14 IT-Sicherheit und ethische Urteilskraft im Lichte der Transformation

14.1 Vorbemerkung

14.2 Transformation und Megatrends

14.2.1. Megatrends
14.2.2. IT-Sicherheit zur Sicherung der neuen großen Transformation

14.3 Ethische Urteilskraft als wichtiger Baustein der IT-Sicherheit

14.4 Literatur

Das Kapitel in Stichpunkten

  • Megatrends sind besonders tiefgreifende und nachhaltige Trends, die gesellschaftliche und technologische Veränderungen betreffen.
  • Megatrends haben eine hohe Halbwertszeit der Entwicklungen. Sie treten in nahezu allen Lebensbereichen auf und haben einen globalen Charakter.
  • Ein wichtiger Megatrend, der in der Verbindung mit der Digitalisierung gerade für die Cybersecurity sehr relevant ist, ist die Sicherheit.
  • Aus dem Blickwinkel der Akteure und Akteurinnen im Bereich der Cybersecurity könnte man selbstbewusst folgern, dass die IT-Sicherheit eine wesentliche und sehr gewichtige Rolle bei der Sicherung und Gestaltung der aktuellen „großen“ Transformation spielt.
  • Cybersecurity Professionals sollten sie über ein gewisses Maß an Sensibilität für ethisch relevante Sachverhalte sowie ein gewisses Maß an ethischer Urteilskraft verfügen. Daraus können größere Entscheidungssicherheiten und neue Handlungsoptionen gewonnen werden.
  • In unserer pluralistischen und ausdifferenzierten Gesellschaft, in der unterschiedlichste Gruppen jeweils unterschiedliche, bisweilen gegenläufige Wertvorstellungen haben, kann eine gewisse ethische Urteilskraft auch der eigenen Sicherheit der Cybersecurity Professionals dienen.
  • Eine eingeübte Urteilskraft für Ethik in der IT-Sicherheit kann dazu beitragen, digital- und informationstechnologische Entwicklungen im Sinne einer wünschenswerten, lebenswerten und (ethisch fundierten) guten Gesellschaft zu sichern und mitzugestalten. Damit geht die IT-Sicherheit über ihren inneren technologischen Kern hinaus.

14.1 Vorbemerkung

Die IT-Sicherheit ist in nahezu allen Bereichen unserer Lebenswelt von Bedeutung. Mit dem ständigen Fortschreiten der Digitalisierung wachsen ihre Einsatzbereiche. Denn mit jedem Einsatz informationstechnologischer Mittel und mit dem Auf- und Ausbau digitaltechnologisch unterstützter Strukturen werden potenziell neue Angriffsflächen und Lücken geschaffen.

Der Begriff der Digitalen Transformation wird mittlerweile weithin gebraucht, wenngleich er hauptsächlich mit dem technologischen Aspekt der Digitalisierung verbunden wird. Dennoch hat die Digitale Transformation auch vielschichtige gesellschaftliche Dimensionen, die auf das Leben und die Verwirklichungsmöglichkeiten der Menschen mehr oder weniger bewusst einwirken. Diese Zusammenhänge und die damit verbundenen ethischen Herausforderungen wurden in dieser Einführung angerissen und andiskutiert.

Mit dem Attribut der Transformation kann man deutlich mehr verbinden als allein die Digitalisierung. So spricht man oft von einer Nachhaltigkeitstransformation, einer Transformation des Bildungswesens oder der Arbeitswelt, um nur wenige Beispiele zu nennen. Bisweilen ist sogar, wenn auch nicht näher bestimmt, von einer neuen großen Transformation die Rede. Alle diese Transformationsbereiche sind in unterschiedlichem Maße auch von digitalen Technologien tangiert und/oder stehen in einer Wechselwirkung mit der Digitalen Transformation. Mithin ergeben sich perspektivisch neue und weitere Felder mit ethischen Herausforderungen (auch) an die IT-Sicherheit, und es entsteht die Notwendigkeit einer ethischen Urteilskraft.

 

14.2 Transformation und Megatrends

Der Begriff der Transformation ist bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgetaucht. Im Wesentlichen ist damit ein sehr grundlegender Umbruch gemeint, der bestehende gesellschaftliche Verhältnisse verändert.[1] Ein Treiber eines solchen Umbruchs ist, wie bereits mehrfach gezeigt, die Digitalisierung. Doch scheint damit die transformatorische Herausforderung, vor der wir stehen, nur zu einem Teil erfasst zu sein.

