5 Grundstruktur und Relevanz des Begriffs der Verantwortung

5.1. Vorbemerkung
5.2. Dialogische Grundstruktur der Verantwortung
5.3. Schuld und Haftung
5.4. Arten der Verantwortung

5.4.1. Rechtliche Verantwortung
5.4.2. Rollen- oder Aufgabenverantwortung
5.4.3. Handlungsverantwortung
5.4.4. Moralische Verantwortung
5.4.5. Retrospektive und prospektive Verantwortung
5.4.6. Positive und negative Verantwortung

5.5. Schlussbemerkung
5.6. Referenzen und Literatur

Das Kapitel in Stichpunkten

  • Verantwortung ist ein dialogisches Prinzip. Das bedeutet, dass es mindestens zwei Akteure braucht, damit eine Verantwortungsstruktur entsteht.
  • Verantwortung ist eine Reaktion (von Person B) auf eine Frage; und zugleich ist Verantwortung die Aufforderung (von Person A an B), auf eine Frage zu antworten.
  • Es liegt in der Natur der Sache, dass es sich bei (kontrovers diskutierten) Verantwortungsfragen vor allem um Fragen mit einer moralischen oder ethischen Qualität handelt.
  • Man kann sowohl für Handlungen als auch für Unterlassungen zur Verantwortung gezogen werden.
  • Bei der Schuld und der Verantwortung geht es jeweils um die Zurechnung eines Ereignisses oder eines Sachverhalts. Es geht darum, jemanden für etwas in Anspruch zu nehmen und – im strafrechtlichen Sinne – in Haftung zu nehmen, oder – im ethisch-moralischen Sinne – zur Verantwortung zu ziehen.
  • Für die Zuschreibung von Verantwortung sind drei Frageworte notwendig „Wer?“, „Wofür?“ und „Gegenüber Wem?“.
  • Expert*innen der IT-Sicherheit können es mit unterschiedlichen Arten der Verantwortung zu tun bekommen, wie die folgenden Stichpunkte zeigen.
  • Bei der rechtlichen Verantwortung handelt es sich eine um mehr oder weniger konkret einklagbare Sanktionierung von einem Fehlverhalten.
  • Folgende Arten von Verantwortung können unterschieden werden:
  • Unter Rollenverantwortung versteht man in einem soziologischen Sinne die Erwartungen und Ansprüche an die Verhaltensweise einer Person, die an die ihre gesellschaftliche Position geknüpft sind.
  • Bei der Handlungsfolgenverantwortung steht das Ergebnis des eigenen Handelns im Blickpunkt. Man geht hierbei von einem direkten und starken Kausalverhältnis aus.
  • Die universalmoralische Verantwortung ist die umfassendste und grundlegendste Art der Verantwortung.
  • Der Tatsache, ob ein zu verantwortendes Ereignis in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt, wird mit den Begriffen retrospektive (zurückblickende) bzw. prospektive (vorausschauende) Verantwortung konkretisiert.
  • Eine positive Verantwortung zielt auf die Herbeiführung eines als positiv bewerteten, gewünschten Zustands.
  • Eine negative Verantwortung hingegen zielt auf die Vermeidung eines als negativ bewerteten, ungewünschten Zustands.
  • Die individuelle Verantwortung geht von einer einzigen Person aus, die die Verantwortung trägt, weil man ihr ein Ereignis direkt ursächlich zurechnet.

 

5.1 Vorbemerkung

Verantwortung ist ein wichtiger und zentraler Begriff bei der Diskussion über die Zuständigkeit von einzelnen Personen oder Gruppen für bestimmte Sachverhalte. Rechnet man jemandem Verantwortung zu oder zieht man jemanden zur Verantwortung, dann geht es darum, dass man dieser Person eine Verantwortlichkeit zuschreibt. Auch wenn uns der Begriff Verantwortung in alltäglichen Gesprächen und Zusammenhängen durchaus geläufig ist, so stellt er sich bei genauerer Betrachtung als sehr komplex dar. Verantwortung ist alles andere als leicht zu fassen. Das gilt auch im Bereich der IT-Sicherheit. Allein schon mit den beiden Fragen „Wer ist verantwortlich für die IT-Sicherheit?“ sowie „Wofür ist die IT-Sicherheit verantwortlich?“ kann man lange und strittige Diskussionen anzetteln.

