oder ökonomisch weniger attraktiven Regionen dieser Welt investieren Unternehmen eher selten Geld mit dem Ziel einer gerechten und nachhaltigen Gesundheits- oder Bildungsinfrastruktur. Rentiert sich eine Investition nicht, wird auch keine digitale Infrastruktur entstehen, die digitale Lösungen zur Erreichung der SDGs ermöglicht.
Und nun? Eine Halbzeitbilanz: Aktuell befinden wir uns am Anfang der zweiten Hälfte der Laufzeit der SDGs (2015-2030). Die Digitale Transformation hat viele dieser SDGs unterstützen können, allerdings steht nach wie vor die aktuelle Kommerzialisierung und Kommunikation von Unternehmenslösungen (oft bezeichnet als Initiative oder Projekt) im Vordergrund, echte Partnerschaften zwischen lokalen Akteuren (Regierungen, NGOs) und Unternehmen zur Lösung von Problemen und darauf aufbauend zur Entwicklung von Lösungen sind selten.
Konzepte Digitaler Sozialer Innovationen (6) wären eine Möglichkeit für Unternehmen, die ‚zweite Halbzeit‘ der SGDs sinnvoll zu gestalten. Dabei geht es zuerst um die Identifikation des Problems und die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen mit lokalen Stakeholdern. Dieser Ansatz zielt langfristig auf die Entwicklung neuer Kooperationen, aber auch neuer Ansätze im Innovationsmanagement der Firmen ab. Klassische Konzepte der Open Innovation (7) sind als Ausgangspunkt dieser Prozesse sehr sinnvoll einsetzbar.
Es bleibt festzuhalten: Besonders Technologieunternehmen haben nach wie vor große Chancen, von dem Erreichen der SDGs zu profitieren, indem langfristig und wertschöpfend digitale Technologien eingesetzt werden. Diesen Spielraum können Firmen nach wie vor selbst gestalten. Für eine übergreifende und zielführende Entwicklung jedoch muss ein Umdenken stattfinden, weg von temporären Projekten und Initiativen hin zu langfristiger Kooperation mit lokalen Stakeholdern. Und wer weiß – vielleicht wird Digitale Transformation sogar ein eigenes Ziel in einer möglichen Neuauflage der SDGs im Jahr 2030. Falls bis dahin die Digitale Transformation als wichtigster Treiber zu mehr Nachhaltigkeit akzeptiert– und auch von den Stakeholdern verstanden wird.
Dr. Rainer Nüßlein,
MBA, ist Hochschuldozent für Marketing und Vertrieb an der Hochschule Fresenius, München
(rainer.nuesslein@hs-fresenius.de).
Prof. Dr. Thomas Osburg
ist Professor für Entrepreneurship und Nachhaltigkeit an der Hochschule Fresenius, München
(thomas.osburg@hs-fresenius.de).
Literatur
BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) (2017) (Hrsg.) Auftaktworkshop von BDI und BMZ zu den nachhaltigen Entwicklungszielen, https://bdi.eu/artikel/news/auftaktworkshop-von-bdi-und-bmz-zu-den-nachhaltigen-entwicklungszielen/, abgerufen 23.07.2021.
Chesbrough H (2003) Open innovation: the new imperative for creating and profiting from technology. Harvard Business School Publishing, Boston
Stilz, M. (2017) als die welt das internet vergaß, in: betterplace lab (Hrsg.) (2027) trendradar 2030. Berlin.
Osburg, Th. (2013) Osburg, Th.; Schmidpeter, R. (Eds.) (2013) Social Innovation – Solutions for a Sustainable Future. Springer, Heidelberg
Anmerkungen
(1) Beim Nudging (engl. “nudging” für “Anstoßen”, “Schubsen” oder “Stupsen”) bewegt man jemanden auf mehr oder weniger subtile Weise dazu, etwas Bestimmtes einmalig oder dauerhaft zu tun oder zu lassen (Gabler’s Wirtschaftslexikon)
(2) Stilz (2017)
(3) Teilweise wurde hier schon aufgrund der farbigen Visualisierung der SDGs von ‚Rainbow Washing‘ gesprochen, allerdings ist dieser Begriff schon als ‚Vorwurf‘ gegenüber Firmen, die sich das Image der Solidarität mit der LGBTQIA+-Community aneignen, besetzt.
(4) Stilz, M. 2017
(5) BDI (2017)
(6) Der Begriff ‚Soziale Innovation‘ bezeichnet die Entwicklung neuer Ideen, Dienste und Modelle zur besseren Bewältigung gesellschaftlicher Probleme. Sowohl öffentliche als auch private Akteure und die Zivilgesellschaft sollen dazu beitragen (Osburg 2013
(7) Der Begriff Open Innovation bzw. offene Innovation bezeichnet die Öffnung des Innovations¬prozesses von Organisationen und damit die aktive strategische Nutzung der Außenwelt zur Vergrößerung des Innovationspotenzials (Chesbrough 2003)
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