Der Corporate Digital Responsibility-Kodex 2021
Pamela Wille; Alexander Brink; und Frank Esselmann
Die Debatte um die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen reicht weit zurück. Verstärkte Aufmerksamkeit bekam das Thema im Jahre 1970, als der US-Ökonom und Neoklassiker Milton Friedmann seinen legendären und kontrovers diskutierten Beitrag über Unternehmensverantwortung mit dem Titel ‚The Social Responsibility of Business is to Increase Its Profits‘ in der New York Times veröffentlichte (vgl. Friedman 1970). Fast genau 50 Jahre später setzt die CDR-Initiative des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) mit der Veröffentlichung eines Corporate Digital Responsibility-Kodex nun einen wichtigen Impuls, der nicht nur eine weit umfassendere Verantwortung von Unternehmen einfordert, sondern diese außerdem auf die Herausforderungen des digitalen Wandels ausweitet. Der jüngst verabschiedete CDR-Kodex wurde zunächst von den fünf Unternehmen Deutsche Telekom, ING Deutschland, Otto Group, Telefónica Deutschland und Zalando unterzeichnet.
Von Pamela Wille, Alexander Brink und Frank Esselmann
Der Begriff Corporate Digital Responsibility geht ursprünglich auf die US-Managementberatung Accenture zurück, die damit im Jahr 2015 fundamentale Fragen der unternehmerischen Verantwortung in der digitalen Ökonomie adressierte (vgl. Cooper et al. 2015, 2). Seitdem werden normative Fragen von Digitalisierung verstärkt in der Managementliteratur diskutiert (vgl. PwC 2020; Esselmann et al. 2020, Brink/Esselmann 2021 im Erscheinen). Im Rahmen einer so genannten Shared-Value-Strategie werden sowohl wirtschaftliche Interessen als auch gesellschaftliche Bedürfnisse adressiert (vgl. Esselmann/Brink 2016). Im Zentrum steht die Minimierung von ökonomischen, ökologischen und sozialen Risiken durch die Digitalisierung und eine Maximierung von deren Chancen. Letztlich geht es um „die verantwortliche Gestaltung der Digitalisierung im Kerngeschäft des Unternehmens“ (Esselmann/Brink 2016, 35).
Die CDR-Initiative – Geburtsstunde einer gemeinsame Lernreise
Das BMJV startete im Mai 2018 gemeinsam mit sechs Unternehmen die CDR-Initiative. Damit wurde „ein konzertiertes Engagement ins Leben gerufen, bei der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gemeinsam Prinzipien und Verpflichtungen für eine menschenzentrierte digitale Transformation entwickeln“ (BMJV 2021b). Zunächst musste ein gemeinsames Verständnis für die Herausforderungen des digitalen Wandels erarbeitet werden. Mit Hilfe einer von der CDR-Initiative entwickelten Szenarientechnik wurden die Folgen der digitalen Transformation über konkrete Fallbeispiele aus der Unternehmenspraxis erläutert, um positive und negative Auswirkungen digitaler Aktivitäten konkret zu machen (vgl. BMJV 2019). Von dort aus wurde die Idee geboren, einen gemeinsamen Kodex zu entwickeln.
Dieser Prozess wurde von Anfang an durch das Institut für Verbraucherpolitik ConPolicy moderiert und seit 2019 durch die Unternehmensberatung concern in Kooperation mit der Universität Bayreuth wissenschaftlich begleitet.
Aufbau und Inhalt des Kodex – Prinzipien, Handlungsfelder und Ziele
Der Kodex versteht unter CDR freiwillige unternehmerische Aktivitäten, die insbesondere im Sinne der Verbraucher*innen über das gesetzlich Vorgeschriebene hinausgehen und die digitale Welt aktiv zum Vorteil der Gesellschaft mitgestalten (vgl. CDR-Initiative 2021). Er formuliert erstmals Prinzipien digitaler Unternehmensverantwortung und konkretisiert diese in Handlungsfeldern und zugehörigen Zielen. Alle Mitglieder der CDR-Initiative verpflichten sich, diese einzuhalten. Über regelmäßige Fortschrittsberichte werden anhand von konkreten CDR-Beispielen die Engagements der Unternehmen transparent und für Verbraucher*innen nachvollziehbar dargestellt.