Der Verantwortung kann auch eine ethische Dimension erwachsen, nämlich dann, wenn es um es um ethische oder moralische Sachverhalte geht. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir bereits gesehen, dass ethische Herausforderungen und Konflikte sehr komplex sein können, und dass deren Lösungen keineswegs einfach auf der Hand liegen. Entsprechend verhält es sich auch mit der Verantwortung. Die Zuschreibung von Verantwortung ist sehr voraussetzungsreich. Sie hängt sowohl mit den grundlegenden Werte- und Normensystemen einer Gesellschaft zusammen, als auch mit den Annahmen darüber, welche Akteure überhaupt verantwortungsfähig sein können. Man spricht dann von normativen bzw. von erkenntnistheoretischen Annahmen, die in die Zuschreibung von Verantwortung einfließen.(1) Die grundlegende Struktur der Verantwortung und ihre Abgrenzung gegen über den Begriffen Schuld und Haftung soll im Folgenden aufgezeigt werden. Anschließend werden einige verschiedene Arten von Verantwortung vorgestellt, deren Kenntnis hilfreich bei der Frage sein kann, in welcher Verantwortung Personen aus der IT-Sicherheit in unterschiedlichen Situationen stehen können.

 

5.2 Dialogische Grundstruktur der Verantwortung(2)

Zunächst einmal ist Verantwortung ein dialogisches Prinzip. Das bedeutet, dass es mindestens zwei Akteure braucht, damit eine Verantwortungsstruktur entsteht. Eine Person A stellt einer Person B eine Frage, die mit dem Fragewort „Warum?“ beginnt, und die Person B gibt darauf eine Antwort. Man kann also sagen: Person B „ver-antwortet“ die Frage von Person A. In dem Wort Verantwortung steckt das Wort Antwort. Verantwortung ist also eine Reaktion (von Person B) auf eine Frage; und zugleich ist Verantwortung die Aufforderung (von Person A an B), auf eine Frage zu antworten. Zwei Personen stehen in dieser Struktur in einem Verantwortungsverhältnis. Es liegt in der Natur der Sache, dass es sich bei (kontrovers diskutierten) Verantwortungsfragen vor allem um Fragen mit einer moralischen oder ethischen Qualität handelt. Zwar unterliegt auch die schlichte Frage „Wie spät ist es?“ dieser grundsätzlichen Struktur, doch ernsthafte Probleme und Auseinandersetzungen dürften bei der korrekten Antwort auf diese Frage kaum zu erwarten sein. Gleichwohl gibt es auch andere Formen der Verantwortung, etwa der Aufgaben- oder Rollenverantwortung die an die Funktion gebunden ist, die eine Person einnimmt.(3)

Aus der dialogischen Grundstruktur der Verantwortung mit mindestens zwei Akteuren, die einander Rede und Antwort stehen, lässt sich die weitere Struktur des Verantwortungsbegriffs erklären. So braucht es nämlich in einem Verantwortungszusammenhang immer ein Subjekt der Verantwortung: Wer ist verantwortlich? Dazu kommt ein Objekt der Verantwortung: Wofür wird Verantwortung eingefordert? Und schließlich ist eine Instanz nötig, an der die Verantwortung bemessen wird: Gegenüber wem ist man verantwortlich?

Jedes Verantwortungsverhältnis kann also – um es auf einen Nenner zu bringen – mit der folgenden formalen Frage beschrieben werden: Wer ist wofür verantwortlich und gegenüber wem? Und nicht zuletzt ist die Frage nach dem Warum zu stellen: Warum überhaupt fordert eine Person A Rede und Antwort von einer Person B? Diese letzte Frage verweist auf die Begründungszusammenhänge, die es rechtfertigen, dass Person B überhaupt zur Verantwortung gezogen werden kann. Die nachfolgende Abbildung veranschaulicht diesen Zusammenhang.

