4 Ausdifferenzierung der Ethik in komplexe Bezugskontexte

4.1 Vorbemerkung
4.2 Angewandte Ethik
4.3 Bereichsethik
4.4 Referenzen und Literatur

Das Kapitel in Stichpunkten

  • Bei der Angewandten Ethik werden theoretische Reflexionen der Ethik mit praktischen Orientierungsfragen verquickt.
  • Die Aufgabe der angewandten Ethik ist es, auf Orientierungsprobleme der modernen Gesellschaft zu reagieren. Grundbegriffe und Prinzipien der Ethik und Moral werden im Kontext gegebener Sachverhalte reflektiert.
  • Aufgrund der Schnelligkeit und Dynamik gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen ist eine ethische Bewertung von Sachverhalten (heute) nicht mehr ohne weiteres zu sehen.
  • Häufig werden auch Verfahren zur beratenden Unterstützung von politischen Willensbildungen und zur Herstellung gesellschaftlicher Konsense mit dem Prädikat Ethik versehen.
  • Mit Blick auf die Beratungs- und Orientierungsfunktion von Ethikräten oder Ethikkommissionen kann man Ethik auch als eine Aktivität an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft verstehen.
  • Der Deutsche Ethikrat beschäftigt sich auch mit Themen, die den Anwendungsbereich der IT-Sicherheit betreffen können, wie beispielsweise „Big Data“, Datenschutz in Bezug auf gesundheitsrelevante Anwendungsbereiche oder das Thema „Mensch und Maschine“ in der KI.
  • Einem Konsens gehen notwendigerweise Diskurse voraus, bei denen es um die Beleuchtung und Analyse von ethischen Problemstellungen kommt, denen eine höchst praktische Relevanz innewohnt.
  • Eine Bereichsethik könnte man als einen sehr spezifischen Teil der angewandten Ethik bezeichnen. Als Bereich versteht man dabei eine mehr oder weniger scharf abgrenzbare Sphäre einer menschlichen Praxis, die auf ihre eigene Weise moralische Probleme und Fragenstellungen aufwirft. Die Cybersecurity-Ethik kann man als Bereichsethik interpretieren.
  • Wenngleich aus den bekannten theoretischen Ethiken durchaus allgemeine Ableitungen für einen bestimmten Sachverhalt gemacht werden können, ist dennoch die Reflexion auf die Sachzusammenhänge und den bereichsspezifischen Wissensstand notwendig, um zu einer qualifizierten Beurteilung einer moralischen Fragestellung in einer konkreten lebensweltlichen Handlungssituation zu kommen.
  • Ethische Probleme, die durch Erfolge der IuK-Technologien aufgeworfen werden, können nicht immer ohne weiteres im Sinne einer Bereichsethik behandelt werden. Tatsächlich sind von den aktuellen datengetriebenen Entwicklungen auch die Grundlagen der Ethik überhaupt betroffen.

 

4.1 Vorbemerkung

Seit etwa der Mitte des letzten Jahrhunderts haben sich zunehmend sogenannte angewandte Ethiken entwickelt und etabliert. Wie es das Wort schon aussagt, wird damit der konkrete Anwendungsbezug in einem lebensweltlichen Zusammenhang in besonderen Maße hergestellt. Das soll aber keineswegs heißen, dass die klassischen theoretischen Ethiken, von denen wir im vorangegangenen Kapitel vier exemplarische Ansätze kennengelernt haben, obsolet werden. Im Gegenteil, schon immer haben die Ethiken höchst praktische Relevanz. Seit jeher stehen die Fragen des guten Lebens bzw. des ethisch richtigen Handelns im Zentrum ethischer Reflexion. Darum geht es den normativen Ethiktheorien, wenn sie das ihnen eigene moralische Prinzip (z.B. der gute, vernünftige Wille, oder die Maximierung von Glück bzw. Lust) begründen. Es liegt dann an der handelnden Person – so wie wir es am Beispiel der IT-Spezialistin im vorherigen Kapitel gesehen haben – diese Prinzipien auf gegebenen Situationen hin zu reflektieren und zu beurteilen, um angemessen zu handeln. Insofern sind die theoretischen Ethiken höchst praxisrelevant und wichtig bei der Ausgestaltung unseres menschlichen Zusammenlebens.