Der Kodex besteht gegenwärtig aus neun Prinzipien, fünf Handlungsfeldern und fünfzehn Zielen. Die Prinzipien geben Orientierung in zentralen, aber auch kritischen Fragen der Digitalisierung generell (vgl. BOX 1). Für die weitere Konkretisierung wurden Ziele in den folgenden Handlungsfeldern definiert: 1. Umgang mit Daten, 2. Bildung, 3. Klima- und Ressourcenschutz, 4. Mitarbeitenden-Einbindung und 5. Inklusion. Zu einem späteren Zeitpunkt können weitere Handlungsfelder in den Fokus genommen werden, denn der gesamte Prozess versteht sich, der Dynamik der Digitalisierung Rechnung tragend, als Lernreise. Der Kodex richtet sich nicht nur an die Führungskräfte in Unternehmen, sondern auch an Politik und Zivilgesellschaft sowie vor allem an Verbraucher*innen.
Das Commitment – freiwillige Verpflichtung mit Reporting
Die Unternehmen bekennen sich öffentlich, die Prinzipien in den Handlungsfeldern im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit in Deutschland anzuerkennen sowie über ihren Fortschritt bei der Zielerreichung regelmäßig zu berichten. Damit wird nicht nur ein Versprechen abgegeben, sondern auch regelmäßig über den Fortschritt berichtet. Das ist ein starkes Signal für die Transparenz unternehmerischer Digitalverantwortung im europäischen Kontext und darüber hinaus.
Zwölf Fragen an Alexander Brink, Frank Esselmann und Pamela Wille
- Warum braucht die digitale Transformation eine ethische Reflexion?
Alexander Brink: Die digitale Transformation unserer Gesellschaft erfolgt in einer solch dramatischen Geschwindigkeit, dass sich die Verbraucher*innen aber auch Entscheider*innen aus Politik und Unternehmen aufgrund zunehmender Komplexität und Unsicherheit kaum noch orientieren können. Der technische Fortschritt mit all seinen Ausprägungen ist im Kern hoch ambivalent. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, ihren Weg innerhalb von moralischen Prinzipien und Normen zu finden (vgl. Brink 2021 im Erscheinen, Literaturquellen wurden von der Redaktion ergänzt). Diese Entwicklung erfordert insbesondere eine ethische Reflexion. Die Managementberatung Gartner sieht in der Digitalethik sogar einen der Top 10 IT-Trends 2020 (vgl. Gartner 2019).
- Warum hat sich Ihr Ministerium diesem Thema gewidmet?
Pamela Wille: Für das Justiz- und Verbraucherschutzministerium war es wichtig, dass es in dem dynamischen und heute in vielen Aspekten noch gar nicht absehbaren Gebiet der Digitalisierung weit vor der Gesetzgebung mit den gesellschaftlichen Kräften zu einem offenen Austausch zu Verantwortungsaspekten der Digitalisierung kommt. Daher wurde vom BMJV diese Initiative ins Leben gerufen.
Das Format hat sich entwickelt, es war auch zunächst so nicht in unserer Ressourcenplanung vorgesehen. Der Prozess startete 2018 als offener und auslotender, moderierter Dialog und Verständigungsprozess zwischen Unternehmen und Politik und hat mit dem Kodex jetzt einen Meilenstein erreicht. Aus meiner Sicht sind vor allem die Diversität der Beteiligten und die Offenheit des Austausches in dieser Form einzigartig. Wir haben viel voneinander gelernt und gemeinsam einen Kodex erarbeitet. Auch in Zukunft wird die CDR-Initiative maßgeblich vom Engagement ihrer Mitglieder abhängen. Um viele Details haben wir gerungen.
- Waren die Positionen der Unternehmen zu Beginn einheitlich?
Pamela Wille: Naturgemäß weichen die Positionen von Unternehmen und Politik in vielen Punkten zunächst voneinander ab. Beispielsweise hätten wir vom Ministerium gerne einige der Empfehlungen der Datenethikkommission (DEK) noch prominenter im Kodex verankert. Zu den Zielen im Handlungsfeld ‚Umgang mit Daten” gibt es allerdings Maßnahmenvorschläge, in denen sich auch Empfehlungen der DEK finden. Damit ist die Anschlussfähigkeit gegeben. Ich würde mir wünschen, dass in Zukunft Unternehmen in ihren Maßnahmenberichten DEK-Empfehlungen bewusst umsetzen. Jetzt ist erst einmal ein Anfang gemacht (vgl. Datenethikkommission 2019).