Abb. 5.1: Dialogische Struktur der Verantwortung. (Schmidt 2016: 70)

 

5.3 Schuld und Haftung

In einer begrifflichen Assoziation zur Verantwortung steht der Begriff der Schuld, die in philosophischer Hinsicht eine Art Vorläuferin der Verantwortung ist.(4) In der Regel geht es bei Schuld um die Handlungsfolgen und damit auch um die Zuschreibung von Verantwortlichkeit. Schuld hat man auf sich geladen, wenn man eine Tat begangen hat, die als Fehlverhalten qualifiziert wird. Je nach der bewertenden Instanz, die die Qualität des Verhaltens beurteilt kann Schuld theologisch, ethisch oder juristisch interpretiert werden. Im Plural verwendet – also von Schulden – spricht man bekanntermaßen im Zusammenhang mit finanziellen Verbindlichkeiten.(5)

In der gegenwärtigen Zeit findet sich der Begriff der Schuld vor allem noch im Strafrecht. Hier spielt sie eine wichtige Rolle bei der Beurteilung einer möglichen Straftat. In einem strafrechtlichen Sinne ist unter Schuld eine individuelle Vorwerfbarkeit, der strafbedrohten Tat zu verstehen.(6) Dabei stellt man darauf ab, dass der oder die Schuldige ursächlich an einem Ereignis beteiligt ist. Er muss etwas dafürkönnen. Das heißt, dass ein Ereignis so wie es eingetreten ist, ohne das Handeln der beschuldigten Person nicht eingetreten wäre.(7) Doch allein die Verursachung im Sinne einer Beteiligung reicht nicht aus, um die Schuldhaftigkeit einer Person an einem Ereignis festzulegen. Es bedarf zusätzlich der Vorwerfbarkeit. „Vorwerfbarkeit bedeutet, dass der Täter rechtswidrig gehandelt hat, obwohl er nach seinen Fähigkeiten und unter den konkreten Umständen der Tat in der Lage war, sich von der im Tatbestand normierten Pflicht zu rechtmäßigem Verhalten leiten zu lassen.“(8)

Im Bereich der IT-Sicherheit könnte man beispielsweise folgenden Fall(9) hinterfragen: Ein Mitarbeiter in der Buchhaltung eines Unternehmens erkennt im Alltagsstress eine Spam-Mail nicht und öffnet ihren Anhang mit Schadsoftware. Aus der kurzen Unachtsamkeit dieses Mitarbeiters werden wichtige Daten kompromittiert und es entstehen immense Kosten durch den Ausfall von Systemen. Ist nun das Cybersecurity-Team des Unternehmens „schuld“ daran, dass eine so dramatische Malware überhaupt im Postfach eines Mitarbeiters, der ansonsten mit IT-Sicherheit nichts weiter zu tun hat, landen konnte? Oder ist der Buchhalter „schuld“ daran, dass er den Anhang angeklickt hat? Immerhin sollte er wissen, dass man nicht einfach unbekannte Dateien öffnet? Oder sind sowohl das Cybersecurity-Team als auch der Buchhalter schuld daran? In rechtlicher Hinsicht kann nun also gefragt werden: Wer haftet? Wer muss für den Schaden und den vorausgehenden Fehler geradestehen?(10)

Bei der Schuld und der Verantwortung geht es jeweils um die Zurechnung eines Ereignisses oder eines Sachverhalts. Es geht darum, jemanden für etwas in Anspruch zu nehmen und – im strafrechtlichen Sinne – in Haftung zu nehmen, oder – im ethisch-moralischen Sinne – zur Verantwortung zu ziehen. Die Übergänge zwischen der Verwendung und Bedeutung der Begriffe Schuld und Verantwortung sind fließend, zumal in der Alltagssprache. In der gegenwärtigen ethischen Diskussion findet sich der Schuldbegriff kaum noch. Der Verantwortungsbegriff ist indes im 20. Jahrhundert in den Rang einer ethischen Schlüsselkategorie aufgestiegen.(11) Aus diesem Grund sowie wegen seiner Allgegenwart im öffentlichen Leben und vielfältigen Verwendungsweise soll im Weiteren der Fokus auf der Verantwortung liegen.

