8 Der Blick auf die Gesellschaft

8.1 Vorbemerkung
8.2 CDR – Corporate Digital Responsibility
8.3 Verständnisse von Digitalisierung

8.3.1 Digitalisierung als Datafizierung oder Digitization
8.3.2 Digitalisierung als Gestaltung von Geschäftsprozessen und -modellen
8.3.3 Digitalisierung als Digitale Transformation
8.3.4 Digitalisierung als Big Data und Herausforderung an die Cybersecurity

Das Kapitel in Stichpunkten

  • Die Digitale Transformation ist weit mehr als ihre betriebswirtschaftlich-technische Anwendung. Sie bezeichnet auch einen gesellschaftlichen Wandel, der eine andere, neue Qualität des Digitalen mit sich bringt, die unser soziales Miteinander verändert.
  • Die Herausforderungen, die die Digitalisierung an Mensch und Organisation stellt, sind so vielfältig wie ihre Anwendungsbereiche. Das betrifft nicht zuletzt auch die IT-Sicherheit.
  • „CDR“ steht für Corporate Digital Responsibility und verweist damit auf die Verantwortung von Unternehmen in Sachen Digitalisierung.
  • Wenn beispielsweise bestehende Produktionslinien zunehmend durch den Einsatz von digitalen Geräten gesteuert werden, dann werden diese Geschäftsprozesse digitalisiert. Wenn das ganze Geschäft mit seiner grundlegenden Wertschöpfung der digitalen Welt zuzuordnen ist und gewissermaßen auch einer neuen Logik des Digitalen folgt, dann hat man es mit digitalen Geschäftsmodellen, mit Digital Business, zu tun.
  • Die Vorstellung von einer großen Transformation und die damit einhergehende sprachliche Bezugnahme auf das Digitale verweisen darauf, dass die Digitalisierung weit mehr ist als der Einsatz neuer technologischer Mittel. Es ist die Art und Weise, mit der das Digitale unsere Gesellschaft und unser Verhalten durchdringt und – mehr oder weniger bewusst – verändert.
  • Mit dem Digitalen in seinen globalen Auswirkungen ist eine massiv verändernde Kraft ans Werk gekommen.
  • Der Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Integrität der Menschen muss auch unter den transformatorischen Kräften der Digitalisierung und der Autonomisierung von digitaltechnologischen Systemen gewährleistet sein. Darin liegt eine Verantwortlichkeit der IT-Sicherheit, die über den rein technologischen Aspekt der Cybersecurity hinausgeht.

 

8.1 Vorbemerkung

Die Digitalisierung ist ein Phänomen, das unsere Gesellschaft durchdringt und herausfordert. Ihr wohnt eine gesellschaftsverändernde Kraft inne, die mit einem Wandel in vielen Bereichen einhergeht, so auch im Bereich der Wirtschaft. In jüngster Zeit hat sich eine Vorstellung von CDR, Corporate Digital Responsibility, entwickelt. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Unternehmen hinsichtlich der Digitalisierung eine Verantwortung haben, zumal dann, wenn der Einsatz digitaler Technologien und Produkte in die Gesellschaft hineinwirkt. Immerhin kann man Unternehmen als wesentliche Treiber der Digitalisierung ausmachen. Die Nähe oder gar Verschmelzung digitaler Technologien in Unternehmen mit der Cybersecurity versteht sich quasi von selbst.

Im Bereich der Unternehmen bzw. der Wirtschaft wird mit Digitalisierung in der Regel die digitale Gestaltung von Geschäftsprozessen und der Auf- und Ausbau einer digitalen Infrastruktur verbunden. In diese Richtung zielen auch viele aktuelle Studien- und Weiterbildungsangebote ab, die gerne mit dem Label Digitale Transformation etikettiert werden.(1) Die Digitale Transformation ist jedoch weit mehr als ihre betriebswirtschaftlich-technische Anwendung. Sie bezeichnet auch einen gesellschaftlichen Wandel, der eine andere, neue Qualität des Digitalen mit sich bringt, die unser soziales Miteinander verändert.