Allerdings gab es auch unterschiedliche Standpunkte innerhalb der Unternehmen. In einigen Unternehmen, so ist mein Eindruck, scheint CDR schon stark oder stärker verankert zu sein. Meine Anerkennung gilt daher auch besonders den Kolleg*innen, die die Überzeugungsarbeit innerhalb ihrer Organisationen geleistet haben. Gerade in der letzten Phase der Kodexverabschiedung standen wir in sehr engem Austausch mit den Kolleg*innen aus den Unternehmen.
Wir haben ausgelotet, was geht bzw. was warum nicht so leichtgängig ist, um so das bestmögliche Ergebnis herauszuholen. Oft ging es darum, dass ethisch und innovativ keine Gegensätze sind bzw. sich nicht ausschließen.
- Welche Themen bearbeitet der Kodex?
Frank Esselmann: Wir adressieren in dem Kodex sehr bewusst die wichtigsten Säulen der digitalen Wertschöpfung. Das Fundament bildet der verantwortliche ‘Umgang mit Daten’. Er ist Grundlage für annähernd alle kritischen Prozesse in der Digitalisierung. Darauf aufbauend spielt natürlich die Umsetzung durch und am Menschen eine zentrale Rolle – sie wird in den Handlungsfeldern ‚Bildung‘, ‚Mitarbeitenden-Einbindung‘ und ‚Inklusion‘ thematisiert.
Dazu kommt noch das hoch aktuelle Handlungsfeld ‚Klima- und Ressourcenschutz‘.
Uns waren bei der Entwicklung zwei Aspekte sehr wichtig: Zum einen sollen Mitglieder der CDR-Initiative nicht irgendwo exzellent sein, aber andere wichtige Felder komplett vernachlässigen. Zum anderen wollen wir explizit auch der Chancen-Sicht Raum geben: Die Digitalisierung kann sehr viel Gutes bewirken. Der Kodex soll das abbilden.
- Sind Daten nicht zunächst mal ‚moralisch neutral‘?
Alexander Brink: Das würde ich auch so sehen. Der Vorname ‚Peter‘, der Nachname ‚Müller‘, das Datum ‚8. April 1980‘ und der Ort ‚Düsseldorf‘ haben jeweils für sich betrachtet zunächst keine moralische Relevanz. In der Kombination – vielleicht ergänzt durch ‚Adresse‘, ‚Bildungsgrad‘ und ‚Einkommen‘ – dann schon. Daten bekommen vor allem dann eine normative Relevanz, wenn sie kombiniert in so genannten sozio-technischen Arrangements eingesetzt werden, also wenn ein Algorithmus mit den o.g. Daten beispielsweise eine Kreditempfehlung ausspricht oder eine Versicherungspolice empfiehlt (vgl. Manzeschke/Brink 2020a-d).
Die besondere Herausforderung der Digitalisierung lässt sich durch das Collingridge Dilemma gut umschreiben: Während die normativen Wirkungen einer schwach entwickelten Technik wenig zu prognostizieren sind, ist eine normative Korrektur bereits stark entwickelter Techniken kaum noch möglich (vgl. Collingridge 1980). Natürlich ist nicht jeder digitale Prozess gleich normativ brisant – aber mit der Weiterentwicklung der Digitalisierung nehmen auch die Prozesse mit hoher Kritikalität, also hohen Risiken, zu und damit auch die Normativität in der digitalen Unternehmensverantwortung (vgl. Winter et al. 2021 im Erscheinen). Die Europäische Union empfiehlt übrigens jüngst, dass Anbieter von KI-Anwendungen sogar unterhalb hoher Risiken freiwilligen Verhaltenskodizes folgen und sich Initiativen anschließen sollten (vgl. EU 2021). In ambivalenten, aber auch konfligierenden und dilemmatischen Entscheidungssituationen leiten Normen die Individuen und die Unternehmen in ihren Handlungen – so die Theorie.
- Ist der CDR-Kodex für ein Unternehmen umsetzbar?