14.2.1. Megatrends

Die Digitalisierung bzw. einige ihrer Ausprägungen wie bspw. künstliche Intelligenz oder der Wunsch von Menschen nach Konnektivität und Kommunikation werden auch in den Zusammenhang mit dem Konzept der Megatrends gestellt. Megatrends sind besonders tiefgreifende und nachhaltige Trends, die gesellschaftliche und technologische Veränderungen betreffen. Es handelt sich um langfristige Entwicklungen, die für alle unsere Lebensbereiche wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft etc. und somit für die Gesellschaft insgesamt prägend sind.

Der Zukunftsforscher John Naisbitt hat im Jahr 1982 mit seinem Werk „Megatrends: Ten New Directions Transforming Our Lives“[2] den Begriff der Megatrends geprägt. Megatrends zeichnen sich durch ihre Langfristigkeit und Beständigkeit gegenüber kurzfristigen Trends oder Hypes aus, die nach ihrem Auftreten schon bald wieder abflachen und verschwinden. Während Mikrotrends, wie es bspw. bei Konsum- oder Modegütern des Zeitgeistes der Fall ist, bald vergessen sind, spricht man von Megatrends, wenn die Halbwertszeit dieser Phänomene bei etwa 25 bis 30 Jahren liegt. Oft werden sie auch als Blockbuster der Veränderung bezeichnet.

Neben der hohen Halbwertszeit der Entwicklungen sowie ihrem Auftreten in nahezu allen Lebensbereichen wird noch ein drittes Kriterium angeführt, um von einer Entwicklung als Megatrend sprechen zu können. Dies ist ihr globaler Charakter. Die Entwicklungen müssen also, wenn auch nicht überall in gleich starker Ausprägung, prinzipiell global in Erscheinung treten. Entsprechend resistent sind solche Entwicklungen gegenüber Rückschlägen oder Irritationen.[3]

Nach John Naisbitt zeichnen Megatrends „ein Bild zukünftiger Entwicklungen. Also können sie als Wegweiser für langfristige strategische Planungen dienen. [Es sind] gewaltige Verschiebungen, die unsere Gesellschaften wirklich verändern […] Was regelmäßig überschätzt wird, sind Details technischer Entwicklungen. Ob ich meinen Kühlschrank oder meine Heizung über mein Telefon oder von meinem Auto aus regeln kann, ist doch nicht wirklich wichtig. Anders sieht es jedoch aus, wenn ganze Produktionsprozesse auf cyber-physischen Systemen basieren, Stichwort ´Industrie 4.0´. Die Entwicklung in diese Richtung hat das Potenzial, unsere Wirtschaft so grundlegend zu verändern wie die erste industrielle Revolution.“[4] In dieser drastischen und grundlegenden Beschreibung zeigt sich das transformatorische Potenzial von Megatrends. Sowohl dem Konzept der Megatrends als auch dem Begriff der Transformation wird der Charakter eines Umbruchs zugeschrieben, der unser Zusammenleben grundlegend verändert.

14.2.2. IT-Sicherheit zur Sicherung der neuen großen Transformation

In der modernen Trend- und Zukunftsforschung wird derzeit mit etwa zehn bis zwölf Megatrends gearbeitet, wobei das Wording und die Gewichtungen bei den verschiedenen Instituten in Forschung und Beratung voneinander abweichen können. In der Regel findet man unter dem Label der Megatrends die Themen Globalisierung, Umwelt bzw. Nachhaltigkeit, New Work, Mobilität und eben auch Digitalisierung, um nur einige zu nennen.[5]

Ein weiterer wichtiger Megatrend, der in der Verbindung mit der Digitalisierung gerade für die Cybersecurity sehr relevant ist, ist die Sicherheit. Dabei reicht das Spektrum von einem allgemeinen subjektiven Unsicherheitsgefühl von Menschen im Umgang mit digitalen Technologien über tatsächliche objektive persönliche Risiken sowie Geschäftsrisiken für Unternehmen, etwa durch Cyberspionage, bis hin zu cyberkriegerischen Angriffen auf Staatenebene. IT-Sicherheit, so könnte man folglich sagen, liegt im Trend und dürfte weiterhin an Bedeutung gewinnen. Denn sowohl das Thema Sicherheit an sich als auch das spezifischere Thema der Sicherheit im Umgang mit heutigen und künftigen digitaltechnologischen Herausforderungen scheint nach dem Dafürhalten der Trend- und Zukunftsforschung hochrelevant zu sein.