Angewandte Ethiken, wie wir sie im Folgenden kennenlernen werden und die uns schon bekannten theoretischen Ethiken sind keine zwei eindeutig voneinander getrennten Angelegenheiten. Letztlich stehen sie immer auch im Bezug zueinander. Sie erschließen die Handlungspraxis aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Akzentuierungen, woraus sich in unterschiedlichen Bereichen je spezifische praktische Erkenntnisse und Handlungsoptionen ergeben können.(1)

 

4.2 Angewandte Ethik

Die Angewandte Ethik ist – wenn man sie überhaupt im Singular erfassen kann – ein sehr komplexes Unterfangen, bei dem es darum geht, theoretische Reflexionen der Ethik mit praktischen Orientierungsfragen zu verquicken. Grundbegriffe und Prinzipien der Ethik und Moral werden im Kontext gegebener Sachverhalte reflektiert und mit spezifischen Fragestellungen und Anforderungen einer menschlichen Praxis dergestalt verbunden, dass es zu einer spezifischen Ausprägung einer „eigenen“ Ethik in einem Anwendungskontext kommen kann. Dahinter steckt eine zunehmende Orientierungslosigkeit in modernen Gesellschaften. Während sich „über weite Strecken der Geschichte der Ethik eine große Konstanz hinsichtlich der konkreten Einschätzungen des guten Handelns“(2) findet, ist dies aufgrund der Schnelligkeit und Dynamik gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen heute so nicht mehr ohne weiteres zu sehen.

Häufig werden auch Verfahren zur beratenden Unterstützung von politischen Willensbildungen und zur Herstellung gesellschaftlicher Konsense mit dem Prädikat Ethik versehen. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Deutsche Ethikrat, der gleichermaßen vom Deutschen Bundestag und der Bundesregierung berufen wird. Sein Auftrag ist in §2 EthRG (Ethikratgesetz) so bestimmt: „Der Deutsche Ethikrat verfolgt die ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben.“(3) Nach seiner eigenen Beschreibung beschäftigt sich der Deutsche Ethikrat „mit den großen Fragen des Lebens.  Mit seinen Stellungnahmen und Empfehlungen gibt er Orientierung für die Gesellschaft und die Politik.“(4)

Mit Blick auf die Beratungs- und Orientierungsfunktion von Ethikräten oder Ethikkommissionen kann man Ethik auch als eine Aktivität an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft verstehen. Damit bekommt sie gewissermaßen eine Art politischer Funktion. Denn bei der Politik geht es nicht zuletzt um den Ausgleich der unterschiedlichen Interessen, die von unterschiedlichen Akteuren mit unterschiedlicher Macht verfolgt werden. Zwar ist das Kerngeschäft der Ethik die kritische Hinterfragung von moralischen Argumentationen und Ansprüchen. Doch je mehr sie dabei zur gesellschaftlichen Meinungsbildung und zur Herstellung von gesellschaftlichen Konsensen beiträgt, umso mehr dringt sie in den originären Bereich des Politischen ein.(5)

Der Deutsche Ethikrat beschäftigt sich auch mit Themen, die den Anwendungsbereich der IT-Sicherheit betreffen können, wie beispielsweise „Big Data“ (6) und Datenschutz in Bezug auf gesundheitsrelevante Anwendungsbereiche. Auch das Thema „Mensch und Maschine“(7), bei dem es insbesondere um das Zusammenwirken von Fortschritten auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz mit Informations- und Biotechnologien geht, kann Anwendungsfelder der IT-Sicherheit betreffen.  Hier geht es nicht zuletzt auch um das Selbstbild und Selbstverständnis des Menschen, das durch die Verbindung dieser modernen Technologien und deren Möglichkeiten herausgefordert ist. In grundlegender Perspektive geht es um nichts weniger als die Würde des Menschen, die unter den Bedingungen neuer technologischer Möglichkeiten erfasst und geschützt werden muss. Eben diese Würde ist, die – wie wir in den voran gegangenen Kapiteln erfahren haben – sowohl Schutzgut der IT-Sicherheit, als auch zentraler Bezugspunkt ethischer Reflexion.