 

5.4 Arten von Verantwortung

Verantwortung bedarf der Zuschreibung an eine bestimmte verantwortliche Person oder eine Gruppe von Personen. Allgemeiner könnte man anstatt von Personen auch von Akteuren sprechen. Wir haben bereits gesehen, dass es zur Zuschreibung von Verantwortung die drei Frageworte „Wer?“, „Wofür?“ und „Gegenüber Wem?“ notwendig sind. Wir brauchen also ein Subjekt (wer), ein Objekt (wofür) und eine Instanz (gegenüber wem), um die Frage nach der Verantwortlichkeit in einem Sachverhalt zu klären. Darüber hinaus ist die Begründung (warum) sehr bedeutsam, nicht zuletzt um zu klären, ob wir es mit einer moralischen bzw. ethischen oder mit einer rechtlichen Verantwortung zu tun haben. Ausgehend von diesen Relationen und der oben skizzierten dialogischen Grundstruktur des Verantwortungsbegriffs zeigt sich, dass Verantwortung ein formaler Begriff ist. Mit ihm wird oft eine Einheit assoziiert, die es so aber nicht gibt und die schnell zu Missverständnissen und Konflikten in der Diskussion um konkrete Verantwortlichkeiten führen kann. Daher ist es wichtig und hilfreich verschiedene Arten bzw. Typen von Verantwortung unterscheiden zu können.  Die nachfolgende Auflistung erläutert einige der wichtigsten Verantwortungsarten und -typen.(12)

5.4.1 Rechtliche Verantwortung

Bei der rechtlichen Verantwortung handelt es sich eine um mehr oder weniger konkret einklagbare Sanktionierung von einem Fehlverhalten. Diese Verantwortung soll objektiviert sein und rechtlichen Schuldkriterien genügen. Eine IT-Spezialistin würde beispielsweise dann in einem rechtlichen Sinne zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie nachweislich gegen die Datenschutzgrundverordnung verstoßen hat, was gerichtlich geahndet wird. Im Sinne einer Haftbarkeit spricht man auch von Haftbarkeitsverantwortung.

5.4.2 Rollen- oder Aufgabenverantwortung

Unter einer Rolle versteht man in einem soziologischen Sinne die Erwartungen und Ansprüche an die Verhaltensweise einer Person, die an ihre gesellschaftliche Position geknüpft sind.(13) Eine Person ist folglich für die Erfüllung der Erwartungen an ihre Rolle oder auch Aufgabe – etwa bezüglich ihrer beruflichen Stelle – verantwortlich. So steht auch ein IT-Sicherheitsexperte in einer Aufgaben- bzw Rollenverantwortung. Von ihm werden beispielsweise gewisse Sorgfaltspflichten erwartet oder ganz elementar die korrekte und rechtzeitige Erfüllung der ihm gestellten beruflichen Aufgaben. Darüber hinaus können aus der beruflichen Position weitere Verantwortlichkeiten resultieren, etwa hinsichtlich der Repräsentation seines Unternehmens in der Öffentlichkeit oder hinsichtlich gewisser Loyalitäten dem Vorgesetzten und Arbeitgeber gegenüber.

Zugleich kann eine Person auch mehrere Rollen innehaben, die je nach Stellung in Gesellschaft und Beruf komplex mit einander verwoben sein können. Nicht selten kann es dabei zu Kollisionen der unterschiedlichen Erwartungen an die jeweiligen Rollen kommen. Man denke etwa an Rollenkonflikte die durch die Kollision von Erwartungen aus dem privaten und familiären Bereich mit Erwartungen aus dem beruflichen Bereich entstehen können.

Gerade im beruflichen Zusammenhang ist die Rollenverantwortung ihrem Wesen nach vor allem formal auferlegt, also mit der Position in der Organisation verbunden. Als solche ist diese Verantwortung in der Regel zunächst ethisch-moralisch neutral. Es geht darum, die gestellten Aufgaben zu erfüllen und sich in diesem Sinne gegenüber seinen Vorgesetzten zu verantworten. Gleichwohl kann eine zunächst nicht-moralische Rollenverantwortlichkeit im Job auch mittelbar moralisch relevant werden.(14) Wenn also eine IT-Expertin sehenden Auges und wissend um ihr Tun auf Anweisung ihres Vorgesetzten einen strafbaren Datenmissbrauch betreibt, wird auch sie moralisch sowie rechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Denn in blindem Gehorsam auch solche Aufgaben zur Zufriedenheit des Chefs auszuüben, die dazu beitragen, dass das Unternehmen unmoralische oder auch rechtswidrige Zwecke verfolgt, können kaum mit dem Verweis auf die Rolle als Arbeitnehmer*in begründet, mithin nicht damit entschuldigt werden.