Im Feld der IT-Sicherheit verknüpfen sich verschiedene Megatrends. Nicht zuletzt deshalb, weil zusätzlich zu dem Schutzbedürfnis der Menschen und mithin dem ihrer Institutionen und ihrer Gesellschaft nachgerade die neuen digitalen Technologien alle unsere Lebensbereiche durchdringen und in zunehmendem Maße eine Ubiquität (Allgegenwart) aufweisen. So sind auch die Entwicklungen im Trendbereich etwa der Nachhaltigkeit oder der Mobilität ebenfalls mit den digitalen Entwicklungen verwoben[6], wodurch sich auch in diesen Bereichen spezifische Sicherheitsbedarfe ableiten lassen.

Aus dem Blickwinkel der Akteure und Akteurinnen im Bereich der Cybersecurity könnte man selbstbewusst folgern, dass die IT-Sicherheit eine wesentliche und sehr gewichtige Rolle bei der Sicherung und Gestaltung der aktuellen „großen“ Transformation spielt, die sich wiederum aus den Entwicklungen in den reflexiven, miteinander verwobenen Bereichen der Megatrends speist. Vor allem aber bringt jeder dieser Bereiche bzw. Megatrends seinerseits wiederum ethische, bereichsspezifische Herausforderungen mit sich, die auch auf die Arbeit der Expertinnen und Experten der IT-Sicherheit durchschlagen können.

 

14.3 Ethische Urteilskraft als wichtiger Baustein der IT-Sicherheit

Das Spektrum möglicher ethischer Herausforderungen an die IT-Sicherheit ist immens. Das hat bereits diese Einführung gezeigt. Mit Blick auf die Bedeutung der digital- und informationstechnologischen Entwicklungen in allen möglichen Bereichen unseres Lebens mit all seinen möglichen und spezifischen Transformationsfeldern und Megatrends ist eine zunehmende Komplexität auch hinsichtlich ethischer Fragestellungen in der Cybersecurity zu erwarten. Mit diesen vielfältigen Anforderungen an ethischen Sachverstand, so könnte man meinen, dürften die Menschen, die in der IT-Sicherheit arbeiten, überfrachtet, wenn nicht gar überfordert werden.

Die Wahrscheinlichkeit, als IT-Profi im Laufe seiner Tätigkeiten mit fragwürdigen Zusammenhängen konfrontiert zu werden, ist zu hoch und die Konflikte oftmals zu brisant, als dass man sich auf ein Bauchgefühl oder ein im Laufe der Zeit durch Sozialisation erworbenes, vielfach unbewusstes Moralverständnis verlassen könnte. Es kann nicht erwartet werden, dass Cybersecurity Professionals nebenbei auch Experten bzw. Expertinnen in der Fachdisziplin der Ethik sind. Gleichwohl sollten sie über eine Sensibilität für ethisch relevante Sachverhalte sowie ein gewisses Maß an ethischer Urteilskraft verfügen. Daraus können größere Entscheidungssicherheiten und neue Handlungsoptionen gewonnen werden. Außerdem muss man befähigt sein, ethisch problematische Sachverhalte als solche erst einmal zu erkennen, um sie bspw. an formal verantwortliche Vorgesetzte abgeben oder um sich ggf. von Professionals in der Ethik profunden Rat und Unterstützung holen zu können.

Die in dieser Einführung vorgestellten Begriffe, Theorien und Konzepte aus dem Bereich der Ethik können als grundlegendes Rüstzeug dienen, mit denen IT-Profis ethisch kritische Sachverhalte identifizieren, beschreiben und in einer ersten Näherung einordnen und bewerten können. Dabei kann es kein allgemeingültiges oder alleiniges Rezept für das einzig ethisch Richtige und Falsche bzw. für das Ge- und Verbotene geben. Dennoch kann unter Bezugnahme auf verschiedene Theorien und unter Verwendung geklärter Begriffe eine belastbarere Reflexion der Zusammenhänge erfolgen, die zu einer eigenen begründeten Einschätzung führen kann. Zudem können eigene, intuitive ad-hoc-Wertungen überprüft und fundiert oder gar revidiert werden. Nicht zuletzt können vor dem Hintergrund dieser Einführung auch Argumentationslinien und Begründungszusammenhänge anderer Akteure leichter erkannt und eingeordnet werden, denen man dann wiederum besser begründet folgen oder widerstehen kann.