Bereits die Diskussion des Ansatzes einer Corporate Digital Responsibility lenkt den Blick auf die Verwobenheit von Mensch, Organisation und Technik. Ein erweiterter Blick auf das gesellschaftliche Phänomen der Digitalen Transformation schärft darüber hinaus das Bewusstsein für die Wandlungsprozesse, in denen wir alle uns derzeit befinden. Nicht zuletzt die gesellschaftlichen Veränderungen und die ihnen zugrundeliegenden digitalen Dynamiken bestimmen auch die Verantwortlichkeiten der IT-Sicherheit. Schließlich ist ein gesellschaftlicher Wandel auch mit Anfälligkeiten und Risiken behaftet, zumal dann, wenn er von digitalen Technologien und der ihnen zugrundliegenden Datafizierung von Welt getrieben wird.

 

8.2 Corporate Digital Responsibility

In Anlehnung an das mittlerweile weithin bekannte Kürzel „CSR“ (Corporate Social Responsibility), unter dem eine erweiterte, über die ökonomische Dimension hinausgehende gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen zu verstehen ist, hat sich das Kürzel „CDR“ entwickelt. Dieses Akronym steht für Corporate Digital Responsibility und verweist damit auf die Verantwortung von Unternehmen hinsichtlich der Digitalisierung. Dass es sich bei CDR um ein junges Konzept handelt, das weit mehr ist als eine weiteres Management-Schlagwort und zunehmend an Bedeutung gewinnt, bestätigt und fördert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen seiner Initiative CSR – Made in Germany: „Immer mehr Unternehmen verfügen über Konzepte im Bereich Digitalisierung, die den verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen, aber auch mit Anspruchsgruppen, wie etwa Mitarbeitern und Lieferanten, festlegen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat aus diesem Grund bei der Verleihung des CSR-Preises 2020 eine eigene Kategorie zu CSR und Digitalisierung geschaffen, um Unternehmen für ihr vorbildliches Engagement in diesem Bereich auszuzeichnen.“(1) Bereits im Jahr 2018 hat das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz die „Corporate Digital Responsibility – Initiative“ ins Leben gerufen.

Es gibt wenig Gründe, weshalb sich CDR nicht als feststehende Begrifflichkeit, ähnlich der CSR, etablieren und sich nicht auch rasch mit konkreten Inhalten füllen sollte. Es gibt kaum noch Lebensbereiche, die nicht von der Digitalisierung erfasst sind, ob nun in unserem beruflichen oder privaten Umfeld. So sind gesellschaftliche Umbrüche zu erwarten und der verantwortliche Umgang mit Big Data und digitalen Technologien wird zu einer großen Herausforderung für die (digitale) Gesellschaft.(2) Die Herausforderungen, die die Digitalisierung an Mensch und Organisation stellt, sind so vielfältig wie ihre Anwendungsbereiche. Wenn man zudem davon ausgeht, dass die Digitalisierung alle Bereiche unseres Lebens durchdringen wird und wir derzeit noch am Anfang dieses Prozesses stehen, der auch oft als Transformation bezeichnet wird, dann wird die Digitalisierung allgegenwärtig, also ubiquitär. Und die Herausforderungen gehen fast ins Unendliche. Dabei sprechen wir nicht nur über die technische Seite, sondern vor allem auch über die gesellschaftsformende Kraft, die dem Phänomen der Digitalisierung innewohnt.(3)

Man kann durchaus der These zustimmen, dass eine menschen- und gesellschaftsförderliche Weiterentwicklung der digitalen Gesellschaft nicht ohne erhebliche Anstrengungen von CDR-Ansätzen auskommt.(5) Mit Blick auf Big Data, die Allgegenwart (Ubiquität) digitaler Technologien und die Datensouveränität der Bürger*innen ist eine untrennbare Verwobenheit von Mensch, Organisation und Digitalisierung zu erwarten. Es wird zu klären sein, wie wir als Individuen und wie Organisationen unter den Bedingungen, die die digitale Gesellschaft mit sich bringt, verantwortlich handeln und zugleich diese Bedingungen verantwortungsbewusst mitgestalten können.(6) Es ist anzunehmen, dass die Cybersecurity in diesem gesamtgesellschaftlichen Projekt noch mehr an Bedeutung gewinnen wird.