5.4.3 Handlungsverantwortung

Bei der Handlungsfolgenverantwortung steht das Ergebnis des eigenen Handelns im Blickpunkt. Man geht hierbei von einem direkten und starken Kausalverhältnis aus. Das bedeutet, dass man davon ausgeht, dass das Eintreten eines Ereignisses auf eine vorangegangene Handlung zurückgeführt werden kann. Zwischen einem eingetretenen Ereignis und einer vorangegangenen Handlung wird also ein starker Ursache-Wirkungszusammenhang vermutet. Installiert ein Hacker beispielsweise Schadsoftware die zu einem Systemabsturz führt, dann ist dieser Absturz eine Folge der Handlung des Hackers und von diesem entsprechen zu verantworten. Die Handlungsverantwortung kann je nach Instanz und Begründungszusammenhang sowohl rechtlich als auch moralisch interpretiert und entsprechend zugeschrieben werden.(15)

Dabei kann man den Handlungsbegriff auch in negativer Hinsicht interpretieren, also mit Blick auf eine Nicht-Handlung. Das bedeutet, dass man nicht nur für das verantwortlich ist, was man tut, sondern auch für das, was man unterlässt. Auch die Unterlassung von eigentlich gebotenen Handlungen ist zu verantworten. Unterlässt es die Cybersecurity-Abteilung auf einen Angriff zu reagieren, dann hat sie notwendige und gebotene Handlungen nicht vollzogen und wird dieses Versäumnis – diese Unterlassung – verantworten müssen. Man sieht folglich, dass man sowohl für die Folgen von Handlungen, aber auch von Unterlassungen zur Verantwortung gezogen werden kann.

5.4.4 Moralische Verantwortung

Die universalmoralische Verantwortung ist die umfassendste und grundlegendste Art der Verantwortung. Sie kann auch die genannte rechtliche Verantwortung sowie die Rollen- und Handlungsverantwortung umfassen bzw. in diese hineinspielen. Sie ist prinzipiell nicht delegierbar und richtet sich an sehr grundlegenden Instanzen, gegenüber denen man verantwortlich ist, aus. Als mögliche prinzipielle Werte, an denen sich die moralische Verantwortung ausrichtet, können beispielsweise Humanität, Würde oder der Fortbestand des menschlichen Lebens genannt werden. Wenn also eine IT-Cyberexpertin eine Anweisung ihres Vorgesetzten verweigert, weil sie das Durchforsten von digitalen Krankenakten zwecks Berechnung eines Versicherungsrisikos mit dem Verweis auf die Verletzung der Menschwürde ablehnt, dann nimmt sie ihre persönliche moralische Verantwortung wahr.

5.4.5 Retrospektive und prospektive Verantwortung

Der Tatsache, ob ein zu verantwortendes Ereignis in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt, wird mit den Begriffen retrospektive (zurückblickende) bzw. prospektive (vorausschauende) Verantwortung konkretisiert. In der Regel denkt man an eine retrospektive Verantwortung, wenn nichts weiter dazu gesagt wird. Das trifft auf die klassische Handlungsverantwortung zu. Danach hat ein Verhalten in der Vergangenheit zu einem nun gegebenen Ereignis geführt. Man hat in der Vergangenheit etwas getan, was heute zu verantworten ist. Ein IT-Experte eines Onlinehändlers hat gestern einen Systemabsturz verursacht, der heute zu Ertragseinbußen aufgrund unmöglich gewordener Bestellungen geführt hat. Die Ertragseinbußen können dem vorangehenden Fehlverhalten des IT-Experten zugeschrieben werden, was er zu verantworten hat.

Von prospektiver Verantwortung hingegen spricht man, wenn es um die Erfüllung von Aufgaben geht. Man kann sich diese Art der Verantwortung im Sinne einer Für- bzw. Vorsorge vorstellen. Die Cyber-Security eines Unternehmens hat beispielsweise die Aufgaben, dafür Sorge zu tragen, dass die IT ihres Unternehmens auch künftig geschützt ist. Ihre Verantwortung und Zuständigkeit reicht in die Zukunft. Wie genau dieser Schutz zu erbringen ist muss dabei nicht einmal en détail definiert sein und kann in die „Selbstverantwortlichkeit“ des Teams oder einzelner Akteure gelegt werden.(16)

5.4.6 Positive und negative Verantwortung

Gerade im Zusammenhang mit der prospektiven Verantwortung kann man auch die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Verantwortung verdeutlichen. Dabei ist diese Unterscheidung aber kein exklusives Attribut der prospektiven Verantwortung; es kann auch retrospektiv sowie in Verbindung mit anderen Verantwortungsarten auftreten.