Durch die enge Verquickung normativer Fragen mit Erkenntnissen und Erfahrungen aus bestimmten Handlungszusammenhängen des menschlichen Miteinanders steigt nicht nur die inhaltliche Komplexität der angewandten ethischen Reflexion. Es kommt auch zu einer Pluralisierung der ethischen Zugänge und Grundhaltungen, die durch die Beteiligten vertreten werden. Schließlich sind Ethikräte oder -kommissionen keine homogenen Gruppen, sondern durchaus mit Vertretern und Vertreterinnen interdisziplinärer Fachgebiete und Professionen besetzt. Insofern wird es schwierig, wenn nicht gar prinzipiell unmöglich, dass ein einziges moralisches Prinzip aus der theoretischen Ethik durchgesetzt werden kann, das dann auf einen konkreten Fall hin durchdekliniert werden könnte. Anstelle dessen kommt dem Konsens eine besondere Bedeutung zu.

Gerade wenn es um Grundüberzeugungen, also Prinzipen geht, ist eine Konsensbildung in der Regel nicht ohne Reibung möglich. Daher gehen einem Konsens notwendigerweise Diskurse voraus, bei denen es um die Beleuchtung und Analyse von ethischen Problemstellungen kommt, denen eine höchst praktische Relevanz innewohnt. In Auseinandersetzungen zwischen kollidierenden Prinzipien treffen grundsätzliche Werthaltungen aufeinander, die bisweilen unversöhnlich sind. Man denke etwa an aktuelle Diskussionen um aktive Sterbehilfe auf Verlangen, wie sie beispielsweise in dem Spielfilm „Gott“(8) nach Ferdinand von Schirach am Fall des Sterbewunsches eines 78jährigen gesunden Mannes exemplarisch vor dem Deutschen Ethikrat diskutiert wird. Zur Veranschaulichung von „angewandten“ Ethikdiskussionen in Bezug zu einem konkreten Fall ist dieser Film sehr empfehlenswert. Die Zuschauerinnen und Zuschauer wurden im Anschluss an die Ausstrahlung der Sendung im November 2020 zur Abstimmung darüber aufgerufen, ob der sterbewillige Mann das notwendige Mittel bekommen soll oder nicht. In einer anschließenden Talkshow wurde das Thema weitergeführt, was man durchaus als Element des faktischen gesellschaftlichen Diskurses zu diesem Thema interpretieren kann.

In einem Spielfilm über eine exemplarische Ethikdiskussion kann man das Ende offenlassen. Man muss sich nicht entscheiden. Und das Zuschauervotum ist ein Stimmungsbild ohne Konsequenzen. In konkreten Handlungssituationen jedoch kann man unbequeme Entscheidungen in der Regel nicht so einfach aussitzen. Vor allem dann nicht, wenn politische Entscheidungen anstehen und Gesetze formuliert und verabschiedet werden müssen, die auf ethisch konfliktäre Herausforderungen an der Schnittstelle des technisch Machbaren mit dem ethisch Gebotenen reagieren sollen. Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle berechtigten Interessen von Betroffenen umfassend wahrgenommen, verstanden und berücksichtigt werden können. Insofern kommt der Ethik die  Funktion zu, in Kenntnis lokaler und situativer Gegebenheiten „das Unentscheidbare zu adressieren und im vollen Bewusstsein der Paradoxie zu entscheiden.“(9) Letztlich sind demokratisch legitimierte politische Kompromisse notwendig, um lebenspraktisch handlungsfähig zu bleiben. Denn „Unbestreitbar ist: Wenn es sich um echte Prinzipienkollisionen handelt, sind ´glatte´ Lösungen per definitionem unmöglich. […] Ohne Entscheidung kann es daher keinen Weg aus dem Konflikt geben.“(10)

Nun kann man kritisch einwenden, dass ein faktisch erzielter Konsens insofern problematisch sein kann, als die in ihm zur Wirkung gekommenen Richtigkeitsvermutungen den eigenen Überzeugungen von einzelnen Diskursteilnehmenden nicht zwangsläufig einer ethischen Überprüfung standhalten müssen. Dies wäre nur in einem idealen Diskurs ohne Macht- und Herrschaftsstrukturen theoretisch so.(11) In der Praxis unserer Lebenswelt ist eine solche rein theoretische Situation nie gegeben. Mit anderen Worten: In Kompromisse aus konkreten ethischen Diskursen können Positionen einfließen, die unter Umständen selbst unethisch sind. Um solche Positionen zu entlarven und argumentativ zu kontern ist die gründliche Auseinandersetzung mit Ethik unverzichtbar.