In unserer pluralistischen und ausdifferenzierten Gesellschaft, in der unterschiedlichste Gruppen jeweils unterschiedliche, bisweilen gegenläufige Wertvorstellungen haben, kann eine gewisse ethische Urteilskraft auch der eigenen Sicherheit dienen. Denn in den gesellschaftlichen Diskursen mit den ihnen innewohnenden Interessen- und Machtkämpfen wird auch darum gerungen, welche Werte in unserem Zusammenleben zur Geltung kommen sollen, was (moralisch, aber auch rechtlich) erlaubt oder verboten sein soll und wie die zugrundeliegenden Haltungen gerechtfertigt und legitimiert werden können.

Wenn nun, wie in den ersten Kapiteln dieses Buches diskutiert, auf personaler Ebene die informationelle Selbstbestimmung und dahinterstehend die Würde des Menschen das eigentliche Schutzgut der IT-Sicherheit ist, wenn ferner, wie in den letzten Kapiteln behandelt, die öffentliche Sicherheit einer Gesellschaft oder die Souveränität und territoriale Unversehrtheit von Staaten auf übergeordneter Ebene das Schutzgut der Cybersecurity ist, dann könnte man analog dazu sagen, dass die Ethik in der IT-Sicherheit dem Schutz der Cybersecurity-Expertinnen und -Experten dient. Die Einübung ethischer Urteilskraft kann davor schützen, dass man auf der operativen Ebene der informationstechnologischen Umsetzung von Schutzaufträgen allzu naiv in fragwürdige Praktiken und Situationen hineingezogen wird. Auf der eher strategischen Ebene können ein ethisches Verständnis und eine ethische Urteilskraft die Akteure und Akteurinnen davor schützen, ganze Systeme in unreflektierter und fragwürdiger Weise auszurichten und einzusetzen. Oder positiv ausgedrückt: Eine eingeübte Urteilskraft für Ethik in der IT-Sicherheit kann dazu beitragen, digital- und informationstechnologische Entwicklungen im Sinne einer wünschenswerten, lebenswerten und (ethisch fundierten) guten Gesellschaft zu sichern und mitzugestalten. Damit geht die IT-Sicherheit über ihren inneren technologischen Kern hinaus.

 

14.4 Literatur

Naisbitt, John (1982): Megatrends: Ten New Directions Transforming Our Lives, Grand Central Pub; 6. Edition.

Naisbitt, John (2015): Der Horizont reicht meist nur bis zum nächsten Wahltag. Ein Gespräch. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): APuZ aktuell Nr 31-32, 24.07.2015, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/209953/der-horizont-reicht-meist-nur-bis-zum-naechsten-wahltag-ein-gespraech/, letzter Abruf am 29.08.2023.

Polanyi, Karl (2021). The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, 15. Auflage 2021, suhrkamp taschenbuch wissenschaft Nördlingen. (Originalausgabe 1944).

Schmidt, Matthias/ Tomenendal, Matthias (2022): Impulse für eine verantwortlich-nachhaltige Digitale Transformation. Megatrends mit transformatorischer Kraft. In: Gibson-Kunze et al (Hrsg.): Verantwortung im Umbruch, 38. CSR Magazin, Berlin, https://pressbooks.pub/cm38/chapter/impulse-fur-eine-verantwortlich-nachhaltige-digitale-transformation/, letzter Abruf am 24.8.2023.

Trend Report (o.D.): Megatrends, https://trendreport.de/megatrends/, letzter Abruf am 29.8.2023.

Zukunftsinstitut (o.D.): Die Megatrends, https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrends/, letzter Abruf am 29.08.2023.

Fußnoten

[1] Vgl. Polanyi (2021).

[2] Naisbitt (1982).

[3] Vgl. Trend Report (o.D.) zu einer kompakten Erläuterung des Konzepts der Megatrends.

[4] Naisbitt 2015.

[5] Vgl. bspw. die Websites von Trend Report oder Zukunftsinstitut (o.D.).

[6] Vgl. Schmidt/Tomenendal (2022).

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Ethik in der IT-Sicherheit (2. erweiterte Auflage) Copyright © 2023 by Matthias Schmidt is licensed under a Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedinungen 4.0 International, except where otherwise noted.

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