Eine positive Verantwortung zielt auf die Herbeiführung eines als positiv bewerteten, gewünschten Zustands. Das wäre zum Beispiel dann gegeben, wenn es der IT-Abteilung verantwortlich übertragen wurde, eine moderne bediener- und anwenderfreundliche IT-Infrastruktur zu entwickeln.

Eine negative Verantwortung hingegen zielt auf die Vermeidung eines als negativ bewerteten, ungewünschten Zustands. Das wäre zum Beispiel dann gegeben, wenn es der IT-Abteilung verantwortlich übertragen wurde, einen möglichen Datenverlust zu vermeiden.

Allgemeiner und in einem moralischen Sinne grundsätzlicher kann man sagen, dass die negative Verantwortlichkeit das Wohl eines Menschen oder einer Gemeinschaft nicht schädigen darf. Die positive Verantwortung zielt darüber hinaus darauf ab, das Wohl eines Menschen oder einer Gemeinschaft herzustellen oder zu verbessern.(17)

5.4.7 Individuelle und kollektive Verantwortung

In seinem Grundmodell handelt es sich bei dem Verantwortungsbegriff um eine individuelle Zuschreibung von Verantwortlichkeit. Man geht von einer einzigen Person aus, die die Verantwortung trägt, weil man ihr ein Ereignis direkt ursächlich zurechnet. Problematischer wird die Zurechnung von Verantwortung auf Gruppen. Gerade in unserer heutigen arbeitsteiligen und zugleich teambasierten Arbeitswelt müssen Wege gefunden werden um Verantwortlichkeiten, die aus einem Gruppenverhalten heraus resultieren bestimmen zu können. In einem arithmetischen Sinne, bei dem die Verantwortung beispielsweise für einen eingetretenen Schaden mathematisch geteilt auf die Verantwortlichen verteilt wird, kann eine gemeinschaftliche Verantwortung nicht funktionieren. Denn diese würde am Ende dem bekannten Bürowitz „Bei uns wird die Verantwortung so lange geteilt, bis keine mehr da ist!“ bestätigen. Mitverantwortung in einem gemeinschaftlichen Projekt soll also gerade nicht zu einem Verwässerungseffekt führen.(18) Selbst wenn man beispielsweise in einem Unternehmen einen kollektiven Akteur sieht, der quasi als juristische Person bei einem Fehler haftbar zu einer rechtlichen Verantwortung gezogen werden kann, so ist dies hingegen bei einer moralischen Verfehlung nicht möglich. Hier bleibt die Verantwortlichkeit immer auch an die Individuen gebunden, selbst wenn aufgrund eines kollektiven Fehlverhaltens der Gruppe eine kollektive Verantwortung zugesprochen wird. Um es an einem drastischen Beispiel zu verdeutlichen: Wenn mehrere Menschen gemeinsam und gleichermaßen einen Mord verüben, gefasst und verurteilt werden, dann bekommen alle die volle Strafe; es ist nicht davon auszugehen, dass sich ihre jeweilige Haftstrafe anteilig reduziert weil sie als Kollektiv gemodert haben.

 

5.5 Schlussbemerkung

In diesem Kapitel sollte die Vielfalt des Begriffs der Verantwortung beleuchtet werden. Je nach Kontext und Situation kann mit der Verwendung des Verantwortungsbegriffs eine andere Assoziation mitschwingen, was rasch zu Missverständnisse oder gar zu einer Verschärfung von Konflikten führen kann. Etwa dann, wenn aus einem Rollenverständnis einer Gruppe heraus eine Entscheidung getroffen wird, die aus der Perspektive der individuellen Handlungsverantwortung nicht mehr nachvollziehbar erscheint. Gleichwohl ermöglicht eine grundlegende Kenntnis des Verantwortungsbegriffs eine bessere Einschätzung von problematischen Situationen, die zu rationaleren Bewertungen und Entscheidungen führen kann.