 

8.3 Verständnisse von Digitalisierung

Digitalisierung ist zu einem weithin bekannten Schlagwort geworden. Dennoch schwingen mit diesem Wort unterschiedliche begriffliche Verständnisse mit, je nachdem von wem und in welchem Zusammenhang von Digitalisierung gesprochen wird. Noch ist das sehr dynamische Feld in und um Digitalisierung nicht abschließend bestellt und kein Nutzer bzw. keine Nutzerin kann Anspruch auf die einzig richtige Verwendung des Begriffs erheben.

Die nachfolgenden Beschreibungen sind nicht als feststehende Definitionen zu verstehen, aber dennoch als sprachliche Bezugspunkte, an denen sich nach und nach ein differenziertes Verständnis dessen, was mit „Digitalisierung“ gemeint sein könnte, herauskristallisiert. Eine klarere begriffliche Orientierung, zu der sich die IT-Sicherheit ins Verhältnis setzen kann, dient auch dazu, die Beziehung von Ethik und IT-Sicherheit und deren Verantwortlichkeit zu strukturieren.

 8.3.1 Digitalisierung als Datafizierung oder Digitization  

Ein sehr direktes Verständnis von Digitalisierung setzt am grundsätzlichen Wesen der Informatik an. Die moderne Informatik entstand aus der Zusammenführung von ingenieurswissenschaftlichen und mathematischen Bestrebungen. Schon der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), den man als Urvater der informatischen Idee bezeichnen kann, betonte die Verbindung von pragmatischen mit theoretisch-mathematischen Momenten, die zur Meisterung von Welt und Leben notwendig seien. Das Ziel der modernen Informatik, deren Begriff 1957 durch den Informationstheoretiker Karl Steinbruch erstmals systematisch verwendet wurde, sollte die Entlastung des Menschen in allen Arbeitsprozessen sein.(7)

Die Idee hinter der Informatik beruht auf der Formalisierung von Rechen- und Steuerungsabläufen. Damit sollten aufwändige Arbeitsvorgänge automatisiert, rationalisiert und beschleunigt werden. Um solche Prozesse in einem informatischen Sinne berechenbar zu machen, müssen sie in die Zahlenwerte Eins und Null transferiert und als Zahlenfolge codiert werden. Sie müssen digitalisiert werden. Das Wort Digitalisieren geht dabei auf das lateinische Wort „digitus“ zurück, das der anatomische Begriff für den einzelnen Finger ist. Als „Digit“ findet man diesen Wortstamm auch im Englischen, womit ebenfalls „Finger“, aber auch „Ziffer“ gemeint ist.

Im Zuge der Digitalisierung werden Prozesse so formalisiert, also „in Form“ gebracht, dass sie als Ziffer (1 oder 0) bzw. als Ziffernfolge darstellbar und maschinell lesbar werden. Da in diesem Verständnis von Digitalisierung ehedem analoge Abläufe und Sachverhalte zu digitalen Daten gemacht werden, kann man auch von einer Datafizierung sprechen. Datafizierung heißt, etwas in Form eines Zahlenwertes, eines Datums, zu erfassen.(8)

In der englischen Sprache gibt es einen eigenen Begriff für die Überführung von analogen in digitale Informationen, der mit Digitization bezeichnet wird. „Digitization essentially refers to taking analog information and encoding it into zeroes and ones so that computers can store, process, and transmit such information.“(9) In der deutschen Sprache fehlt dieser eigene Begriff, weshalb die Digitalisierung im Sinne dieser elementaren Datafizierung aus dem Kontext erschlossen werden muss.