Frank Esselmann: Das Thema muss fokussiert angegangen werden, in aller Interesse, nicht zuletzt auch dem der Verbraucher*innen. Mit Verhaltenskodizes sollte nicht das passieren, was heute bei Datenschutzerklärungen häufig die Realität ist: Schon aus Gründen der Masse klickt man als Nutzer alles weg. Eine Möglichkeit der Fokussierung sind die oben erwähnten Kritikalitätsbetrachtungen. In dem Kodex sind wir den Weg gegangen, explizit aus Verbraucher*innensicht und Mitarbeitendensicht relevante Ziele zu formulieren, bei der Umsetzung aber keine Vorgaben, sondern nur Vorschläge zu machen. Damit können Unternehmen die effektivste Art der Zielerreichung wählen. Wir sehen es insgesamt als eine große Aufgabe in der CDR-Diskussion an, weiter an Verständlichkeit und Bewertbarkeit durch Verbraucher*innen, Mitarbeitende und generell Nicht-Fachleute zu gewinnen. So wird der Weg auch für Unternehmen lohnend.
Alexander Brink: Ganz zu Beginn der CDR-Initiative stand die Frage, ob man sich eher an allgemeinen Prinzipien orientieren sollte oder an konkreten Empfehlungen. Aus der Literatur weiß man um die Stärken und Schwächen beider Optionen. Während ein ‘Codes of Ethics’ eher allgemein gehalten, kaum sanktionierbar und in der Regel auch recht kurz ist, sind ‘Codes of Conduct’ konkreter, besser durchsetzbar, dafür aber länger und kleinteiliger. Im Ergebnis haben wir uns dann gemeinsam mit dem Ministerium und den Unternehmen für eine intelligente Kombination entschieden. Deshalb ist die grundlegende Architektur des Kodex dreigeteilt: Prinzipien, Handlungsfelder und Ziele.
Pamela Wille: Aus Sicht der Unternehmen könnte der Maßnahmenbericht auch als eine Art Self Assessment in Sachen unternehmerischer Digitalverantwortung angesehen bzw. genutzt und weitergeschrieben werden. Dabei geht nicht nur um ganz große und umfangreiche Maßnahmen oder Projekte. Aus meiner Sicht sind die kleineren Aktivitäten oftmals ebenfalls wertvoll, um von Verantwortungsübernahme zu künden oder anderen als gutes Beispiel zu dienen. Außerdem können auch geplante Maßnahmen im Bericht angegeben werden. Damit sollen u.a. Schwellenängste reduziert und die Aspekte der Lernreise und Weiterentwicklung unterstrichen werden. Ich könnte mir des Weiteren vorstellen, dass so ein Bericht auch für das Employer-Branding relevant sein könnte.
- Was macht die CDR-Initiative bzw. den CDR-Kodex so besonders?
Alexander Brink: Die jüngsten Entwicklungen im Bereich Corporate Digital Responsibility haben ein Konvolut an Beiträgen, Studien, Initiativen, Regulierungen, Projekten und Maßnahmen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft produziert. Beispiele finden sich etwa in Branchenverbänden wie Bitkom und dem Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW), Stiftungen wie der Bertelsmann Stiftung, der Stiftung Neue Verantwortung oder Thinktanks wie AlgorithmWatch und iRights.Lab.
Wir sehen in dem CDR-Kodex drei wesentliche Differenzierungen. Erstens betrachten wir die Initiative von Anfang an und konsequent als Lernplattform. Zweitens wird der Kodex nicht gegen, sondern gemeinsam mit den Unternehmen erarbeitet und weiterentwickelt. Und drittens steht neben dem Inhalt auch immer die Form wie z.B. der Wirkmechanismus, die Sprache, die Verständlichkeit, die Tonalität etc. im Zentrum einer erfolgreichen Implementierung von Normen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sondern aus der CR-Forschung bereits gut belegt. CDR ist letztlich auch Kommunikation.
Pamela Wille: Sowohl die Unternehmen als auch das BMJV haben sich mit Mut und Vertrauen auf diesen Prozess eingelassen. Mut dazu, vielleicht auch mal feststellen zu müssen, dass ein Weg nicht gegangen werden kann oder sollte. Vertrauen unter anderem darauf, dass es nur gemeinsam geht. Und dieses ‘zusammen’ hat Vorteile. Damit meine ich nicht nur die Darstellung von konkreten Maßnahmen in Berichten, die anderen Unternehmen als Impuls dienen können. In der CDR-Initiative des BMJV tauscht man sich über die verschiedenen Aspekte und anhand guter Beispiele vertraulich aus bzw. präsentiert diese im Kreis der Initiative – wobei es auch öffentlich zugängliche Veranstaltungen gibt. Dieser Austausch ist sehr wertvoll und in dieser Kombination (Unternehmen, Wissenschaft, Politik) einzigartig.