 

5.6 Referenzen und Literatur

  1. Vgl. Heidbrink (2017: 4).
  2. Dieses Kapitel ist mit Anpassungen und Ergänzungen teilweise wörtlich übernommen aus Schmidt (2016: 69).
  3. Vgl. Lenk (1993: 118).
  4. Vgl. Werner (2002: 522).
  5. Vgl. Kiefer (2017).
  6. Vgl. JuraForum (2020): „Schuld“.
  7. Vgl. Hoerster (2012: 103).
  8. Rechtswörterbuch (2020): „Schuld“.
  9. Vgl. vertiefend zur Problemlage für die IT-Sicherheit: Härtner (2016).
  10. Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon (2018): „Haftung“.
  11. Vgl. Bayertz/ Beck (2016: 133).
  12. Vgl. auch vertiefend dazu Lenk (1993: 115f sowie 2017: 65ff.) und Heidbrink (2017: 10f).
  13. Vgl. Lexikon der Psychologie (2009): „Rolle“.
  14. Vgl. Werner (2002: 525).
  15. Vgl. Lenk (2017: 66).
  16. Vgl. Werner (2002: 521).
  17. Vgl. Petersen (2017: 29).
  18. Vgl. Lenk (1993: 127).

 Bayertz, Kurt (1995): Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, in: Ders. (Hrsg.): Verantwortung. Prinzip oder Problem? Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. S. 3-71.

Bayertz, Kurt/ Beck, Birgit (2017): Der Begriff der Verantwortung in der Moderne: 19.-20. Jahrhundert, in: Heidbrink, Ludger/ Langbehn, Claus/ Loh, Janina (Hrsg.): Handbuch Verantwortung. Springer VS Wiesbaden, 133-147.

Gabler Wirtschaftslexikon (2018): Haftung, https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/haftung-32110/version-255657, letzter Abruf am 29.12.2020.

Härtner, Markus (2016): Selbst schuld? In: Computerwoche vom 16.11.2016, https://www.computerwoche.de/a/selbst-schuld,3327016, letzter Abruf am 30.12.2020.

Heidbrink, Ludger (2017) Definitionen und Voraussetzungen der Verantwortung, in: Heidbrink, Ludger/ Langbehn, Claus/ Loh, Janina (Hrsg.): Handbuch Verantwortung. Springer VS Wiesbaden, 3-33.

Hoerster, Norbert (2012): Muss Strafe sein? Positionen der Philosophie. Verlag C. H. Beck München.

Kiefer, Jörn (2017): Sünde /Sünder, in: WiBiLex – Das Bibellexikon. https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/31970/, letzter Abruf am 29.12.2020.

JuraForum (2020): Schuld – Definition, Erklärung und Bedeutung im Strafrecht. Aktualisiert am 16.11.2020, https://www.juraforum.de/lexikon/schuld, letzter Abruf am 29.12.2020.

Lenk, Hans (1993): Über Verantwortungsbegriffe und das Verantwortungsproblem in der Technik., in: Lenk, Hans/ Ropohl, Günter (Hrsg.): Technik und Ethik, 2. rev. Auflage. Philipp Reclam jun. Verlag Stuttgart, 112-148.

Lenk, Hans (2017): Verantwortlichkeit und Verantwortungstypen: Arten und Polaritäten, in: Heidbrink, Ludger/ Langbehn, Claus/ Loh, Janina (Hrsg.): Handbuch Verantwortung. Springer VS Wiesbaden, 57-84.

Lexikon der Psychologie (2000): Rolle. Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/rolle/13132. Letzter Abruf am 31.12.2020.

Petersen, Thomas (2017): Unternehmensethik und Verantwortung, in: Petersen, Thomas/ Quandt, Jan Hendrik/ Schmidt, Matthias: Führung in Verantwortung. Ethische Aspekte für ein zeitgemäßes Management. SpringerGabler Verlag Wiesbaden, 25-39.

Schmidt, Matthias (2016): Reichweite und Grenzen unternehmerischer Verantwortung. Perspektiven für eine werteorientierte Organisationsentwicklung und Führung. SpringerGabler Verlag Wiesbaden.

Werner, Micha W. (2002): Verantwortung, in: Düwell, Marcus/ Hübenthal, Christoph/ Werner, Micha (Hrsg.): Handbuch Ethik. J. B. Metzler Verlag Stuttgart/ Weimar, 521-527.

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