Mit dem recht engen Begriff der Digitalisierung als Digitization ist auch für die IT-Sicherheit eine eher enge Verantwortlichkeit definiert. Die Verantwortung der Cybersecurity bezieht sich in diesem Begriffskontext vornehmlich auf die sichere (und unverfälschte) Datafizierung und Sicherung der vom analogen ins digitale Format übertragenen Daten.

 8.3.2 Digitalisierung als Gestaltung von Geschäftsprozessen und -modellen

Ein sehr weit verbreitetes Verständnis von Digitalisierung bezieht sich auf die Gestaltung von Geschäftsprozessen bis hin zu digitalen Geschäftsmodellen durch den Einsatz digitaler Technologien. Wenn beispielsweise bestehende Produktionslinien zunehmend durch den Einsatz von digitalen Geräten gesteuert werden, dann werden diese Geschäftsprozesse digitalisiert. Man denke etwa an die digitale Steuerung und Automatisierung von Fertigungslinien bei der Automobilproduktion. Wenn darüber hinaus das ganze Geschäft mit seiner grundlegenden Wertschöpfung der digitalen Welt zuzuordnen ist und gewissermaßen auch einer neuen Logik des Digitalen folgt, dann hat man es mit digitalen Geschäftsmodellen, mit Digital Business, zu tun.(10) So ist es beispielsweise bei Internetplattformen wie facebook oder Airbnb. Im Fall der Automobilfertigung wird der Produktionsvorgang digital gestaltet, aber das Produkt bleibt größtenteils gegenständlich. Im Fall der Plattformen ist das Produkt selbst digital und ungegenständlich, und es wird natürlich auch digital erstellt.

Die Übergänge zwischen digitalen Produktionsprozessen und digitalen Geschäftsmodellen können bei dieser Betrachtungsweise fließend sein. Das kann man gut am Beispiel von Elektroautomobilen erkennen. In der Diskussion um den Wettbewerb des US-Herstellers Tesla mit deutschen Anbietern wie VW, BMW oder Daimler etc. tritt der Unterschied deutlich zutage. Während man BMW und Co (noch) als klassische Fahrzeuge interpretieren kann, die in ihrer Herstellung und Nutzung datafiziert und elektrifiziert werden, könnten Teslas Elektromobile als rollende Datensammelplattformen gesehen werden.(11) Man könnte sagen: Das eine sind computergesteuerte Fahrzeuge, das andere ist fahrende Software. Selbst wenn man davon ausgehen möchte, dass sich die Produkte von Tesla und von den deutschen Autobauern mit der Zeit eventuell einander annähern, wird doch deutlich, dass sie von unterschiedlichen Seiten und Denkansätzen herkommen und damit zunächst unterschiedliche digitale Qualitäten haben.

Mit Blick auf die IT-Sicherheit findet mit einem Verständnis von Digitalisierung als Geschäftsprozess bzw. -modell ein Anwachsen der Verantwortlichkeiten statt. Gerade in der Modellierung von neuen Geschäftsmodellen auf der Basis großer Datenmengen erhöht sich die Komplexität des betrieblichen Schutzgutes der Cybersecurity. Mit den Daten und ihren Verknüpfungen gehen nun Einblicke in die Geschäftstätigkeit und originäre Wertschöpfung eines Unternehmens einher. Ein Angriff auf diese Daten würde folglich nicht mehr nur bloße Datensätze betreffen, sondern auch den in ihren Verknüpfungen enthaltenen und sich dadurch potenzierenden Mehrwert für das Unternehmen.

In einer strengen begrifflichen Abgrenzung schützt die IT-Sicherheit bei der Datafizierung den Verlust von Datensätzen auf einer elementaren Basis. Bei digitalen Geschäftsmodellen schützt die IT-Sicherheit über die Daten hinaus das gesamte Unternehmen und dessen primäre Wertschöpfung und Ertragsmechanik. Die Verantwortung und die ethischen Anforderungen an die Cybersecurity sind von der Datafizierung hin zu digitalen Geschäftsmodellen deutlich gestiegen.