- Welche Rolle spielt die Ethik dabei?
Alexander Brink: Die Erkenntnis, die dem Prozess zugrunde liegt, hat der renommierte Philosoph Jürgen Habermas in seiner Theorie kommunikativen Handelns schon in den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts ausformuliert. Im Zentrum seines philosophischen Zugangs steht der Diskurs derer, die von einer Entscheidung betroffen sind.
Die Kritik, die sich an seiner Philosophie damals äußerte, waren v.a. die realitätsfremden Annahmen, die an den so genannten idealen Diskurs gestellt wurden. Die Geltung von Argumenten waren idealerweise Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. Daran hat sich bis heute nicht geändert. Jürgen Habermas hat selbst mit seinem Werk ‚Die Anerkennung des Anderen‘ darauf reagiert und mit der Deliberation, also der Beratschlagung, eine Alternative zum Diskurs vorgeschlagen.
Unsere sich über nahezu 30 Sitzungen dauernde Aushandlung zwischen Recht, Wirtschaft und Wissenschaft kann im weitesten Sinne als eine solche Form der Beratschlagung betrachtet werden. Da wurde oft an der richtigen Formulierung gefeilt, Dinge wurden zurückgestellt – und ganz emotionsfrei geht das natürlich auch nicht. Was uns immer geholfen hat, waren gute Praxis-Beispiele, an denen man dann Zusammenhänge erklären konnte.
- Welche Herausforderungen bestanden bei der Begleitung des Prozesses?
Alexander Brink: Zwei theoretische Herausforderungen standen im Raum: Auf welche Normen können sich die teilnehmenden Unternehmen verständigen und wie lassen sich diese Normen dann implementieren? Theoretisch gesprochen ging es um die Annäherung von Begründungs- und Anwendungsdiskurs. Beides musste unter realistischen Annahmen wie zeitlichen, finanziellen, kompetenzbezogenen und fachlichen Restriktionen erfolgen. Gemeinsam mit ConPolicy hat das gut funktioniert.
Mit dem BMJV wurden die Verbraucherbelange, mit den Unternehmen der Markt und dann noch die Wissenschaft beteiligt. Vertiefende Expertisen wie z.B. in Sachen Datenschutz wurden dann fakultativ hinzugezogen. So hatten wir einen multiperspektivischen Ansatz, in dessen Zentrum die gemeinsame Lernreise stand.
Die Deliberation ist das Idealbild, eine Art Kommunikationskompass: Letztlich geht es um die approximative Annäherung an ein Idealbild, wohl wissend, dass man dieses nie erreichen kann. Erst recht nicht bei einer digitalen Transformation, deren Entwicklungen wir heute überhaupt noch nicht denken können.
Pamela Wille: Praktische Herausforderungen gab es auch. Die Komplexität und Unterschiedlichkeit von Unternehmensstrukturen, gerade bei großen Unternehmen, war recht fordernd. Z.B. gab es Situationen, in denen etwas für ein Unternehmen unproblematisch war und für ein anderes Unternehmen ungünstig.
Des Weiteren kann man sagen, dass je kürzer der Draht von der Arbeits- zur Leitungsebene war und je besser diese Ebenen innerhalb des Unternehmens vernetzt war, desto mehr schien möglich. CDR ist eher ein Top-down- als ein Bottom-up-Prozess. Außerdem sollte CDR zunächst selbständig und nicht als Teilaspekt von CSR gedacht und entwickelt werden. Sonst können Aspekte des digitalen Wandels zu kurz kommen.
- Was erwarten Sie nun von den Unternehmen?
Frank Esselmann: Letztlich gibt der Kodex erste Leitplanken, innerhalb derer Unternehmen die besten Umsetzungsmöglichkeiten einer verantwortlichen Digitalisierung entwickeln können. Es gibt bereits tolle Unternehmensbeispiele in den einzelnen Handlungsfeldern zum Thema ‘Digitalisierung im Dienste der Nachhaltigkeit’, die in einer eigenen Broschüre zusammengefasst sind (vgl. BMJV 2021a). Die Leitplanken sind natürlich nicht perfekt – für die Weiterentwicklung wünschen wir uns einfach eine Fortführung der so konstruktiven Zusammenarbeit, gerade auch wenn jetzt weitere Unternehmen beitreten und neue Impulse einbringen.