Die Aufgabe der angewandten Ethik ist es, auf Orientierungsprobleme der modernen Gesellschaft zu reagieren. Der rasche soziale Wandel und die durch die Digitalisierung beschleunigten technischen Innovationen erfordern eine reflektierte Anwendung und Anpassung ethischer Bewertungen an die jeweils neue Situation. Eine solche Anwendung ist jedoch nicht (nur) als Top down Prozess zu verstehen, bei dem eine gegebene ethische Norm auf einen Fall bezogen wird. Vielmehr findet durch die Verquickung von Erfahrungen und Expertenwissen aus unterschiedlichen Bereichen mit diversen Ethiktheorien auch eine Fortschreibung und Verschiebung von Normen und Prinzipien statt. So verstanden ist eine angewandte Ethik selbst normbildend und auf eine eigenständige Weise normativ. Je nach Handlungskontext können dabei mehr oder weniger unabhängige und unterschiedliche Bereichsethiken entstehen.

 

4.3 Bereichsethiken

Eine Bereichsethik könnte man als einen sehr spezifischen Teil der angewandten Ethik bezeichnen. Als Bereich versteht man dabei eine mehr oder weniger scharf abgrenzbare Sphäre einer menschlichen Praxis, die auf ihre eigene Weise moralische Probleme und Fragenstellungen aufwirft.  Solche bereichsspezifischen Probleme resultieren aus dem speziellen fachlichen Zusammenhang unter Berücksichtigung empirischer, also konkreter Gegebenheiten. Wenngleich aus den bekannten theoretischen Ethiken durchaus allgemeine Ableitungen für einen bestimmten Sachverhalt gemacht werden können, ist dennoch die Reflexion auf die Sachzusammenhänge und den bereichsspezifischen Wissensstand notwendig, um zu einer qualifizierten Beurteilung einer moralischen Fragestellung in einer konkreten lebensweltlichen Handlungssituation zu kommen.(12)

Bisweilen werden Bereichsethiken auch als Bindestrich-Ethiken bezeichnet, womit jedoch oft ein etwas abwertender Tenor mitschwingt, da man meinen könnte, dass die reine Ethik verwässert würde. So spricht man beispielsweise von Bio-Ethik, Gen-Ethik, Medizin-Ethik, Wirtschafts-Ethik, Umwelt-Ethik, Unternehmens-Ethik, oder Technik-Ethik usw., um nur einige zu nennen. In jüngster Zeit taucht auch zunehmend der Begriff Digitale Ethik auf. Es dürfte nach dieser (unvollständigen) Aufzählungen von Bereichsethiken unmittelbar einleuchten, dass jede dieser Bereichsethiken spezifische moralische Probleme zu verhandeln hat, wofür Fachwissen unabdingbar ist. Damit liegt keineswegs eine Verunreinigung der reinen Ethik vor, sondern vielmehr eine interdisziplinäre Bereicherung durch die die ethische Reflexion auf den bereichsspezifischen Anwendungsfall hin fruchtbar gemacht werden kann.