8.3.3 Digitalisierung als Digitale Transformation

Der umfassendste Verantwortungsbereich und mithin das größte Spektrum an ethischen Herausforderungen an die IT-Sicherheit – wie auch an uns alle – ergibt sich aus einem Verständnis von Digitalisierung als digitale Transformation.(12) Bisweilen spricht man auch von einem digitalen Wandel(13) oder etwas dramatischer sogar von einer digitalen Revolution.(14) Die Vorstellung von einer großen Transformation und die damit einhergehende sprachliche Bezugnahme auf das Digitale verweisen darauf, dass die Digitalisierung weit mehr ist als der Einsatz neuer technologischer Mittel. Es ist die Art und Weise, mit der das Digitale unsere Gesellschaft und unser Verhalten durchdringt und – mehr oder weniger bewusst – verändert.(15)

In der Soziologie sowie im Diskurs um eine nachhaltige Entwicklung unserer Umwelt und Gesellschaft ist die Idee einer „Großen Transformation“ lange bekannt. Unter Transformation kann man allgemein einen Umbruch verstehen, der bestehende Gesellschaftsverhältnisse von Grund auf verändert und neu definiert. Als Beispiel sei der Übergang von der Agrarwirtschaft zur Marktwirtschaft mit all seinen Veränderungen unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens genannt. In „The Great Transformation“(16) analysiert der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi bereits 1944 diese Veränderungsdynamiken und prägt den Begriff „Große Transformation“, der bis heute immer wieder aufgegriffen und inhaltlich gefüllt wird.

In einer aktuellen Version kann man unter der großen Transformation ein „identitätsstiftendes transdisziplinäres Narrativ […]“ verstehen. Das bedeutet eine sinnstiftende Erzählung, die in einer Gesellschaft kursiert und fortgesponnen wird und die „[…] ökologische, technologische, ökonomische, sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse zu einem Hoffnung gebenden Gestaltungsprogramm“(17) verdichtet. Ob nun die Digitalisierung als eine technologische Komponente der Transformation gesehen wird, die mit anderen gesellschaftlichen Subsystemen interagiert, oder ob die besagte Transformation ihrem Wesen nach eine Digitale Transformation sein wird, sei an dieser Stelle dahingestellt. Das wird sich im Laufe der Zeit zeigen und auch vom Narrativ der Erzählenden abhängen. Denn anstatt ausschließlich zu fragen, welche Probleme und Herausforderungen die Digitalisierung für die Gesellschaft mit sich bringt, kann man die Fragestellung auch drehen und fragen, für welches gesellschaftliche Problem die Digitalisierung die Lösung ist.(18) Schließlich muss eine Technologie an bestehende Strukturen anschlussfähig sein, um sich durchsetzen zu können und nicht als gute Idee zur falschen Zeit wieder zu verpuffen.

Mit dem Digitalen in seinen globalen Auswirkungen und in seiner Echtzeit ist eine massiv verändernde Kraft ans Werk gekommen. Das lässt sich nicht leugnen. Die Rede von Digitaler Gesellschaft, Digitaler Revolution oder auch mittelbar von Industrie 3.0, um nur ein paar Schlagworte zu nennen, verweist darauf. „Gerade die Geschichte der Digitalisierung ist […] durch die Entfesselung von Kräften gekennzeichnet, die unvorhergesehene Wirkungen entfalten und die Notwendigkeit nach sich ziehen, sie wieder einzuhegen, ohne dass sie sich grundsätzlich steuern ließen.“(19) Man denke etwa an den Einsatz von Algorithmen in der Medizin, an Mensch-Maschine-Interaktionen in der Pflege oder in Arbeits- und Produktionsprozessen, an die Verzerrung von Information und Wahrheit durch den Einsatz von Fake News oder von Bots in sozialen Netzwerken, um nur einige Aspekte zu nennen, die die digitale bzw. digitalisierte Gesellschaft ausmachen. Sie verändern durch ihren Einsatz die Gesellschaft und schaffen zugleich weitgehend irreversibel die Bedingungen für die Weiterentwicklung der Gesellschaft. Daraus entstehen nicht nur neue technologische Herausforderungen, sondern auch ethische Fragestellungen, von denen einige in Kapitel 10 näher beleuchtet werden.