- Wie verhindert man Greenwashing?
Alexander Brink: Das ist ein sehr valider Punkt. Ich glaube, es gab noch nie so viel Greenwashing im Markt wie gegenwärtig. Die Kombination aus freiwilliger Selbstverpflichtung mit einem verbindlichen Fortschrittsbericht schien uns der beste Mechanismus, um ein starkes Signal zu setzen, dass wir es ernst meinen. Wir haben uns dabei u.a. am UN Global Compact orientiert. Machen wir uns nichts vor, alle Beteiligten haben genug im beruflichen Alltag zu tun und was wir nicht brauchen, ist eine weitere Selbstverpflichtung, die nichts bewirkt, im Gegenteil: vielleicht nur blendet. Ein Teilnehmer-Unternehmen hat in einer der ersten Sitzungen zugespitzt formuliert: ‚Es muss auch ein wenig weh tun‘ – ja, Unternehmen müssen sich aus ihrer Komfortzone bewegen. Deshalb haben wir lange verhandelt, viel diskutiert, Kompromisse gemacht, auch konnten wir dann letztlich nicht alle Unternehmen mitnehmen. Aber dann ist es auch nicht verwerflich, die Dinge, die man gut macht, auch entsprechend selbstbewusst zu kommunizieren. Das können unsere fünf Erstunterzeichner auch tun. Dazu dient im Übrigen auch der Fortschrittsbericht – er ist Legitimation und Marketing zugleich – eine Maßnahme, um Greenwashing zu verhindern.
Pamela Wille: Letztendlich steht und spricht der Unternehmensbericht für sich bzw. für das Engagement des jeweiligen Unternehmens. In Bezug auf die Unternehmen, die CDR ernst nehmen, würde ich mir wünschen, dass, neben aller wichtiger und richtiger kritischer Analyse, die Bereitschaft der Unternehmen mit angemessenem Wohlwollen betrachtet wird, sich diesem Prozess mit seinen Anforderungen zu stellen und anderen Unternehmen durch ihre Beispiele Orientierung geben zu wollen.
- Was steht in der Zukunft an?
Pamela Wille: Zunächst wird der Fokus auf der Erweiterung des Mitgliederkreises liegen. Perspektivisch ist vieles möglich. Was die Internationalisierung angeht, wurde die Initiative 2019 schon einmal in kleinerem Kreis in Brüssel vorgestellt. Damals waren wir allerdings auf einem ganz anderen Arbeitsstand. Jetzt, mit dem CDR-Kodex kann sicherlich über weitere Schritte nachgedacht werden. Wir haben in der CDR-Initiative bereits neben den nichtöffentlichen Treffen weitere Veranstaltungsformate angestoßen wie den CDR-Impuls und CDR-Fachtagungen. Das werden wir in Zukunft verstärken. Weiterhin wird das Zusammenspiel von konkreter Unternehmenserfahrung, Verbraucher*innenrelevanz und die wissenschaftliche Reflexion wichtig sein. Wir sind gerade auf eine erste Kompromisslinie zugesteuert, die nun in den kommenden Jahren gemeinsam weiterentwickelt werden soll. Auch wenn ich mir noch viele weitere oder vertiefende Aktivitäten vorstellen kann, ist durch die bloße Existenz des Kodex ein wichtiger Schritt auf dem Weg des digitalen Wandels gemacht, auf dem wir uns nach wie vor oftmals in Suchbewegungen befinden.
Frank Esselmann: Vielen Teilnehmer*innen ist eine europäische Abstimmung wichtig und das ist aus Wettbewerbsgründen sehr nachvollziehbar. Europa kann Normen setzen, einzelne Länder kaum. Abstimmungen über Ländergrenzen hinweg werden sicher ihre Zeit brauchen, aber die CDR-Initiative hat einen guten Startpunkt formuliert.
Die neun Prinzipien des CDR-Kodex 2021
Prinzip 1: Gesellschaftliche Grundwerte
Wir setzen technische Systeme so ein, dass sie im Einklang mit unseren gesellschaftlichen Grundwerten wie Demokratie, Freiheit, soziale Marktwirtschaft und dem Gleichbehandlungsgrundsatz stehen und diese fördern.