Zwischen den Bereichsethiken kann es auch zu Überlappungen kommen. Das hängt davon ab, wie komplex ein moralisch herausfordernder Sachverhalt ist. Die Coronakrise beispielsweise wirft unmittelbar medizinethische Fragen auf, etwa wenn es um die Priorität der Versorgung von Patienten unter den Bedingungen knapper Ressourcen geht. Wer von den Schwerstkranken bekommt das Beatmungsgerät und wer bekommt keins; weil nicht genügend für alle da sind? Auch unter unternehmensethischer Perspektive wirft die Coronakrise moralische Fragen auf, etwa wenn es um die Verantwortung für die Belegschaft geht. Können wir unsere Mitarbeitenden trotz Umsatzeinbußen (z.B. bei Fluggesellschaften oder der Gastronomie) behalten oder müssen wir sie entlassen? Die Gen-Ethik wiederum ist herausgefordert, wenn es um die Frage nach der Herstellung und Verwendung eines Impfstoffes geht, der mit einer genetischen Bauanleitung für die RNA operiert. Dürfen medizinische Wirkstoff hergestellt und verwendet werden, die in das genetische Material eines Menschen eingreifen? Die IT-Sicherheit und damit der Bereich der Digitalen Ethik ist gefragt, etwa wenn es den Datenschutz beim Einsatz der Corona-App oder ähnlicher digitaler Anwendungen geht. Wie hoch müssen die Sicherheitsbarrieren für die gesammelten Daten sein und welche moralischen Anforderungen müssen an IT-Expert*innen gestellt werden, die im Rahmen ihrer Tätigkeiten auf die Daten zugreifen könnten? Last but not least fällt die Corona-Krise in den Bereich der Politik-Ethik, die die gesamtgesellschaftliche Dimension im Blick haben muss, etwa wenn es um die Folgeneinschätzung der Pandemie und die Wahrung des inneren Friedens geht? Welche gesellschaftlichen Gruppen müssen wie behandelt oder geschützt werden; wie müssen ethische Güter (z.B. Gesundheit oder Freiheit) mit ökonomischen Gütern (z.B. Einkommen oder Insolvenzschutz) miteinander abgewogen werden, um noch als fair und legitim wahrgenommen zu werden?

Am Beispiel der Coronakrise zeigt sich, dass ein Phänomen in verschiedene Bereiche fallen kann, wo es in der Verquickung von ethischem mit bereichsspezifischem Fachwissen unterschiedlich hinsichtlich seiner Bedeutsamkeit bewertet wird. Es zeigt sich aber auch, dass nicht alle Bereiche immer trennscharf voneinander abgegrenzt werden können. Außerdem kann es dazu kommen, dass je nach Definition Bereiche ineinander fallen und nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. So könnte man informatorischen Techniken – die letztlich zu dem Phänomen der Digitalisierung geführt haben – eine Sonderstellung zumessen. Der folgende Absatz erklärt die Zusammenhänge:

„Ethische Probleme, die durch Erfolge der IuK-Technologien aufgeworfen werden, können nicht mehr ohne weiteres im Sinne einer Bereichsethik behandelt werden. Tatsächlich sind von den aktuellen datengetriebenen Entwicklungen die Grundlagen der Ethik überhaupt betroffen. […] ´Digitalisierung´, ´Datafizierung´, ´Big Data´ und wie sonst die gegenwärtigen Schlagworte lauten mögen, bezeichnen die automatisierte Erzeugung und Verarbeitung von Daten, welche in alle Bereiche menschlicher Lebenswelt eindringt. […] Diese technische Entwicklung kann als Erscheinung einer Tendenz verortet werden, nämlich die eines immer stärker um sich greifenden quantifizierenden Zugriffs auf Mensch, Gesellschaft und Natur, die im spezifischen Weltverhältnis der europäischen Zivilisation angelegt ist und sich zunehmend verselbständigt. […] Zu diesen Entwicklungen sind Fragen in ethischer, wissenschaftstheoretischer, anthropologischer und sozialer Hinsicht zu stellen: Was heißt es, Handlungen und Entscheidungen immer stärker und umfassender an Maschinen zu delegieren? Was heißt dies für die bisherigen Träger dieser Leistungen? Welche Bedeutung hat dies für die Wissenschaft selbst, wie verändern sich bewährte Erkenntnis- und Wahrheitskriterien?“(13)