 8.3.4 Digitalisierung als Big Data und Herausforderung an die Cybersecurity

Die Datafizierung durchdringt in ihrem Potenzial als Big Data mehr oder weniger alle unsere Lebensbereiche. Der Umgang mit Big Data wird so zu einer zentralen gesellschaftlichen Herausforderung und Gestaltungsaufgabe. Und über Big Data wird dieser gesellschaftliche Wandel, die (große, digitale) Transformation, zur größten Herausforderung an die Cybersecurity. Zwar ist die Digitalisierung von der Grundidee her zunächst eine binäre Codierung von Phänomenen in der echten Welt. Die datafizierten Phänomene sollen als Daten miteinander verknüpft und – bis hin zur Vorhersage der Zukunft – berechenbar gemacht werden.(20) Doch in der Folge entsteht aus Big Data, aus der Quantifizierung der Welt, aber auch eine neue Qualität. Die Ursache dafür liegt in der Rückkopplung von Big Data mit sich selbst und der Welt. Denn die geschaffenen Daten, die digital codierten Erkenntnisse und Muster aus der echten Welt, können zugleich auch wieder Voraussetzung für neue Berechnungen in der virtuellen Welt werden. Daraus können Strukturen entstehen, die in der analogen Welt wirksam werden und diese qualitativ verändern.(21)

Die folgenden beiden Beispiele sollen solche Strukturwirkungen veranschaulichen.

  • (a) Filterblasen und Kaufverhalten: Mit Blick auf Big Data, die Allgegenwart (Ubiquität) digitaler Technologien – global und in Echtzeit – sowie auf die Datensouveränität der Bürgerinnen und Bürger ist eine untrennbare Verwobenheit von Digitalisierung, Mensch und Organisation zu erwarten. Dazu kommen algorithmische Verstärkungen von Denk- und Verhaltensmustern mit konkreten Auswirkungen für Menschen und Unternehmen. Man denke etwa an die Algorithmen von Suchmaschinen und die daraus entstehenden Filterblasen der Nutzerinnen und Nutzer, die auf Kaufentscheidungen und mithin auf Konsumangebote von Unternehmen einwirken.(22) Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn die Algorithmen immer mehr von demselben zum Kauf mit einem Klick anbieten, von dem sie berechnet haben, dass es den Präferenzen der Nutzer*innen entspricht. So werden Kaufangebote vorstrukturiert und führen bei einem entsprechendem Kaufverhalten damit auch zu einer Strukturierung eines Teils der realen Welt dieser Nutzer*innen.
  • (b) Geoscoring: Sehr plastisch und existenziell kann die Strukturierung der Welt aufgrund von Big Data im Kontext des Geoscoring werden.(23) Das bedeutet, dass die Algorithmen von beispielsweise Banken oder Versicherungen aus gesammelten Daten Rückschlüsse über Menschen in einem bestimmten Wohngebiet ziehen. Unter der Annahme, dass sich Menschen bei der Wahl ihres Wohnortes eher Gleichgesinnte suchen, ziehen Algorithmen Rückschlüsse auf individuelles Finanzverhalten der dort lebenden Menschen. So können beispielsweise Menschen aus einer bestimmten Wohngegend pauschal eine schlechtere Bonität zugeschrieben bekommen als Bewohner*innen anderer Gegenden. Folglich können sich diese Menschen faktisch weniger leisten als andere. Mit der Zeit werden so aus Datensätzen ein komplettes Wohnviertel sowie die substanziellen (Kauf- und mithin Lebens-) Möglichkeiten der Menschen in diesem Viertel strukturiert.