Prinzip 2: Menschenzentrierung
Wir stellen den Menschen bei der Entwicklung und dem Einsatz technischer Systeme in den Mittelpunkt.
Prinzip 3: Nutzen schaffen
Wir gestalten unsere technischen Systeme so, dass sie einen Mehrwert für Verbraucherinnen und Verbraucher liefern. Wir wägen Nutzen und Risiken für Verbraucherinnen und Verbraucher beim Einsatz technischer Systeme ab. Der Nutzen muss dabei die Risiken deutlich übersteigen.
Prinzip 4: Schaden vermeiden
Wir gestalten unsere technischen Systeme so, dass Verbraucherinnen und Verbraucher nicht geschädigt werden. Wir sorgen dafür, dass die Risiken technischer Systeme in technischer und sozialer Hinsicht kalkulierbar und beherrschbar bleiben.
Prinzip 5: Autonomie
Wir achten bei der Entwicklung und dem Einsatz technischer Systeme die Selbstbestimmung der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Prinzip 6: Fairness
Wir stärken bei der Entwicklung und dem Einsatz technischer Systeme die Teilhabe und den Zugang zu einer digitalisierten Welt. Verbraucherinnen und Verbraucher werden nicht diskriminiert.
Prinzip 7: Transparenz
Wir informieren offen und verständlich über die grundlegenden Funktionsweisen und Auswirkungen unserer technischen Systeme, die sich unmittelbar an Verbraucherinnen und Verbraucher richten.
Prinzip 8: Verantwortlichkeit
Wir stellen sicher, dass die Verantwortung für die Gestaltung und den Einsatz unserer technischen Systeme in letzter Instanz bei eindeutig definierten menschlichen Verantwortungsträgern liegt.
Prinzip 9: Nachhaltigkeit
Wir verfolgen im Rahmen der Digitalisierung das Ziel, zu einer ressourcenschonenden und sozial gerechten Entwicklung im Sinne der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen beizutragen.
Literaturtipps
- Brink, A. (2021): Digitalethik. In: Aßländer, M. S. (Hrsg.): Handbuch Wirtschaftsethik, 2. überarbeitete Auflage. Stuttgart (im Erscheinen).
- Brink, A./Esselmann, F. (2021): Corporate Digital Responsibility – Menschenzentrierung heißt Kundenzentrierung. In: Spektrum. Das Wissenschaftsmagazin der Universität Bayreuth 17 (im Erscheinen).
- Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (2019): Szenarientechnik der CDR-Initiative: > Link. Berlin (Abrufdatum: 1. August 2021).
- Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (2021a): CDR-Initiatve & Nachhaltigkeit. Maßnahmen, die zur Verwirklichung der 17 Nachhaltigkeitsziele (SDG) der Vereinten Nationen beitragen können (https://cdr-initiative.de/uploads/files/CDR_Nachhaltigkeitsziele.pdf. Berlin. (Abrufdatum: 1. August 2021).
- Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (2021b): Gemeinsam für mehr digitale Verantwortung. Pressemitteilung vom 24. Juni 2021, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/0628_CDR-Initiative.html. Berlin. (Abrufdatum: 1. August 2021).
- CDR-Initiative (2021): Der CDR-Kodex. https://cdr-initiative.de/kodex. (Abrufdatum: 1. August 2021).
- Collingridge, D. (1980): The Social Control of Technology. New York.
- Cooper, T./Siu, J./Wei, K. (2015): Corporate Digital Responsibility. Doing Well by Doing Good. Hrsg. von Accenture. London.
- Datenethikkommission (Hrsg.) (2019): Gutachten der Datenethikkommission. Berlin.
- Esselmann, F./Golle D./Brink, A. (2020): Whitepaper Corporate Digital Responsibility. https://zentrum-digitalisierung.bayern/wp-content/uploads/ZD.B-Positionspapier_Final_web.pdf. Garching. (Abrufdatum: 1. August 2021).
- Esselmann, F./Brink, A. (2016): Corporate Digital Responsibility. Den digitalen Wandel von Unternehmen und Gesellschaft erfolgreich gestalten. In: Spektrum. Das Wissenschaftsmagazin der Universität Bayreuth 12, 1, 38–41.