Mit diesen Fragen sind einige der Fragefelder aufgemacht, die durch die neuen Möglichkeiten und Dynamiken der Informations- und Kommunikationstechnologien entstehen. Es sind aber nur einige Fragefelder. Der Gesamtkosmos der alten, der adaptierten und auch der ganz neuen ethisch relevanten Problemlagen dessen, was unter dem Dachbegriff Digitalisierung firmiert, durchdringt letztendlich alle Bereiche unserer modernen, digitalen Gesellschaft. Wenn nun eine „Digitale Ethik“(14) das Ziel verfolgt, Menschen zu einem angemessenen Umgang mit den digitalen Technologien und deren Auswirkungen zu befähigen; wenn es darum geht, Probleme der Digitalität zu erkennen, Lösungen zu entwickeln sowie ethische Dilemmata zu sehen und beurteilen, dann betreiben wir in unserem Kurs Ethik in der IT-Sicherheit auch Digitale Ethik. Den spezifischen Bereich, wenn man so will die Bereichsethik, die damit aufgemacht wird, könnte man „Cybersecurity-Ethics“ bezeichnen; ein Begriff der bislang noch sehr selten und nur näherungsweise in der englischsprachigen Literatur vorkommt.(15) Im deutschsprachigen Raum ist ein analoger Begriff für eine Bereichsethik der IT-Sicherheit, eine ITS-Ethik noch nicht etabliert. Es dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis auch dieses wichtige Feld sich etabliert.

 

4.4 Referenzen und Literatur

  1. Bayertz (1994: 8).
  2. Düwell (2002: 244).
  3. §2 (1) EthRG (2007).
  4. ethikrat.org.
  5. Vgl. Düwell (2002: 245).
  6. Vgl. Deutscher Ethikrat (2017).
  7. Vgl. Deutscher Ethikrat, Thema Mensch und Maschine.
  8. Schirach (2020).
  9. Baecker (2018: 211).
  10. Bayertz (1994: 33).
  11. Vgl. Kapitel 3.
  12. Vgl. zu diesem vertiefend beispielsweise Kapitel Bayertz (1994: 30); Nida-Rümelin (1996: 63ff.); Düwell (2002: 245).
  13. Wiegerling (2020: 3-4).
  14. Vgl. Grimm (2019: 13).
  15. Vgl. Manjikian (2018: xii).

Baecker, Dirk (2018): 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt. Merve Verlag Leipzig.

Bayertz, Kurt (1994): Praktische Philosophie als angewandte Ethik, in: Ders. (Hrsg.): Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik. Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg, 7- 47.

Deutscher Ethikrat: https://www.ethikrat.org/, letzter Abruf am 19.12.2020.

Deutscher Ethikrat. Thema: Mensch und Maschine.  https://www.ethikrat.org/themen/aktuelle-ethikratthemen/mensch-und-maschine, letzter Abruf am 19.12.2020.

Deutscher Ethikrat (2017): Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung. https://www.ethikrat.org/publikationen/publikationsdetail/?tx_wwt3shop_detail%5Bproduct%5D=4&tx_wwt3shop_detail%5Baction%5D=index&tx_wwt3shop_detail%5Bcontroller%5D=Products&cHash=7bb9aadb656b877f9dbd49a61e39df2f, letzter Abruf 19.12.2020.

Düwell, Marcus (2002): Angewandte oder Bereichsspezifische Ethik, in: Düwell, Marcus/ Hübenthal, Christoph/ Werner, Micha (Hrsg.): Handbuch Ethik. J. B. Metzler Verlag Stuttgart/ Weimar, 243-247.

EthGE – Ethikratgesetz (2007): Gesetz zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats. https://www.gesetze-im-internet.de/ethrg/BJNR138500007.html, letzter Abruf am 19.12.2020.

Grimm, Petra/ Kleber, Tobias O./ Zöllner, Oliver (2019): Digitale Ethik. Leben in vernetzen Welten, Reclam Verlag Ditzingen.

Manjikian, Mary (2018): Cybersecurity Ethics. An Introduction, Routledge Verlag Abington und New York.

Nida-Rümelin, Julian (1996): Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche. In: Ders. (Hrsg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch. Alfred Kröner Verlag Stuttgart, 2-85.

Schirach, Ferdinand von (2020): Gott, Fernsehspiel auf Das Erste, https://www.daserste.de/unterhaltung/film/gott-von-ferdinand-von-schirach/sendung/index.html

Wiegerling, Klaus (2020a): Automatische, informatische Datenerhebung, -verwaltung und Kommunikation, Kultur der Wissensgesellschaft. Lehrbrief, in Arbeit. Stand vom 09.08.2020.

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