Aus solchen Umwälzungen und Strukturwirkungen von Big Data auf die reale Lebenswelt resultieren Fragen und Risiken mit großer gesellschaftlicher Relevanz, etwa wenn es um Gefahren bei der Datenübertragung und -verwendung oder um Angriffe auf automatisierte Entscheidungen geht.(24) Gerade der Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Integrität der Menschen muss auch unter den transformatorischen Kräften der Digitalisierung und der Autonomisierung von digitaltechnologischen Systemen gewährleistet sein. Damit rückt das grundlegende und eigentliche Schutzgut der IT-Sicherheit, nämlich der Schutz des Menschen und der Menschenwürde, zurück ins zentrale Blickfeld der Cybersecurity.(25)

Der Zugang der IT-Sicherheit zu den gesellschaftsverändernden Kräften der Transformation mag ein primär technologischer Zugang sein. Dennoch ist es ratsam, die größeren Zusammenhänge im Blick zu halten und den eigenen Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel zu verstehen. Denn darin liegt eine Verantwortlichkeit, die über den rein technologischen Aspekt der Cybersecurity hinausgeht. Um mit dieser Verantwortlichkeit umgehen zu können, bedarf es einer Befähigung für ein verantwortungsbewusstes Handeln in der digitalen Gesellschaft und einer Kenntnis von Aspekten der (digitalen) Ethik.

 

8.4 Referenzen und Literatur

  1. (Vgl. exemplarisch für Studien- und Weiterbildungsangebote iuhb (2021) oder TÜV Nord (2021).
  2. (BMAS – Mehr Sicherheit und Effizienz durch nachhaltiges IT-Management.
  3. Vgl. Kolany-Raiser et al (2019).
  4. Vgl. Schmidt (2018) und Schmidt (2021)
  5. Dabrock (2020).
  6. Vgl. Schmidt (2018).
  7. Vgl. Wiegerling (2020a: 2).
  8. Ebd.
  9. Bloomberg (2018).
  10. Vgl. Gartner (2021) und Liferay (2021).
  11. Vgl. Spiegel (2021: 62).
  12. Vgl. Schmidt (2021).
  13. Vgl. Gründerszene (2019).
  14. Vgl. Rödder (2015: 18ff.).
  15. Vgl. ebd.
  16. Vgl. Polanyi (2021).
  17. Schneidewind (2019: 10).
  18. Vgl. Nassehi (2019: 28ff.)
  19. Rödder (2015: 26).
  20. Vgl. Wiegerling (2020: 95).
  21. Vgl. Nassehi (2019: 34).
  22. Schmidt 2021.
  23. Vgl. Maurer (2018).
  24. Vgl. Kolany-Reiser et al (2019: 1).
  25. Siehe Kapitel 1.

 

BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales (o. Jg.): Mehr Sicherheit und Effizienz durch nachhaltiges IT-Management, https://www.csr-in-deutschland.de/DE/Unternehmen/Unternehmensbereiche/IT-und-Datenverarbeitung/it-und-datenverarbeitung.html, letzter Abruf am 23.01.2021.

Bloomberg, Jason (2018): Digitization, Digitalization, And Digital Transformation: Confuse Them At Your Peril; in: Forbes vom 29.4.2018, https://www.forbes.com/sites/jasonbloomberg/2018/04/29/digitization-digitalization-and-digital-transformation-confuse-them-at-your-peril/?sh=2b36e1932f2c, letzter Abruf am 5.2.2021.

Dabrock, Peter (2020): Gelebtes Commitment – Vertrauen und Datensouveränität als Kompass europäischer Corporate Digital Responsibility-Ansätze, in: Corporate Digital Responsibility Online Magazin vom 30.09.2020,  https://corporate-digital-responsibility.de/article/kolumne-peter-dabrock, letzter Abruf am 23.01.2021.

Der Spiegel (2021): Bytes statt Blech, Ausgabe Nr. 2/9.1.2021, S.62-63.

Gartner Glossary (2021): Digitalization, https://www.gartner.com/en/information-technology/glossary/digitalization, Abruf am 5.2.2021.