- EU (2021): Neue Vorschriften für künstliche Intelligenz – Fragen und Antworten. In: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/QANDA_21_1683. Brüssel (Abrufdatum: 1. August 2021).
- Friedman, M. (1970): A Friedman Doctrine – The Social Responsibility of Business Is to Increase Its Profits, September 13, 17.
- Gartner (2019): Top 10 Strategic Technology Trends for 2020. In: https://www.gartner.com/smarterwithgartner/gartner-top-10-strategic-technology-trends-for-2020/. (Abrufdatum: 1. August 2021).
- Manzeschke, A./Brink, A. (2020a): Ethik der Digitalisierung im Gesundheitswesen. In: Frenz, W. (Hrsg.): Handbuch Industrie 4.0. Recht, Technik, Gesellschaft. Berlin/Heidelberg, 1101–1117.
- Manzeschke, A./Brink, A. (2020b): Ethik der Digitalisierung in der Automobilbranche am Beispiel selbstfahrender Autos. In: Frenz, W. (Hrsg.): Handbuch Industrie 4.0. Recht, Technik, Gesellschaft. Berlin/Heidelberg, 713–718.
- Manzeschke, A./Brink, A. (2020c): Ethik der Digitalisierung in der Finanzbranche am Beispiel der Finanzdienstleistungen. In: Frenz, W. (Hrsg.): Handbuch Industrie 4.0. Recht, Technik, Gesellschaft. Berlin/Heidelberg, 1407–1413.
- Manzeschke, A./Brink, A. (2020d): Ethik der Digitalisierung in der Industrie. In: Frenz, W. (Hrsg.): Handbuch Industrie 4.0. Recht, Technik, Gesellschaft. Berlin/Heidelberg, 1101–1117.
- PwC (2020): Digitale Ethik. Orientierung, Werte und Haltung für eine Digitale Welt. In: https://www.pwc.de/de/managementberatung/pwc-digitale-ethik-white-paper.pdf. (Abrufdatum: 1. August 2021).
- Winter, A./Esselmann, F./Brink, A./Germelmann, C. C. (2021): Menschenzentrierung als Ziel des Verbraucherschutzes im digitalen Kontext. Mit einem Higher Purpose in die praktische Umsetzung. In: Roth, S. & Corsten, H. (Hrsg.): Handbuch Digitalisierung. München (im Erscheinen).
Drei Fragen an Staatssekretär Prof. Dr. Christian Kastrop
- Warum ist CDR ein wichtiges Thema für die Verbraucherpolitik?
Durch die Unterzeichnung des Kodex und das Engagement in der CDR-Initiative übernehmen die Unternehmen freiwillig Verantwortung für einen verbraucherfreundlichen digitalen Wandel. Das Vertrauen der Verbraucher*innen wird hierduch gestärkt. Vertrauen ist die wichtigste Währung in der digitalen Welt!
- Warum sind die Prinzipien, die dem Kodex zugrunde liegen, wichtig?
Prinzipien geben grundlegende Orientierung und Motivation für unser Verhalten. Unternehmenshandeln im engeren und im gesellschaftlichen Interesse sollte immer menschen- und werteorientiert ausgerichtet sein.
- Warum hat das BMJV diese Initiative ins Leben gerufen?
Mit der CDR-Initiative haben wir ein Forum geschaffen, in dem sich Wirtschaft, Gesellschaft und Politik dauerhaft austauschen und verständigen, wie eine ökonomisch erfolgreiche und gemeinwohlorientierte Gestaltung der digitalen Transformation gelingen kann.
Informationen für Unternehmen
Unternehmen sind eingeladen, der Initiative beizutreten, wenn sie
- ihr Engagement in der Gestaltung einer verantwortlichen Digitalisierung zeigen,
- über Branchen- und Unternehmensgrenzen hinweg und im Austausch mit der Politik lernen und/oder
- das Thema mit uns zu einem Europäischen Wettbewerbsvorteil entwickeln wollen.
Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft sind Engagement im Bereich CDR, die Anerkennung des Kodex und entsprechendes Reporting.
- Ansprechpartner CDR-Initiative: cdr-initiative@bmjv.bund.de
- Webseite der CDR-Initiative: https://cdr-initiative.de
- Begleitung der CDR-Initiative durch concern GmbH: concern.de und Universität Bayreuth, Institut für Ethik und Management: www.i-em.de sowie ConPolicy: www.conpolicy.de