Grimm, Petra/ Kleber, Tobias O./ Zöllner, Oliver (2019): Digitale Ethik. Leben in vernetzen Welten, Reclam Verlag Ditzingen.

Gründerszene (2019): Digitale Transformation, in: Gründerszene Lexikon vom 1.1.2019, https://www.businessinsider.de/gruenderszene/lexikon/begriffe/digitale-transformation/, letzter Abruf am 6.2.2021.

iuhb (20219): Internationale Hochschule – Master Digitale Transformation, https://www.iubh-fernstudium.de/master/digitale-transformation, letzter Abruf am 4.2.2021.

Kolany-Reiser, Barbara/ Heil, Reinhard/ Orwat, Carsten/ Hoeren, Thomas (2019) (Hrsg.):  Big Data. Gesellschaftliche Herausforderungen und rechtliche Lösungen, in: Hoeren, Thomas et al (Hrsg.): Schriftenreihe Information und Recht, C.H. Beck Verlag München 2019.

Liferay (2021): Was ist Digital Business?, https://www.liferay.com/de/resources/l/digital-business. Abruf am 5.2.2021.

Maurer, Peter (2018): Geoscoring: Wie mein Wohnort meine Bonität beeinflussen kann, in: Bankenblatt.de vom 16. Mai 2018,  https://www.bankenblatt.de/geoscoring-wie-mein-wohnort-meine-bonitaet-beeinflussen-kann/, letzter Abruf 02.02.2021.

Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, C.H. Beck Verlag München.

Polanyi, Karl (2021): The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, 15. Auflage 2021, suhrkamp taschenbuch wissenschaft Nördlingen. (Originalausgabe 1944)

Rödder, Andreas (2015): 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. C.H. Beck Verlag München.

Schmidt, Matthias (2018): CSRcamp 18 – Barcamp zum Thema Corporate Social Responsibility, in: Forum Wirtschaftsethik, https://www.forum-wirtschaftsethik.de/csrcamp-18-barcamp-zum-thema-corporate-social-responsibility, letzter Abruf am 23.01.2021.

Schmidt, Matthias (2021): Digitale Transformation: Mehr als eine betriebliche Lösung, in: Gibson-Kunze et al. (Hrsg.): Die große Transformation, 36. CSR Magazin, UVG Verlag Berlin, 100-103. https://csr-news.org/2021/02/26/digitale-transformation-mehr-als-eine-betriebliche-loesung, letzte Abruf am 21.10.2021.

Schneidewind, Uwe (2019): Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandels. In der Reihe Entwürfe für eine Welt mit Zukunft, hrsg. v. Harald Welzer und Klaus Wiegandt, Fischer Verlag Frankfurt am Main.

TÜV Nord (2021): Webinar: Digital Transformation Manager (TÜV), OnlineCampus, 22. 03. 2021, Seminar-Nr.: 10102008, https://www.tuev-nord.de/de/weiterbildung/seminare/webinar-digital-transformation-manager-tuev-a/?msclkid=4edc4b6a68dd119aed6e2b764f1b1d03&utm_source=bing&utm_medium=cpc&utm_campaign=Search%20%7C%20Titel%20%7C%20Webinare%20%7C%20KS%20A52&utm_term=digital%20transformation%20manager%20online&utm_content=Webinar%3A%20Digital%20Transformation%20Manager%20(T%C3%9CV)%20%7C%2010102008, letzter Abruf am 4.2.2021.

Wiegerling, Klaus (2020): Entgeschichtlichung und Digitalisierung, in: Koziol, Klaus (Hrsg.): Entwirklichung der Wirklichkeit. In der Reihe Mensch und Digitalisierung, hrsg. v. der Medienstiftung der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Band 3, kopaed Verlag München, 85-119.

Wiegerling, Klaus (2020a): Automatische, informatische Datenerhebung, -verwaltung und Kommunikation, Kultur der Wissensgesellschaft. Lehrbrief, in Arbeit. Stand vom 09.08.2020.

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